Heute haben
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Oskar Pastior * 1927
Elfriede Jelinek * 1946
John von Düffel * 1966
Geburtstag
und wir würdigen das Geburtstagskind Preußler mit einem Jim Knopf-Fenster.
Unser heutiger Buchtipp:
Liliana Corobca: „Der erste Horizont meines Lebens„
Übersetzt aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
Zsolnay Verlag € 18,90
als E-Book € 14,99
Die Zecke klebte am Bauch, gleich neben dem Nabel, trank das Blut des Kindes. Das Mädchen, eher vom Gebrüll des Bruders verängstigt denn von jenem schwarzen Punkt, machte sich auf, Hilfe zu holen. Normalerweise hätten die Schreie, wenn nicht das halbe Dorf, so doch zumindest den ganzen Dorfrand herbeieilen lassen, aber nun war niemand gekommen. Sie hätte die Zecke zwar herauslösen können, aber wenn der Kopf stecken blieb und eine andere nachwuchs, eine viel größere … oder, Gott bewahre, sie schlüpft ganz hinein und lebt dort, wo sie niemand herausholen kann, und der Bruder stirbt, ausgesaugt von einer Zecke.
Warum Christinas kleiner Bruder wegen einer Zecke nicht mehr zu beruhigen ist, erfahren wir etwas spät. Dann schreibt nämlich Liliana Corobca, dass die drei Kinder, die drei Hauptpersonen des Romanes, meinen, dass Zecken das komplette Blut aus einem Körper saugen, riesengroß werden und man natürlich dann tot ist. Dies haben sie vom Vater gehört, als er Zecken aus einem Schaf entfernte. Die zwölfjährige Christina und ihre Brüder Dane (6) und Marcel (3 leben in einem Bauerndorf im Nirgendwo von Moldawien. Das ist an sich nichts besonderes. Erschreckend ist jedoch, dass sie ohne Eltern dort leben. Und nicht nur sie allein. Im ganzen Dorf gibt es keine Eltern mehr, denn die sind im Ausland, um Geld für ihre Familien für’s Überleben, für ein Studium zu verdienen. Das „lange Geld“ wird es im Roman genannt. Dies ist kein Einzelfall, habe ich in der Zwischenzeit herausbekommen. Es gibt einige Reportagen über diesen Zustand. Christinas Mutter arbeitet als Haushaltshilfe und Kindermädchen in Italien, ihr Vater schuftet in einem sibirischen Bergwerk, dass ihm die Zähne ausfallen. Einmal im Jahr kommen sie ins Dorf zurück, zu ihren Kindern, zu ihrem Haus und Grund. Dann kocht die Mutter für das ganze Jahr vor, gefriert ein, kümmert sich um den Garten und anstatt eines Urlaubes, werden diese Tage für sie eine unglaubliche Schufterei.
Christina ist mit ihren zwölf Jahren auf sich gestellt. In ihrer altklugen Art beschreibt sie den Alltag im Dorf mit ihren kleinen Brüdern. Sie ersetzt Vater und Mutter, andere Verwandte haben sie kaum. Ihre Grossmutter gleitet in die Demenz und nur ein ferner Onkel hilft hin und wieder. Christina betrachtet die Welt sowohl aus naiver kindlicher Sicht, als auch aus einem sehr großen Erfahrungsschatz, der dem eines Erwachsenen gleicht. Sie ist machtlos und voller Kraft, sie ist traumatisiert und gefühlslos. Sie träumt von einem ersten Kuss und zieht sich in die Natur zurück. Sie ist die Stütze der Familie, organisiert, kocht, putzt und wäre eine tolle Schülerin, müsste sie nicht so viel daheim arbeiten. Sie haben Glück im Unglück, so sagen sie sich, denn Schulkameraden von ihr, werden von ihren Verwandten, bei denen sie wohnen, bis aufs Blut verprügelt.
Dies hört sich alles sehr dramatisch an, Liliana Corobca schreibt jedoch in einem leichten Ton, der dies in einem anderen Licht erscheinen lässt. Wir sind nicht einem einem Pippi Langstrumpf-Land, die ja auch gut ohne Eltern auskommt, aber ihre Beschreibungen des Alltags haben auch etwas Beruhigendes an sich. Sie schreibt mit einer großen Zärtlichkeit und Empathie über den Schmerz in den Herzen dieser Kinder, die jeden abend auf Befehl der großen Schwester heulen. „Und jetzt heulen!“, heisst es und es bedarf keiner weiteren Worte. Diese Einsamkeit der Kinder, ihre Angst bei Nacht, die Furcht vor anderen Erwachsenen zieht sich durch das Buch und doch habe ich ich es gerne gelesen, ohne nachts davon geträumt zu haben. Und in Träume rettet sich Christina immer wieder. Sie träumt von den Tagen, wenn ihre Eltern um sie herum sind. Sie träumt sich weg vom tristen Alltag. Sie rächt sich bitter an einem Schulkameraden und träumt gleichzeitig von der Nähe zu einem Jungen. Sie riecht an den parfümierten Damenbinden, die ihre Mutter ihr zur Seite gelegt hat, die sie jedoch noch gar nicht benötigt.
Dass die Realität noch viel dramatischer ist,lässt sich leicht nachlesen. Moldawien wurde und wird von allen Seiten ausgebeutet, das dörfliche Leben verschwindet und in einem Land, das nur einen Katzensprung von uns entfernt liegt, herrscht bittere Not. Das Land wurde von einer korrupten Regierung um ein Drittel des Staatshaushaltes betrogen, das sich die Führungsriege auf die Seite schaffte. Und wenn dann das Wort „Wirtschaftsflüchtling“ fällt, bekomme ich einen ganz dicken Hals.
Liliana Corobcas „Der erste Horizont meines Lebens“, der im Original „Kinderland“ heisst, ist ein Buch voller Hoffnung. Denn der Traum nach dem Horizont, ist das, was Christina am Leben hält. Immer wieder begibt sie sich auf ihren Wanderungen auf die Suche nach ihm. Vielleicht gibt es ihn auch gar nicht, sagt sie. Aber sie lässt nicht locker.
Mein Brüder suchen vom Hausflur aus keinen Horizont. Ich kann ihnen nicht einmal sagen, dass es ihn gibt. Vielleicht sind sie noch klein. Es gibt Dinge, zu denen gelangt man allein, ohne Ratschläge, Hinweise und allerlei vorgekaute Antworten. Wenn du ihn nicht sehen willst, wenn du ihn nicht suchst und von ihm träumst, sit der Horizont ein Wegrand und nicht mehr.