Mittwoch, 30.November

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Heute haben
Jonathan Swift * 1667
Theodor Mommsen * 1817
Ippolito Nievo * 1831
Mark Twain * 1835
Winston Churchill * 1874
Thomas Hettche * 1964
Geburtstag
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Claudia Wiltschek empfiehlt:

„Ich bin wie du mit geschlossenen Augen, nur schlauer!“ Das ist Parkers Credo.

9783551583475

Eric Lindstrom:Wie ich dich sehe
übersetzt von Katarina Ganslandt
Carlsen Verlag € 16.99
Jugendbuch ab 14

Die Regeln
1. Leg mich nicht rein. Niemals. Vor allem nicht, in dem Du meine Blindheit ausnutzt. Und vor allem nicht in der Öffentlichkeit.
2. Fass mich nicht an, ohne mich vorher zu fragen. Ich bin blind. Für mich kommt jede Berührung unerwartet, weshalb ich möglicherweise zuschlage.
3. Finger weg von meinem Blindenstock und dem Rest meiner Sachen. Alles muss genau dort bleiben, wo ich es liegen gelassen habe. Logisch, oder?
4. Komm nicht auf die Idee, mir helfen zu wollen, wenn ich dich nicht darum gebeten habe. Dann bist du mir bloß im Weg und nervst.
5. Es gibt keine Grund, lauter zu sprechen, wenn du mit mir redest. Ich bin nicht taub. Du würdest dich wundern wie viele Leute das machen.
6. Wenn du etwas über mich wissen willst, dann rede mit mir und nicht mit den Leuten, die neben mir stehen. Ich habe keine Betreuer. Ja, auch das passiert ständig.

Das sind Parkers Regeln. Parker ist seit ihrem 7. Lebensjahr blind, durch eine Autounfall, den ihre Mutter betrunken verursacht hat und dabei ums Leben kam. Seitdem lebt sie mit ihrem Vater, joggt durch den Park, lässt sich, so wenig wie möglich durch ihre Blindheit einschränken und stösst einige Menschen durch ihr manchmal ruppiges Auftreten vor den Kopf. Auch mit ihrer ungeschminkten Ehrlichkeit, mit der sie ihren Mitmenschen Ratschläge gibt oder ihnen ihre Meinung sagt, können viele nicht umgehen. Ihren Freundinnen, erklärt sie, dass sie das eben kann, weil sie die Reaktionen der Betroffenen nicht sieht und somit keine Furcht davor hat.
Nun stirbt auch noch ihr Vater, ihre Tante mit Familie zieht zu ihr ins Haus und Parker muss sich nun wieder mit Trauer, Verlust und einem Leben mit ihr eigenlich fremden Menschen auseinandersetzen. Menschen, die es nur gut meinen, aber mit dem selbstbewussten, selbstständigen Leben Carters nicht so recht klarkommen. Dann taucht noch ihre alte Liebe Scott auf, der sie damals tief verletzt und enttäuscht hat und danngibt es noch Jason, auch ein Läufer, der sich durch sein entspanntes Umgehen mit ihrer Blindheit in ihr Herz schleicht.
Das hört sich sehr dramatisch an, ist aber mit viel Witz geschrieben und die Mädels und Jungs sind alle so gut drauf. Deswegen liebe Eltern und Onkels und Tanten: Steckt es in den Nikolausstiefel oder legt es unter den Baum.

Dienstag, 29.November

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Heute haben
Wilhelm Hauff * 1802
CS Lewis * 1898
Carlo Levi *1902
Gerti Tetzner * 1936
Geburtstag
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Philip Reeve:Schwupp und weg
Einband und Illustrationen von Sarah McIntyre
Aus dem Englischen von Yvonne Hergane-Magholder
Oetinger Taschenbuch  € 8,99
Kinderbuch ab 8 Jahren

Oliver Crisp ist zehn und hat schon so gut wie alles auf der Welt gesehen, denn seine Eltern sind waschechte Entdecker. Und: Sie haben schon alles entdeckt und alles gesehen. Die gefährlichsten Abenteuer erlebt, die höchsten Berge erklommen und die tiefsten Ecken der Meere durchtaucht. Jetzt entschließen sie sich heimisch zu werden und sich in ihr Häuschen am Meer zurückzuziehen. Allerdings haben sie Skrupel und wissen nicht, ob ihr Sohn Oliver dazu Lust hat. Er freut sich jedoch riesig. Endlich ein eigenes Zimmer, endlich in die Schule und ein eigenes Dach über dem Kopf. Es gibt nichts Schöneres für ihn, als diese Vorstellung. Als sie nun in ihrer Bucht ankommen und ihr schiefes Haus an der Steilküste sehen, ruft Oliver: „Oh“ und meint, was für ein tolles Haus. Die Entdeckereltern rufen auch „Oh“ und sehen Inseln in der Bucht, die noch nie da waren. Die müssen vorher noch entdeckt werden. Was machen die hier? Oliver zieht sich in sein Zimmer mit Meerblick zurück und die beiden Alten tuckern mit einem Schlauboot von Insel zu Insel. Als Oliver nichts mehr von ihnen hört, macht er sich Sorgen und als er das Schlauchboot verlassen am Strand liegen sieht, ahnt er, dass er seine Eltern retten muss.
„Die meisten Leute wären sicher sehr erschrocken, wenn ihre Eltern mitsamt einem Haufen unbekannter Inseln verschwinden würden. Sie würden wahrscheinlich überlegen, die Polizei zu rufen oder die Küstenwache. Oder sie würden einfach nervös herumrennen und schreien. Aber Oliver war da anders. Er war ein Crisp und die Crisps waren aus härterem Holz geschnitzt. Er war noch nicht mal in Panik ausgebrochen, als er auf dem Entdeckungstrip zum Verschollenen Tafelberg mitsamt Kinderwagen von einem Adler davongetragen worden war.“
Dies ist allerdings nur eine kurze Passage vom Anfang des Abenteuers, bevor der riesige, durchgeknallte Spaß losgeht. Wichtige Mitspieler sind Schlenderinseln (die einfach so durch die Meere schlendern), Meergrasaffen, die nicht zu bändigen sind, eine kurzsichtige Meerjungfrau, ein böser Pubertierender und ein Schlenderinseltreffen, inkl. der Prämierung des schönsten Kopfschmucks einer der Inseln.
Woher der Autor nur seine Ideen hat? Ich käme da nie drauf. Wahrscheinlich muss man Engländer sein und einen britischen Humor haben. Auf jeden Fall ein großer Spaß für die Kleinen und Großen.

Trailer zum Buch

https://youtu.be/8CES0TtN8Ts

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Werner Färbers Ungereimtheiten der Woche

Rüsselkäfer CCXCIX

Flügel hat er, um zu gleiten,
Beine hat er zwei plus vier.
Fühler an des Kopfes Seiten,
zugleich ist er ein Rüsseltier.

Macht ihn das auch artverwandt
mit Rüsselträgern wie dem Schwein,
dem Tapir oder Elefant?
Nein, das kann wohl doch nicht sein.

Des Buchhändlers* Weihnachtstraum

Ich bitte stets daran zu denken:
Man kann Bücher auch verschenken!
Ein Buch zu der geweihten Nacht
noch immer vielen Freude macht.

(* ggf. zu ersetzen durch: Verleger, Autor, Illustrator …
und dem Geschlecht entsprechend anzupassen …)
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Am Freitag, den 09.12.2016, Stadthaus Ulm, 20 Uhr laden Eva Stotz, Katarina Schröter und Marije Nie zu dem Themenabend: „Moments of Movement“ – zwischen ankommen und schon-immer-da-gewesen. Drei Arbeiten durchleuchten die weltweite Bewegung im Spannungsfeld von Fliehen und Wurzeln schlagen, Aufbau und Abbruch, Heimat unterwegs, Heimat die sich verändert, Mythos Heimat. Ein Versuch die Perspektiven aller zu verstehen. Der Abend beginnt mit der Kurzfilm Premiere „One Million Steps“ und damit einer Aufbruchsbewegung in Istanbul, schraubt sich mit der VJ-Tanz-Performance „Moments of Movement“ in eine globale Vogelperspektive und taucht mit Obermarchtal und der Rest der Welt ein in die Lebensrealität von frisch Geflüchteten und lang Eingesessenen in Obermarchtal, einer Gemeinde im Alb-Donau Kreis.

Samstag, 26.November

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Heute haben
Georg Forster * 1754
Franz Jung * 1888
Eugène Ionesco * 1909
und Charles M.Schulz * 1922
Geburtstag.
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Werner Wollenberger:Janine
Fast eine Weihnachtsgeschichte
Unionsverlag € 15,00

»Wenn eine Fee käme und sagen würde, ›Janine, du
kannst dir wünschen, was du willst.‹ Was würdest du
dir dann wünschen?«
Das Kind schaute den Vater an. Es überlegte scharf.
Dann lächelte es und dann schüttelte es den Kopf.
»Das würde ja nicht gehen!«
»Was würde nicht gehen?«
»Dass bald Weihnachten ist!«

Werner Wollenberger (1927–1982) war ein Schweizer Schriftsteller und Publizist. Bekanntheit erlangte er in jungen Jahren mit seinen satirischen Texten für den Nebelspalter und das Cabaret Federal. Er prägte die deutschsprachige Kabarettszene der Nachkriegszeit als einer ihrer beliebtesten Autoren und schrieb später für Radio, Film, Fernsehen und die Bühne, für die Zürcher Woche, die Neue Presse, die Weltwoche und viele mehr. Sein Werk zeugt von einer in seiner Zeit ungewöhnlichen, engagierten Präsenz.

Endlich ist diese kleine Weihnachtsgeschichte wieder lieferbar. Gerade rechtzeitig noch, bevor alle gemeinsam Weihnachten feiern. Weihnachten beginnt mit dem Heiligen Abend am 24.12..Darauf folgen die beiden Feiertage. Das war schon immer so. Naja zumindest so lange, wie wir uns erinnern können. Weihnachten ist das Fest der Liebe. Und um dieses Fest der Liebe geht es in „Janine – Fast eine Weihnachtsgeschichte“. Ich kannte den Text noch nicht und habe ihn mit auf eine Zugfahrt mitgenommen. Allzuviel Zeit brauchen Sie nicht für die Lektüre. Umso länger hält sich die Geschichte im Gedächtnis.
Wir befinden uns in einem Schweizer Juradorf Ende der 50er Jahre. Ein Bäcker, ein paar Kneipen, ein Elektrogeschäft, eine Kirche und eine Schule. Jeder kennt jeden und es könnte alles gut sein, wenn nicht die 8jährige Janine an Leukämie erkrankt wäre und, laut den Ärzten, nur noch ein paar Wochen zu leben hat. Und dieser Weihnachtstermin wird zum großen Problem für die Familie. Der Vater kommt nämlich auf die Idee, den Termin für dieses Fest vorzuverlegen. Das geht doch nicht, meint seine Frau. Aber der Vater sagt, ein Fest der Liebe kann auch einmal etwas vorverlegt werden. Oder vielleicht noch krasser: Können wir nicht öfter ein Fest der Liebe feiern. Und wenn es doch der große Wunsch seiner Tochter ist. Und so beginnt er im Dorf herumzufragen, stößt erst auf Ablehnung und finder dann doch offene Ohren. Sogar beim Pfarrer, der von einem besonnenen jungen Mann überzeugt wird, daß dieses Jahr im Dorf Weihnachten schon zwei Wochen vorher gefeiert, der Kirchgang am 25.12. und 26.12.genauso begangen wird, wie immer. Nur dieser Heilige Abend, mit den Geschenken usw. ist davon betroffen. Und so verändert sich das Dorf in diesem Jahr schon früher. Die Auslagen in den Geschäften werden früher umdekoriert. Es wird schon gebacken und verpackt, damit das vorverlegte Fest auch richtig begangen werden kann. Als es dann so weit ist, schafft es der Elektrohändler, daß er Weihnachtsmusik über das Radio im Dorf senden kann.
Das Mädchen Janine ist überglücklich, dass ihr großer Wunsch in Erfüllung gegangen ist und stirbt zwei Tage später.

Werner Wollenberger hat hier eine zarte, etwas freche, etwas andere Weihnachtsgeschichte aufgeschrieben, die an die Seele rührt und nicht rührselig ist. Schnell sind die 80 Seiten gelesen. Und prima, daß der Unionsverlag den Roman wieder in dieser schönen Ausgabe veröffentlicht hat.

Freitag, 25.November

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Heute haben
Ba Jin * 1904
Francis Durbridge * 1912
Maarten ‚t Hart * 1944
Connie Palmen * 1955
Gregor Hens * 1965
Geburtstag
und es ist der Todestag von Peter Kurzeck.
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9783423640237

Mikael Engström: „Kaspar, Opa und der Schneemensch
Mit vielen Illustrationen von Peter Schössow

dtv € 11,95

Endlich! Kaspar und Opa sind zurück! Der zweiten Band mit den beiden ist erschienen. Und war die Geschichte mit dem Monsterhecht schon lustig, geht es jetzt so richtig ans Eingemachte.
Alles könnte so schön sein. Es ist Winter, Schnee liegt überall, die Schlitten stehen bereit, es ist saukalt und Kaspar und Opa schnitzen zusammen ihre Holzpferdchen, die sie im kleinen Dorfladen verkaufen. Dort bekommt Opa seinen Schnupftabak und Kaspar seine Würstchen, so war es immer, und das ist gut. Der Krämer Atom Ragnar, der immer in wissenschaftlichen Zeitschriften blättert, nicht an Atome glaubt und Kaspar dieses Mal Fotos eines Schneemenschen, eines Yetis, zeigt, bringt schon einiges ins Rollen. Kaspar ist fasziniert von der Vorstellung, daß es ein solches Wesen geben könnte, Großvater lehnt dies jedoch komplett ab. Er glaubt an die realen Dinge des Lebens und freut sich auf sein Bier, das er hier kauft und daheim genießt. Daß die angeberische Frau Åhman nervt, ist doch gar nicht so schlimm. Die ist leicht zu erschrecken. Und sei es nur mit einem nachgemachten Yeti Kostüms. Aber daß sich in diesem Winter Tanti Karin, die Schwester von Großvater, ankündigt, bringt das gemütliche Leben der Männer WG durcheinander. Opas Kopf fühlt sich schon ganz schwummerig an beim Gedanken an Karin, und auch Kaspar vermisst die gemütliche Zweisamkeit. Kann man die Tante nicht auch mit dem Schneemenschen verscheuchen.
Ein heilloses Durcheinander und kein Bier und keine Würstchen. Dafür aber Kirchenlieder auf dem Harmonium. Das kann nicht lange gutgehen.
Ein spannender, lustiger, hintergründiger Roman für Kinder ab 9 Jahren und ganz sicher auch ein großer Spaß für alle Erwachsenen, die es bitte schön selberlesen sollten und/oder auch Vorlesen.

Leseprobe

Mittwoch, 23.November

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Heute haben
Marieluise Fleißer * 1901
Paul Celan * 1920
Herbert Achternbusch * 1938
Marcel Beyer * 1965
Geburtstag
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Ein Gedicht, passend für diese wirre Welt, die nicht zu überschauen ist:

Richard von Schaukal (1874-1942)
Und es ist doch Liebe …

Was die Menschen sagen,
weiß ich alles schon,
aber was sie tragen,
flüstert kaum ein Ton.

Und es ist doch Liebe,
was zusammenhält,
die sonst sinnlos bliebe,
diese wirre Welt.
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Carolin Emcke: „Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2016
Ansprachen aus Anlass der Verleihung 2016
Dt/engl
MVB € 14,90

Jetzt ist sie endlich erschienen. Die Rede von Carolin Emcke, die sie in der Paulskirche gehalten hat. Dazu noch der Text der Urkunde, die Begrüßungen von Herrn Riedmüller vom Börsenverein und des Oberbürgermeisters von Frankfurt Peter Feldmann. Danach folgt noch die Laudatio von Seyla Benhabib.
Für alle, die Emckes Text noch nicht kennen, hier folgt er nochmals in ganzer Länge und lohnt sich nach wie vor. Aktueller denn je, wenn wir auf die Hassparolen schauen, die sich im Wahlkampf in den USA offen zeigten. Ganz zu schweigen mit dem Wahergebnis, das dem Hass auf dem flachen Land eine gute Grundlage bietet.

Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus…

All die ersten Jahre, seit der Auszeichnung an George F. Kennan 1982, schaute ich die Verleihung des Friedenspreises von unten nach oben: Meine Eltern hatten eigenwilligerweise nur zwei Fernseh-Sessel, Kinder mussten sich unterhalb arrangieren und so lag ich auf dem Teppich und hörte gebannt die Reden der Preisträger. Ich sage »Preisträger«, denn die ersten dreizehn Jahre, die ich von unten nach oben blickte, waren es ausschließlich Männer. Auch als ich längst eine eigene Wohnung hatte, behielt ich dieses Ritual bei: Ich betrachtete den Friedenspreis vom Fußboden aus. Irgendwie schien das auch angemessen zu sein. Seit der Preisverleihung an David Grossman saß ich dort, wo Sie jetzt sitzen. Letztes Jahr noch bin ich mit einem Freund am Vorabend der Verleihung nachts in den Festsaal im Frankfurter Hof geschlichen, um die Tischordnung für das Festessen zu manipulieren… (wobei wir peinlicherweise erwischt wurden) und jetzt das hier

Meine Damen und Herren, ich bedanke mich beim Stiftungsrat des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels für diese Auszeichnung. Sie erfüllt mich mit tiefer Dankbarkeit und einem glücklichen Staunen.

Niemand wächst allein. Einige, die vor mir hier an dieser Stelle standen, waren für mein Denken existentiell. Die Werke vieler Friedenspreisträger*innen, aber auch die Begegnung mit manchen haben mich zu der gemacht, als die ich heute vor Ihnen stehe: Martin Buber und Nelly Sachs, David Grossman und Jorge Semprún, und in besonderer Weise Jürgen Habermas und Susan Sontag. Nach ihnen in einer Reihe zu stehen, lässt mich diesen Preis weniger als Auszeichnung denn als Aufgabe begreifen.

Niemand schreibt allein. Zwei Menschen waren für mein Schreiben unverzichtbar und ihnen möchte ich ausdrücklich danken: der Photograph und Freund Sebastian Bolesch, der mich über 14 Jahre auf allen Reisen ins Ausland begleitet hat und ohne den kein Text so entstanden wäre. Und mein Verleger und Lektor Peter Sillem vom S. Fischer Verlag, der mich seit dem ersten Manuskript über alle Zweifel hinwegträgt und ohne den kein Buch so erschienen wäre. Vielen Dank.

II.

Nicht alle, aber viele, die vor mir hier standen, haben nicht allein als Individuen, sondern sie haben auch als Angehörige gesprochen. Sie haben sich selbst verortet in einem Glauben oder einer Erfahrung, in der Geschichte eines Landes oder einer Lebensform – und darauf reflektiert, was das heißt, als chinesischer Dissident, als nigerianischer Autor, als Muslim, als Jüdin hier in der Paulskirche zu sprechen, in diesem Land, mit dieser Geschichte.

Für diejenigen, die hier oben, mit dieser Perspektive sprechen durften, bedeutete es oft auch, aus und von einer besonderen Perspektive zu erzählen. Sie wurden ausgezeichnet, weil sie sich für ein universales Wir einsetzten – und doch haben sie oft auch als Angehörige einer bedrängten Gruppe, eines marginalisierten Glaubens, einer versehrten Gegend gesprochen.

Das ist durchaus bemerkenswert, denn es ist keineswegs gewiss, was das heißt: angehörig oder zugehörig zu sein.

Das moderne hebräische Wort für »angehören«, »shayach«, stammt ursprünglich aus dem Aramäischen – ist gleichsam zugewandert, aus einer Sprache in eine andere, um dann ironischerweise die Bezeichnung für „Angehörigkeit“ zu bilden. Das Wort shayach verweist auf nichts anderes. Anders als die meisten anderen Begriffe im Hebräischen birgt es in sich keine Anteile eines anderen. Es gehört gleichsam sich selbst. Etwas als shayach zu bezeichnen, bedeutet: es ist relevant, angemessen, wichtig. Das wäre eine schöne Spur: sich zugehörig zu zählen zu einem Glauben oder einer Gemeinschaft, hieße: ich bin für diese Gemeinschaft relevant, in ihr zähle ich als wichtiges Element.

Aber Angehörigkeit lässt sich auch in die andere Richtung denken: nicht nur ich bin für diese Gemeinschaft wichtig, sondern auch der Glaube für mich. Jüdisch zu sein oder katholisch oder muslimisch, das macht etwas aus. Es strukturiert mein Denken, meine Gewohnheiten, meinen Tag. Almosen zu geben, das gehört zu den einen, wie das Beten bei Tisch oder das Anzünden der Kerzen zu den anderen.

Im Deutschen kennt der Begriff »gehören« mehrere Verwendungen: i) jemandes Besitz zu sein, aber auch ii) Teil eines Ganzen zu sein, zu etwas zu zählen, sowie iii) »gehören« als an einer bestimmten Stelle passend zu sein und iv) für etwas erforderlich zu sein.

Bin ich, wenn ich fromm bin, im Besitz des Glaubens? Ist Religiositätetwas, das mir gehört? Oder ist Glaube etwas, das sich im und durch das Hadern bestätigt? Was heißt also an-gehören in Bezug auf den Glauben? Gehört mir mein Glaube oder gehöre ich dem, an den ich glaube?

Damit ist noch nicht einmal berührt, ob diese Angehörigkeit etwas ist, zu dem es sich bewusst entscheiden lässt. Ab wann jemand zu einer Kirche oder Gemeinschaft gehört, das lässt sich festmachen an den jeweiligen Riten der Aufnahme. Aber ab wann der Glaube zu einer Person gehört, das ist weniger eindeutig.

Hatten mich die Passionen und Kantaten von Bach nicht schon durchdrungen und von innen heraus geformt, bevor ich von einem Glaubensbekenntnis auch nur wusste? Gehörte das nicht zu mir, und das heißt: bildete das nicht schon eine Voraussetzung für die, die ich werden sollte, bevor ich mich überhaupt zu einer Gemeinschaft hätte zugehörig erklären können?

Nun kennt das Wort »Angehörigkeit« keine Schattierungen. Es suggeriert eine einheitliche Empfindung. Als ob es uns immer gleich relevant sei, jüdisch oder protestantisch oder muslimisch zu sein. Als ob es sich an jedem Ort gleich anfühlte, kurdisch zu sein oder polnisch oder palästinensisch. Als ob es nicht in unterschiedlichen Situationen ganz unterschiedlich prägnant sein könnte. Mein Freund, der Regisseur Nurkan Erpulat, hat einmal auf die Frage, was es für ihn bedeute, muslimisch zu sein, geantwortet: »Das kommt auf den Kontext an.«

Manchmal ist die argentinische Herkunft besonders deutlich im glücklichen Blick auf die leuchtend lilafarbenen Blüten der Jacaranda. Aber manchmal ist sie besonders deutlich fern von dort, in Berlin, wenn ein Hubschrauber über der Stadt nicht von einem Militär-Putsch kündet, sondern nur von einem Stau – und die eingeübte Angst eine Weile braucht, bis sie sich verzieht.

Für manche wird das eigene Judentum besonders spürbar, wenn sie die Süße von Äpfeln mit Honig an Rosh ha’shana schmecken. Für andere dagegen, wenn sie in der Paulskirche sitzen und einer Rede zuhören müssen, in der das furchtbare Leid der eigenen Angehörigen von einem Menschheitsverbrechen, an das bis heute zu erinnern ist, zu einer bloßen »Moralkeule« verstümmelt wird. Ich kann hier nicht stehen, ohne an diesen nicht nur für Ignaz Bubis furchtbar schmerzlichen Moment in der Geschichte des Preises zu erinnern.

Ist Zugehörigkeit also etwas, das aufscheint im Zusammensein mit anderen oder etwas, das aufscheint, wenn man als einziger aus einer Gemeinschaft herausfällt? Weil die jüdische Perspektive als eine, die zu dieser Gesellschaft gehört, einfach ausgeblendet wird. Ist Zugehörigkeit also mit Glück oder mit Trauer verbunden? Ist zugehörig, wer als zugehörig erkannt wird und ist anders zugehörig, wem diese Anerkennung verweigert wird?

Wem gehört also dieses An-gehören – einem selbst oder den anderen? Gibt es das nur in einer Form oder in verschiedenen? Und vor allem: wieviele Kontexte und Verbindungen können für mich in diesem Sinne relevant und wichtig sein? Wieviele Schnittmengen gibt es von Kreisen, in denen ich passend bin und aus denen ich mich als Individuum zusammensetze?

Ich bin homosexuell und wenn ich hier heute spreche, dann kann ich das nur, indem ich auch aus der Perspektive jener Erfahrung heraus spreche: also nicht nur, aber eben auch als jemand, für die es relevant ist, lesbisch, schwul, bisexuell, inter*, trans* oder queer zu sein. Das ist nichts, das man sich aussucht, aber es ist, hätte ich die Wahl, das, was ich mir wieder aussuchte zu sein. Nicht, weil es besser wäre, sondern schlicht, weil es mich glücklich gemacht hat.

Als ich mich das erste Mal in eine Frau verliebte, ahnte ich – ehrlich gesagt – nicht, dass damit eine Zugehörigkeit verbunden wäre. Ich glaubte noch, wie und wen ich liebe, sei eine individuelle Frage, eine, die vor allem mein Leben auszeichnete und für andere, Fremde oder gar den Staat, nicht von Belang. Jemanden zu lieben und zu begehren, das schien mir vornehmlich eine Handlung oder Praxis zu sein, keine Identität.

Es ist eine ausgesprochen merkwürdige Erfahrung, dass etwas so Persönliches für andere so wichtig sein soll, dass sie für sich beanspruchen, in unsere Leben einzugreifen und uns Rechte oder Würde absprechen wollen. Als sei die Art, wie wir lieben, für andere bedeutungsvoller als für uns selbst, als gehörten unsere Liebe und unsere Körper nicht uns, sondern denen, die sie ablehnen oder pathologisieren. Das birgt eine gewisse Ironie: Als definierte unsere Sexualität weniger unsere Zugehörigkeit als ihre. Manchmal scheint mir das bei der Beschäftigung der Islamfeinde mit dem Kopftuch ganz ähnlich. Als bedeuteihnen das Kopftuch mehr als denen, die es tatsächlich selbstbestimmt und selbstverständlich tragen.

So wird ein Kreis geformt, in den werden wir eingeschlossen, wir, die wir etwas anders lieben oder etwas anders aussehen, dem gehören wir an, ganz gleich, in oder zwischen welchen Kreisen wir uns sonst bewegen, ganz gleich, was uns sonst noch auszeichnet oder unterscheidet, ganz gleich, welche Fähigkeiten oder Unfähigkeiten, welche Bedürfnisse oder Eigenschaften uns vielleicht viel mehr bedeuten. So verbindet sich etwas, das uns glücklich macht, etwas, das uns schön oder auch angemessen erscheint, mit etwas, das uns verletzt und wund zurücklässt. Weil wir immer noch, jeden Tag, Gründe liefern sollen dafür, dass wir nicht nur halb, sondern ganz dazugehören. Als gäbe es eine Obergrenze für Menschlichkeit.

Es ist eine merkwürdige Erfahrung:

Wir dürfen Bücher schreiben, die in Schulen unterrichtet werden, aber unsere Liebe soll nach der Vorstellung mancher Eltern in Schulbüchern maximal »geduldet« und auf gar keinen Fall »respektiert« werden?

Wir dürfen Reden halten in der Paulskirche, aber heiraten oder Kinder adoptieren dürfen wir nicht?

Manchmal frage ich mich, wessen Würde da beschädigt wird: unsere, die wir als nicht zugehörig erklärt werden, oder die Würde jener, die uns die Rechte, die uns gehören, absprechen wollen?

Menschenrechte sind kein Nullsummenspiel. Niemand verliert seine Rechte, wenn sie allen zugesichert werden. Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird. Zuneigung oder Abneigung, Zustimmung oder Abscheu zu individuellen Lebensentwürfen, sozialen Praktiken oder religiösen Überzeugungen dürfen keine Rolle spielen. Das ist dochder Kern einer liberalen, offenen, säkularen Gesellschaft.

Verschiedenheit ist kein hinreichender Grund für Ausgrenzung.

Ähnlichkeit keine notwendigeVoraussetzung für Grundrechte.

Das ist großartig, denn es bedeutet, dass wir uns nicht mögen müssen. Wir müssen einander nicht einmal verstehen in unseren Vorstellungen vom guten Leben. Wir können einander merkwürdig, sonderbar, altmodisch, neumodisch, spießig oder schrill finden.

Um es für Paulskirchen-Verhältnisse mal etwas salopp zu formulieren: ich bin Borussia Dortmund-Fan. Ich habe, nun ja, etwas weniger Verständnis dafür, wie man Schalke-Fan sein kann. Und doch käme ich nie auf die Idee, Schalke Fans das Recht auf Versammlungsfreiheit zu nehmen.

»Die Verschiedenheit verkommt zur Ungleichheit«, hat Tzvetan Todorow einmal geschrieben, »die Gleichheit zur Identität.« Das ist die soziale Pathologie unserer Zeit: dass sie uns einteilt und aufteilt, in Identität und Differenz sortiert, nach Begriffen und Hautfarben, nach Herkunft und Glauben, nach Sexualität und Körperlichkeiten spaltet, um damit Ausgrenzung und Gewalt zu rechtfertigen.

Deswegen haben die, die vor mir hier standen und wie ich von dieser merkwürdigen Erfahrung der Zugehörigkeit zur Nichtzugehörigkeit gesprochen haben, doch beides betont: die individuelle Vielfalt und die normative Gleichheit.

Die Freiheit, etwas anders zu glauben, etwas anders auszusehen, etwas anders zu lieben, die Trauer, aus einer bedrohten oder versehrten Gegend zu stammen, den Schmerz der bitteren Gewalterfahrung eines bestimmten Wirs – und die Sehnsucht, schreibend eben all diese Zugehörigkeiten zu überschreiten, die Codes und Kreise in Frage zu stellen und zu öffnen, die Perspektiven zu vervielfältigen und immer wieder ein universales Wir zu verteidigen.

III.

Zur Zeit grassiert ein Klima des Fanatismus und der Gewalt in Europa. Pseudo-religiöse und nationalistische Dogmatiker propagieren die Lehre vom »homogenen Volk«, von einer »wahren« Religion, einer »ursprünglichen« Tradition, einer »natürlichen« Familie und einer »authentischen« Nation. Sie ziehen Begriffe ein, mit denen die einen aus- und die anderen eingeschlossen werden sollen. Sie teilen willkürlich auf und ein, wer dazugehören darf und wer nicht.

Alles Dynamische, alles Vielfältigean den eigenen kulturellen Bezügen und Kontexten wird negiert. Alles individuell Einzigartige, alles, was uns als Menschen, aber auch als Angehörige ausmacht: unser Hadern, unsere Verletzbarkeiten, aber auch unsere Phantasien vom Glück, wird geleugnet. Wir werden sortiert nach Identität und Differenz, werden in Kollektive verpackt, alle lebendigen, zarten, widersprüchlichen Zugehörigkeiten verschlichtet und verdumpft.

Sie stehen vielleicht nicht selbst auf der Straße und verbreiten Angst und Schrecken, die Populisten und Fanatiker der Reinheit, sie werfen nicht unbedingt selbst Brandsätze in Unterkünfte von Geflüchteten, reißen nicht selbst muslimischen Frauen den hijab oder jüdischen Männern die Kippa vom Kopf, sie jagen vielleicht nicht selbst polnische oder rumänische Europäerinnen, greifen vielleicht nicht selbst schwarze Deutsche an – sie hassen und verletzen nicht unbedingt selbst. Sie lassen hassen.

Sie beliefern den Diskurs mit Mustern aus Ressentiments und Vorurteilen, sie fertigen die rassistischen Product-Placements, all die kleinen, gemeinen Begriffe und Bilder, mit denen stigmatisiert und entwertet wird, all die Raster der Wahrnehmung, mithilfe derer Menschen gedemütigt und angegriffen werden.

Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädigt nicht nur diejenigen, die er sich zum Opfern sucht, sondern alle, die in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben wollen. Das Dogma des Homogenen, Reinen, Völkischen verengt die Welt. Es schmälert den Raum, in dem wir einander denken und sehen können. Es macht manche sichtbar und andere unsichtbar. Es versieht die einen mit wertvollen Etiketten und Assoziationen und die anderen mit abwertenden. Es begrenzt die Phantasie, in der wir einander Möglichkeiten und Chancen zuschreiben. Mangelnde Vorstellungskraft und Empathie aber sind mächtige Widersacher von Freiheit und Gerechtigkeit.

Das ist es eben, was die Fanatiker und Populisten der Reinheit wollen: sie wollen uns die analytische Offenheit und Einfühlung in die Vielfalt nehmen. Sie wollen all die Gleichzeitigkeiten von Bezügen, die uns gehören und in die wir gehören, dieses Miteinander und Durcheinander aus Religionen, Herkünften, Praktiken und Gewohnheiten, Körperlichkeiten und Sexualitäten vereinheitlichen.

Sie wollen uns weißmachen, dass es das nicht gäbe, Verfassungspatriotismus und demokratischen Humanismus. Sie wollen Pässe als Ausweise der inneren Verfasstheit missdeuten, nur um uns gegeneinander auszuspielen. Das hat auch etwas Groteskes: Jahrzehntelang hat diese Gesellschaft geleugnet, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, jahrzehntelang wurden Migrantinnen und Migranten und ihre Kinder und Enkel als »Fremde« angesehen, nicht als Bürgerinnen und Bürger, jahrzehntelang wurden sie behandelt als gehörten sie nicht dazu, als dürften sie nichts anderes sein als Türken – und jetzt wirft man ihnen vor, sie wären nicht deutsch genug und besäßen einen zweiten Pass?

Die Familie meiner Mutter ist vor dem Krieg ausgewandert nach Argentinien. Alle in ihrer Familie besaßen zu verschiedenen Zeitpunkten verschiedene Pässe, mal einen argentinischen, mal einen deutschen, manchmal beide. Ich habe sie zuhause bei mir aufgehoben: den Pass meines Großvaters, den mir mein Onkel geschenkt hat, und den meiner Mutter. Meine Nichte Emilia, die heute hier ist und die wie alle ihre Geschwister in den USA geboren ist, hat auch einen amerikanischen Pass. Mehrsprachig waren und sind alle. Aber glauben die Neonationalisten wirklich, irgendjemand in meiner Familie wäre weniger demokratisch gewesen, hätte deswegen weniger Respekt vor der Freiheit jedes Einzelnen und dem Schutz menschlicher Würde? Glauben die wirklich, der Pass sage etwas aus über die eigene Abneigung gegen Verrohung und die Bereitschaft, sich demokratisch für eine offene Gesellschaft zu engagieren – und zwar, egal wo?

Ich vermute eher, alle, die einmal vertrieben wurden, die Flucht oder auch nur Migration kennen, alle, die an verschiedenen Orten in der Welt sich zuhause fühlen, alle die mit Heimweh oder Fernweh geplagt sind, alle, die die verschiedenen Klangfarben der Ironie und des Humors lieben, die sich abwechseln und vermischen, wenn man die Sprache wechselt, alle, die Kinderlieder erinnern, die die nächste Generation nicht mehr kennt, alle, die die Brüche der Gewalt und des Kriegs miterlebt haben, alle, denen die Furcht vor Terror und Repression unter die Haut gezogen ist, wissen doch um den Wert stabiler rechtstaatlicher Institutionen und einer offenen Demokratie. Vielleicht sogar etwas mehr als diejenigen, die noch nie darum bangen mussten, sie zu verlieren.

Sie wollen uns einschüchtern, die Fanatiker, mit ihrem Hass und ihrer Gewalt, damit wir unsere Orientierung verlieren und unsere Sprache. Damit wir voller Verstörung ihre Begriffe übernehmen, ihre falschen Gegensätze, ihre konstruierten Anderen – oder auch nur ihr Niveau. Sie beschädigen den öffentlichen Diskurs mit ihrem Aberglauben, ihren Verschwörungstheorien und dieser eigentümlichen Kombination aus Selbstmitleid und Brutalität. Sie verbreiten Angst und Schrecken und reduzieren den sozialen Raum, in dem wir uns begegnen und artikulieren können.

Sie wollen, dass nur noch Jüdinnen und Juden sich gegen Antisemitismus wehren, dass nur noch Schwule gegen Diskriminierung protestieren, sie wollen, dass nur noch Muslime sich für Religionsfreiheit engagieren, damit sie sie dann denunzieren können als jüdische oder schwule »Lobby« oder »Parallelgesellschaft«, sie wollen, dass nur noch Schwarze gegen Rassismus aufbegehren, damit sie sie als »zornig« diffamieren können, sie wollen, dass sich nur Feministinnen gegen Machismo und Sexismus engagieren, damit sie sie als »humorlos« abwertenkönnen.

In Wahrheit geht es gar nicht um Muslime oder Geflüchtete oder Frauen. Sie wollen alle einschüchtern, die sich einsetzen für die Freiheit des einzigartigen, abweichenden Individuellen.

Deswegen müssen sich auch alle angesprochen fühlen.

Deswegen lässt sich die Antwort auf Hass und Verachtung nicht einfach nur an »die Politik« delegieren. Für Terror und Gewalt sind Staatsanwaltschaften und die Ermittlungsbehörden zuständig, aber für all die alltäglichen Formen der Missachtung und der Demütigung, für all die Zurichtungen und Zuschreibungen in vermeintlich homogene Kollektive, dafür sind wir alle zuständig.

Was wir tun können?

»Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden«, schrieb Hannah Arendt in der Vita Activa, »und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.«

Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. Und das heißt: Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt.

Dazu braucht es nur Vertrauen in das, was uns Menschen auszeichnet: die Begabung zum Anfangen. Wir können hinausgehen und etwas unterbrechen. Wir können neu geboren werden, in dem wir uns einschalten in die Welt. Wir können das, was uns hinterlassen wurde, befragen, ob es gerecht genug war, wir können das, was uns gegeben ist, abklopfen, ob es taugt, ob es inklusiv und frei genug ist – oder nicht.

Wir können immer wieder anfangen, als Individuen, aber auch als Gesellschaft. Wir können die Verkrustungen wieder aufbrechen, die Strukturen, die uns beengen oder unterdrücken, auflösen, wir können austreten und miteinander suchen nach neuen, anderen Formen.

Wir können neu anfangen und die alten Geschichten weiterspinnen wie einen Faden Fesselrest, der heraushängt, wir können anknüpfen oder aufknüpfen, wir können verschiedene Geschichten zusammen weben und eine andere Erzählung erzählen, eine, die offener ist, leiser auch, eine, in der jede und jeder relevant ist.

Das geht nicht allein. Dazu braucht es alle in der Zivilgesellschaft. Demokratische Geschichte wird von allen gemacht. Eine demokratische Geschichte erzählen alle. Nicht nur die professionellen Erzählerinnen und Erzähler. Da ist jede und jeder relevant, alte Menschen und junge, die mit Arbeit und die ohne, die mit mehr und die mit weniger Bildung, Dragqueens und Pastoren, Unternehmerinnen oder Offiziere, Rentnerinnen und Studenten, jede und jeder ist wichtig, um eine Geschichte zu erzählen, in der alle angesprochen und sichtbar werden. Dafür stehen Eltern und Großeltern ein, daran arbeiten Erzieher und Lehrerinnen in den Kindergärten und Schulen, dabei zählen Polizistinnen und Sozialarbeiter sowie Clubbesitzerinnenund Türsteher. Diese demokratische Geschichte eines offenen, pluralen Wir braucht Bilder und Vorbildern, auf den Ämtern und Behörden ebenso wie in den Theatern und Filmen – damit sie uns zeigen und erinnern, was und wer wir sein können.

Wir dürfen uns nicht nur als freie, säkulare, demokratische Gesellschaft behaupten, sondern wir müssen es dann auch sein.

Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut.

Säkularisierung ist kein fertiges Ding, sondern ein unabgeschlossenes Projekt.

Demokratie ist keine statische Gewissheit, sondern eine dynamische Übung im Umgang mit Ungewissheiten und Kritik.

Eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft ist etwas, das wir lernen müssen. Immer wieder. Im Zuhören aufeinander. Im Nachdenken über einander. Im gemeinsamen Sprechen und Handeln. Im wechselseitigen Respekt vor der Vielfalt der Zugehörigkeiten und individuellen Einzigartigkeiten. Und nicht zuletzt im gegenseitigen Zugestehen von Schwächen und im Verzeihen.

Ist das mühsam? Ja, total. Wird das zu Konflikten zwischen verschiedenen Praktiken und Überzeugungen kommen? Ja, gewiss. Wird es manchmal schwer sein, die jeweiligen religiösen Bezüge und die säkulare Grundordnung in eine gerechte Balance zu bringen? Absolut. Aber warum sollte es auch einfach zugehen?

Wir können immer wieder anfangen.

Was es dazu braucht?

Nicht viel: etwas Haltung, etwas lachenden Mut und nicht zuletzt die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern, damit es häufiger geschieht, dass wir alle sagen:

Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus.
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Morgen, Donnerstag, gibt es keinen Blog, da ich heute abend am Literarischen Quartett auf den Stuttgarter Buchwochen teilnehme und erst am nächsten Morgen wieder in Ulm bin.

Dienstag, 22.November

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Heute haben
George Eliot * 1819
André Gide * 1869
William Kotzwinkle * 1943
Viktor Pelewin * 1962
Geburtstag.
Und auch noch Benjamin Britten und Charles de Gaulle.
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Heute kommen die Ungereimhtheiten von Werner Färber mal ganz zu Beginn:

Der Uhu (und andere Nachtvögel)

Im Wald das Käuzchen schreit.
Der Ruf schallt meilenweit.
Bald hört man auch die Eule
mit ihrem Nachtgeheule.

Und darauf schimpft der Uhu:
„Macht eure Schnäbel zuhu!“

Der Richter

Ein Richter beugte jüngst das Recht.
Zu seinem Unglück kam’s heraus.
Das war für seine Laufbahn schlecht.
Bald musst er zieh’n aus seinem Haus.

Hätt‘ er aufs Beugen bloß verzichtet,
wär‘ nicht zu End‘ seine Karriere.
Nachdem er schließlich ward gerichtet,
war’n seine Nachbarn Jungens, schwere.

Wer noch mehr von Werner Färber lesen will, der schaue doch bitte auf seine prallgefüllte Homepage, oder/und in unseren Laden.

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Werner Färber: „Ungereimtheiten aus der Tierwelt“
€ 16,90

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€ 7,50

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€ 8,50

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Sie finden auf den beiden postkartengroßen Kalendern das Beste vom Besten von Werner Färber. Von A-Z geht er mit Ihnen wöchentlich die Tierwelt durch, oder mordet sich durch die Gegend. Er schreibt  dort etwas über das Yak, den Vogelstrauß und das Trampeltier. Da geht der Axt-Mörder um oder es geht um einen Osterfund im April. Moorleichen und Alpenmord gehören genau so dazu, wie der Todeskuss. Und wenn es ein wirklich schön gemachtes und wunderbar illustriertes Buch sein soll, dann schauen Sie in die Buchversion der „Ungereimtheiten aus der Tierwelt“ mit den Vignetten von Simone Klages.

Das Mähschaf

Mähend grast das Schaf,
und grasend mäht es brav,
damit nach langem Grasen
das Gras ist schöner Rasen.

Samstag, 19.November

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Heute haben
Anna Seghers * 1900
Max Kruse * 1921
Jan Koneffke * 1960
Geburtstag
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Gefunden im Duden Gedichte Kalender 2017 am 19.11.:

Franz Grillparzer

Ihr habt bei Nacht und Nebel gekriegt,
Und euer Feind, er liegt besiegt,
Doch als man die Leiche beim Licht erkannt,
Da wars euer eigenes Vaterland.
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Die Woche war wieder voll mit Veranstaltungen.
Ich zeige Ihnen hier ein paar von den drei Ulmer Autoren, die ihre Lieblingsbücher bei uns in der Buchhandlung vorgestellt haben.

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Rasmus Schöll
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Marco Kerler
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Florian Arnold
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Silke Knäpper

Die Titanic Boygroup war am Donnerstag im Ulmer Roxy.
Hier sehen Sie die Herren Thomas Gsella, Oliver Maria Schmitt und Martin Sonneborn beim Signieren und Herrn Gsella an der Posaune, die „Die Partei“ mitgebracht hat.

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Am kommendenMontag, 21.November um 19 Uhr bei uns in der Buchhandlung
Sunya Nyaga: „Green Paradise Project“

Die gebürtige Österreicherin hat sich in Afrika, gemeinsam mit ihrem Mann, eine
Aufgabe gestellt, die beide ausfüllt: Wasser dahin bringen, wo es dringend
gebraucht wird.
Ihre Leidenschaft für das Schreiben hat sie dabei nicht losgelassen.
„Wann denn, wenn nicht jetzt?“, ist eine Sammlung von kleinen Geschichten mit
viel Tiefgang und viel Humor.

Freitag, 18.November

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Heute haben
Richard Dehmel * 1863
Klaus Mann * 1906
Margaret Atwood * 1939
und Compay Segundo Geburtstag.
Es ist der Todestag von Marcel Proust.
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Richard Dehmel
Die stille Stadt

Liegt eine Stadt im Tale,
ein blasser Tag vergeht;
es wird nicht lange dauern mehr,
bis weder Mond noch Sterne,
nur Nacht am Himmel steht.

Von allen Bergen drücken
Nebel auf die Stadt;
es dringt kein Dach, nicht Hof noch Haus,
kein Laut aus ihrem Rauch heraus,
kaum Türme noch und Brücken.

Doch als den Wandrer graute,
da ging ein Lichtlein auf im Grund,
und durch den Rauch und Nebel
begann ein leiser Lobgesang
aus Kindermund.
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Gleich zwei Bücher mit Gedichten und Texten von Rühmkorf sind diesen Herbst erschienen. Jetzt gerade das Reclam Bändchen „Rühmkorf zum Vergnügen“, das von Susanne Fischer herausgegeben wurde. Zuvor schon das dicke, mächtige Werk „Sämtliche Gedichte“, herausgegeben von Bernd Rauschenbach. Und wer jetzt ein wenig die Ohren gespitzt hat, merkt sicherlich, dass dahinter die Mitarbeiter der Arno Schmidt Stiftung stehen. Fischer und Rauschenbach waren letzten Sommer bei uns in der Buchhandlung, um Briefe von Schmidt vorzutragen. Jetzt also Rühmkorf. Bernd Rauschenbach geht mit einer Combo und Rühmkorf Gedichten auf Tour. Vielleicht können wir diesen Abend auch einmal in der Literaturwoche in Ulm miterleben. Das wäre schön.

978-3-15-019214-6

Rühmkorf zum Vergnügen
Herausgegeben von Susanne Fischer
Reclam Verlag € 6,00

978-3-498-05802-9

Peter Rühmkorf: „Sämtliche Gedichte 1956 – 2008
Mit einer Auswahl der Gedichte von 1947 – 1955
Herausgegeben von Bernd Rauschenbach
Rowohlt Verlag € 39,95

Peter Rühmkorf wurde 1929 geboren und verstarb 2008. Er war ein Künstler in allen Richtungen. Prosa, Lyrik, Zeichnungen … alles kein Problem für ihn. Gekonnt zeigte er sich in allen Bereichen als großer Künstler. Und war es nicht der Umschlag des Buches „Der Hüter des Misthaufens“, der mich als junger Buchhandelslehrling fasziniert hat?
Peter Rühmkorf war nie der ganz einfache Gedichteschreiber, doch eher der politische, der kritiker Dichter, der sich einmischte. Mal frech, mal melancholisch, aber auch als Schriftsteller mit viel Witz. Er steht damit in der Tradition der großen Dichter wie Heine und Bellmann, der seine Liebe zum Leben, zum Alkohol, zur Liebe und zum Jazz in seinen Texten auslebte.
Susanne Fischers Vorwort ist so klug und erhellend, dass wir mit diesem Wissen noch mehr Vergnügen an ihrer Textauswahl haben.

Nichts Höheres möchte der Reim, als freudig mit den Ohren gelöffelt und der Seele als ein Lockruf eingeflüstert werden. Und nichts Edleres hat er im Sinn, als den Zusammenklang des tragisch Getrennten, fatal Auseinandergerissenen, umständehalber Zerteilten wenigstens für einige Atemzüge lang als möglich erscheinen zu lassen.,schreibt Peter Rühmkorf

Bernd Rauschenbach als Herausgeber der sämtlichen Gedichte von 1956 bis 2008 (mit einer Auswahl der Gedichte von 1947 bis 1955) war sicherlich längere Zeit beschäftigt, bis er diesen Prachtband mit über 600 Seiten zusammengestellt hat. Schön in der Ausstattung, prall von mit Gedichten. Einfach großartig.

Ein kleiner Wind, das wars

Ein kleiner Wind, das wars,
Mehr hielt uns nie,
Und des Mondes goldener Arsch
In der luftleeren Melancholie.

Für heut und allemal,
Wohin unser Herz uns trieb,
Es ist scheißegal,
Woran es hängen blieb.

Und ich berufe mich
Auf das was uns sterblich macht.
Süß und septemberlich –
Es ist eine süffige Nacht.

Wildernd im Ungewissen

Wildernd im Ungewissen,
Im Abflußrohr der Zeit,
Etwas Größe unter den Nagel gerissen,
Etwas Vollkommenheit.

Wir haben um neunzehn Uhr Syringen gebrochen
Und brachen Duft und Gram;
Flieder, mein lieber Mann, wir haben Flieder gerochen,
Wenn der Mond über Deutschland kam.

Im wenig Dauerhaften
Von Wind und Schein verführt –
Weiß ich, ob wir die Sterne verkraften
Bis man uns abserviert?

Bis daß wir abtreten müssen,
Schotter des Schicksals über die Fläche gestreut –
Etwas Größe unter den Nagel gerissen,
Etwas Vollkommenheit.

Sanfte Dämmerung, und mit herabgelassener Hose

Sanfte Dämmerung, und mit herabgelassener Hose,
Mit abgelegtem Jackett,
Spür ich noch einmal des Sommers tiefe Narkose
Hinter dem Ektoderm, hinterm Skelett.
Jage noch einmal die Träume, die nichts mehr erfassen,
In das Feld mit dem Klee.
Dies ist die Stunde, sich hemmungslos fallenzulassen,
v = g · t.
Dies ist die Stunde mit gelockerter Sehne,
Schwimmt Hand und Fuß davon,
Schmerzlich hinter der Endmoräne
Tönt das Akkordeon.
Und da ist kein Widerspruch
In allem, was geschieht,
Wenn der seidene Wind den Lupinengeruch
Über die Ebene zieht.

Donnerstag, 17.November

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Heute haben
Isabelle Eberhardt * 1877
Curt Götz * 1888
Mario Soldati * 1906
Geburtstag
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Heft SPUREN 93: „Ilse Aichinger in Ulm“ von Christine Ivanovic
Deutsche Schillergesellschaft € 4,50

Ilse Aichinger, die vor ein paar Tagen gestorben ist, erfuhr im Frühjahr 1943 in Wien von der Hinrichtung der ‚Weißen Rose‘. Das Wissen um den Widerstand gegen Hitler – so berichtete die österreichische Autorin drei Jahrzehnte nach der Zerschlagung des Nationalsozialismus in einer Ansprache in Ulm, gab Hoffnung und Kraft, die Zeit der Verfolgung und Vernichtung zu überstehen. Ihr Roman „Die größere Hoffnung“ (1948), der diese Situation verarbeitet, hatte in der Donaustadt schon bald nach seinem Erscheinen die Aufmerksamkeit von Inge Scholl erregt. Die ältere Schwester von Hans und Sophie Scholl, die zur selben Zeit mit der Volkshochschule Ulm eine völlig neuartige Bildungsarbeit „im Geiste der Gemordeten“ aufzubauen begann, lud Aichinger Anfang 1950 zu einer Lesung hierher ein. Sie freundeten sich an, und Aichinger arbeitete schon wenig später für einige Monate als Sekretärin Scholls. Ulm war die erste deutsche Stadt, in die Ilse Aichinger kam – und durch die Geschichte der Weißen Rose von zentraler Bedeutung für sie. Dieser „Spuren“-Band des Deutschen Literaturarchiv beleuchtet das nun.
„Ich kenne keinen dieser Namen, aber ich weiß, dass von ihnen einen unüberbietbare Hoffnung auf mich übersprang. Diese Hoffnung hatte, obwohl sie es uns möglich machte, in dieser Zeit weiter zu leben, doch nichts mit der Hoffnung zu überleben zu tun.“
Hoffnung ist ein zentraler Begriff bei Ilse Aichinger in dieser Zeit. Dies zeigt sich schon daran, daß sie ihrem Roman den Titel „Die größere Hoffnung“ gab.
In ihrem Tagebuch findet sich am 21. März 1943, einen Monat nach der Hinrichtung, folgendes:
„Die Hoffnung ist alles, diese größere Hoffnung, die die Dinge aus dem Schwankenden hinausreißt in die brennende Existenz des guten Willens.“
Mit diesem Hintergrund fand sie ein gutes Fundament für einen öffentlichen Bildungsauftrag. Inge Aicher Scholl war in der vh Ulm bald umringt von vielen bedeutenden Schriftstellern, Philosophen, Künstlern in allen Richtungen. In diesem Umfeld traf Aicher auf Hans Werner Richter, der sie zur Gruppe 47 einlud. Dort lernte sie ihren späteren Ehemann Günter Eich kennen und gewann mit „Spiegelgeschichten“ den Preis der Gruppe 47.
Aus der Idee der vh Ulm ging auch der Aufbau der Hochschule für Gestaltung hervor, der u.a. von Otl Aicher und Max Bill begründet wurde. Eine Hochschule, die als international bedeutendste Design-Hochschule nach dem Bauhaus gilt.
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Das schmale Heftchen ist voll mit Fotos aus dem Ulm der 50er Jahre, Dokumenten und Zitaten und sicherlich nicht nur für Einheimische interessant.Die Badische Zeitung berichtet über die ReiheSpuren„.

Mittwoch, 16.November

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Heute haben
José Saramago * 1922
Anne Holt * 1958
Karen Duve * 1961
Geburtstag.
Und es ist der Todestag von Ringelnatz.
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Friedrich Rückert
Lachen und Weinen

Lachen und Weinen zu jeglicher Stunde
Ruht bei der Lieb auf so mancherlei Grunde.
Morgens lacht ich vor Lust,
Und warum ich nun weine
Bei des Abends Scheine,
Ist mir selb‘ nicht bewußt.

Weinen und Lachen zu jeglicher Stunde
Ruht bei der Lieb auf so mancherlei Grunde.
Abends weint ich vor Schmerz;
Und warum du erwachen
Kannst am Morgen mit Lachen,
Muß ich dich fragen, o Herz.
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Jean E. Pendziwol:In einer weißen Winternacht
Illustrationen von Isabelle Arsenault
Verlag Freies Geistesleben € 14,90
Bilderbuch ab 4 Jahren

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… In einer weißen Winternacht, als du in deinem Bett geschlafen hast,
eingehüllt in eine federweiche Decke,
habe ich ein Bild für dich gemalt.
Zuerst kam eine winzig kleine Flocke,
vollkommen
und wunderschön
und besonders,
so wie du …

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Im Bett, im warmen Haus liegt ein kleiner Junge kuschelig im Bett, zugedeckt bis zur Nasenspitze. Draußen regt sich das leise Leben einer Winternacht: Flocken schweben herab. Erst eine, dann zwei, dann immer mehr. Tiere erscheinen. Alles ist still und so ganz langsam verformt sich die ruhige Welt da draußen zu einer Winterwelt. Zu einer Winternacht. Dies geschieht ohne Geräusche. Einfach nur so. Mit den poetischen kleinen Gedichten werden wir in diese Traumwelt, in diese traumhafte Welt hineingeführt, verführt und wir selber werden ganz still. Beim Betrachten der Bilder entdecken wir das jeweilige Motiv des Gedichtes. Ausgeführt in vielen Grau-Schwarz-Weiß-Tönen. Hin und wieder ein roter Fleck. Sterne glänzen am Himmel auf, denen flammende Nordlichter folgen. Ein Eisblumenkranz entsteht auf dem Fenster. Ein Phänomen, das wir mit unseren super isolierten Fenstern gar nicht mehr kennen.

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Jean E. Pendziwol und Isabelle Arsenault erzählen uns in Worten und Bildern eine zärtliche Gute-Nacht-Geschichte. Eine Geschichte, die einfach nur da ist. Die es zu betrachten gilt. Sich einfach den Bildern hingeben und vielleicht selbst aus dem Fenster zu spickeln, ob draußen nicht schon etwas Weißes auf der Wiese, den Ästen, den Dächern und Autos zu liegen ist.
Und wenn der Morgen kommt und das Tageslicht die Landschaft illuminiert, ist es genau so ein Licht, wie ich es an Wintersonntagsmorgen in Erinnerung habe.