Dienstag, 26.September

Heute haben
Truman Capote * 1924
Élie Wiesel * 1928
Dorothee Sölle * 1929
Jurek Becker * 1937
und Cecelia Ahern * 1981
Geburtstag.
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Friedrich Nietzsche
Der Herbst

Dies ist der Herbst:
der – bricht dir noch das Herz!
Fliege fort! fliege fort!
Die Sonne schleicht zum Berg
Und steigt und steigt
Und ruht bei jedem Schritt.

Was ward die Welt so welk!
Auf müd gespannten Fäden spielt
Der Wind sein Lied.
Die Hoffnung floh –
Er klagt ihr nach.

Dies ist der Herbst:
der – bricht dir noch das Herz!
Fliege fort! fliege fort!
O Frucht des Baums,
Du zitterst, fällst?
Welch ein Geheimnis lehrte dich
Die Nacht,
Daß eisiger Schauder deine Wange,
Die Purpur-Wange deckt? –

Du schweigst, antwortest nicht?
Wer redet noch? – –

Dies ist der Herbst:
der – bricht dir noch das Herz!
Fliege fort! fliege fort!
Ich bin nicht schön
– so spricht die Sternenblume –,
Doch Menschen lieb ich
Und Menschen tröst ich –

Sie sollen jetzt noch Blumen sehn,
Nach mir sich bücken
Ach! und mich brechen –
In ihrem Auge glänzet dann
Erinnerung auf,
„Erinnerung an Schöneres als ich: –
– ich seh’s – und sterbe so.“ –

Dies ist der Herbst:
der – bricht dir noch das Herz!
Fliege fort! fliege fort!
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Claudia Wiltschek empfiehlt:

Paolo Cognetti: „Acht Berge
DVA € 20,00

Pietro lebt mit seinen Eltern in Mailand, eine Stadt, in der sich sein Vater, aber auch seine Mutter nicht zurechtfinden, sind sie doch beide in den Bergen aufgewachsen. So oft wie möglich wird in die Berge gefahren, der Vater schnürt die Wanderschuhe und stürmt jeden nur möglichen Gipfel. Mit sieben Jahren ist auch Pietro soweit und möchte mit und damit beginnt ihre gemeinsame Zeit der grossen Bergtouren und Gipfeleroberungen. In Grana, einem kleinen Bergdorf im Aostatal wird eine kleines primitives Haus gemietet , in dem Mutter und Sohn den ganzen Sommer verbringen, der Vater kommt dazu, wenn es die Arbeit erlaubt. In Grana leben nur noch 14 Menschen, früher waren es einmal hundert und einer davon ist Bruno, das einzige Kind in diesem Dorf.
Bruno ist ganz anders als der gleich alte Pietro, meist sich selbst überlassen und muss die Kühe seines Onkels hüten. Nach anfänglichem Fremdeln freunden die beiden sich an, täglich sind sie gemeinsam unterwegs, streifen an endlosen Sommertagen durch schattige Wälder und folgen dem Wildbach bis zu seiner Quelle, oder erklimmen zusammen mit Pietros Vater die Gipfel.
„Acht Berge“ folgt dem Leben der Freunde über drei Jahrzehnte, aus der Perspektive von Pietro erzählt. Als der Vater stirbt, hinterlässt er seinem Sohn ein Grundstück bei Grana und nach vielen Jahren und ganz verschiedenen Lebenswegen treffen sich beiden wieder.
Man schlägt „Acht Berge“ auf und ist sofort in der Höhe, geniesst die Gipfel und die Natur und möchte nicht mehr absteigen. Ein stilles, berührendes Buch, das uns nicht nur in die Berge führt, sondern auch ganz feinfühlig über Freundschaft, Familie und den Lauf des Lebens erzählt.
Paolo Cognetti, 1978 in Mailand geboren, verbringt die Sommermonate immer in seiner Hütte im Aostatal auf 2000 Metern Höhe. Er hat Mathematik studiert, die Filmhochschule in Mailand besucht und gemeinsam mit einem Freund eine Produktionsfirma für Dokumentarfilme geleitet. Paola Cognettis neuestes Buch „Acht Berge“ stand wochenlang in den Top Ten der italienischen Bestsellerliste.

Leseprobe

Interview mit Paolo Cognetti
Im Gespräch mit Paolo Cognetti über Männerfreundschaften, Berge und die Sehnsucht nach einem einfachen Leben
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Liebe Leserinnen und Leser des Jastramblogs.
Ich verabschiede mich für eine Woche in den Urlaub.

Bitte nicht vergessen:

Am Mittwoch, den 4.Oktober findet unser Shortlistlesen statt.
Es lesen Marion Weidenfeld und Clemens Grote.
Bitte reservieren Sie sich rechtzeitig Plätze,
Beginn ist, wie immer, um 19 Uhr

(Die Erste Seite am Dienstag, den 3.Oktober fällt aus)

ORTE 25

Christel Müller, bildende Künstlerin, und Silvia Trummer, Schriftstellerin, arbeiten seit vielen Jahren themenbezogen zusammen. Sie haben in der Schweiz und Deutschland mehrere Ausstellungen gestaltet, indem sie Bilder, Texte und Objekte nebeneinander stellten. Unter dem Titel “ORTE“ zeigen die beiden Frauen Fotos und Notizen von unterwegs, an denen sie in den letzten Jahren gearbeitet haben. Was dabei entstanden ist, illustriert den Prozess von Gehen, Schauen und Gestalten. „Man könnte alles neu sehen“.

T10

Freitag, 22.September

Heute haben
Theodor Körner * 1791
Rosemunde Pilcher * 1924
Fay Weldon * 1931
Lutz Rathenow * 1952
Peter Prange * 1955
Geburtstag.
Aber auch Hans Scholl (Weiße Rose)
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Viktor Blüthgen
Ach, wer doch das könnte!

Gemäht sind die Felder, der Stoppelwind weht
hoch droben in Lüften mein Drache nun steht,
die Rippen von Holze, der Leib von Papier;
zwei Ohren, ein Schwänzlein sind all seine Zier.
Und ich denk: So drauf liegen im sonnigen Strahl –
Ach, wer doch das könnte, nur ein einziges Mal!

Da kuckt‘ ich dem Storch in das Sommernest dort:
Guten Morgen, Frau Storchen, geht die Reise bald fort?
Ich blickt‘ in die Häuser zum Schornstein hinein:
Papachen, Mamachen, wie seid ihr so klein!
Tief unter mir säh‘ ich Fluss, Hügel und Tal –
Ach, wer doch das könnte, nur ein einziges Mal!

Und droben, gehoben auf schwindelnder Bahn,
da fasst‘ ich die Wolken, die segelnden, an;
ich liess‘ mich besuchen von Schwalben und Krähn
und könnte die Lerchen, die singenden, sehn,
die Englein belauscht‘ ich im himmlischen Saal –
Ach, wer doch das könnte, nur ein einziges Mal!
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Ein Sehnsuchtsbuch für über’s Wochenende:

Niklas Maak:Durch Manhattan
Mit Illustrationen von Leanne Shapton
Hanser Verlag € 25,00

5 Fragen an Niklas Maak

Was hat Sie bei Ihrer zweitägigen Tour von der Süd- zur Nordspitze Manhattans am meisten überrascht?

Dass Manhattan nördlich des Central Park Berge, Wälder und Schluchten hat. Außerdem natürlich die Leute, die man trifft: der Chinese, der frühmorgens mit einem kleinen Hammer alte Handys auseinandernimmt, wie ein Austernfischer. Die Apple-Mitarbeiter, die nachts wie Chirurgen in einer Notaufnahme schreiende, weinende Menschen beruhigen, deren Mobiltelefon ins Klo gefallen oder deren Computer abgestürzt ist und die ihre Geräte wie Schwerverletzte in den neongrellen Apple-Notdienst am Central Park bringen. Jon Girodes, ein Ex-Model und republikanischer Politiker, der, kurz nachdem wir ihn trafen, verhaftet wurde. Die Tochter des deutschen Juden, der 1938 als Kind aus Berlin floh. Der alte Mann, der seit seiner Geburt im gleichen Haus in den Washington Heights lebt. Die Demonstranten. Der letzte Italiener von Little Italy, das traurige Liebespaar im Washington Square Park, die schöne Obdachlose, die mit ihrem Hund im Sommer in den Rockaways am Strand und sonst im Central Park schläft.

Welche Farben haben Sie vor Augen, wenn Sie an Manhattan denken?

Natürlich das verrußte Rot der alten Backsteinhäuser und natürlich das Gelb der Taxis und der Ampeln, die in Amerika ja oft an Seilen über den Kreuzungen baumeln und sich bei Sturm so drehen, dass man gar nicht mehr weiß, wer hier Rot hat. Rot und Taxigelb sind die Manhattan-Klischeefarben. Dann aber auch: das Krankenhausweiß der nächtlichen Apple-Welt. Das dicke Schwarz der hundertmal gestrichenen schmiedeeisernen Balkongitter. Das Orange der Baustellenabsperrungen. Das Tiefblau des New Yorker Himmels, der immer frisch gewaschen aussieht und fast keine Farbe ist, eher ein Geruch nach klarer, kalter Atlantikluft. Zusammen, als Flimmern, bilden sie den Grundton dieser vollkommen wahnsinnigen Totalverdichtung aus Hoffnungen, Liebe, Bildern, Beton, Alkohol, Schlaflosigkeit, Euphorie, Gegenlicht, Armut, Seidenblusen, Punkrock, Stein, Gebeten, Martinis, Katastrophen, Goldreserven, Herzinfarkten, Nackten, Carbonara, Krawatten, Kaschmir, perfekten Zähnen, alten Mänteln, Bäumen, Gewitter, Stahl, Geräuschen, Geschichten, die schließlich Manhattan ergibt.

Ihren Lieblingsdeli wollen Sie uns natürlich nicht verraten. Aber vielleicht den zweitliebsten?

Ach, wissen Sie was, ich verrate Ihnen einfach doch meinen Lieblingsdeli: Er liegt an der Amsterdam Avenue und heißt „Barney Greengrass“. Es gibt ihn an dieser Stelle seit 1929, seitdem wurde nicht viel verändert. Es gibt Matzeknödelsuppen und Rührei mit Pastramilachs oder mit Stör. Barney Greengrass wurde in Russland geboren, wuchs in Harlem auf und arbeitete in einem Appetizing Store, bis er auf die Idee kam, in Harlem selbst einen für Räucherfisch zu eröffnen, und in den dreißiger Jahren baute er ein kleines Restaurant an, das heute immer noch so aussieht wie damals. Sein Enkel, Gary, führte die Onlinebestellung ein und das Schild „Going to the Hamptons“ – denn im Sommer, wenn die Stadt wie unter Schock in der drückenden Hitze der endlosen Juli- und Augusttage liegt und das Thermometer erst am späten Abend unter 35 Grad fällt, schicken die Bewohner der Upper West Side und der Upper East Side ihre Chauffeure zu Barney und lassen sich hier ihre Picknickkörbe füllen, um damit an den Atlantik nach Long Island zu fahren.


Wenn Sie die Wahl hätten: Wo wollten Sie in Manhattan wohnen?

Entweder über dem „Tartine“ an der Ecke W 4th/W 11th Street oder ganz oben an der 160th Street im wunderbaren Morris-Jumel Mansion, einer Villa, die sich ein britischer Colonel 1765 baute, als hier noch wildes Land und Wälder waren. Leider soll der Geist des ermordeten Weinhändlers Stephen Jumel hier 1964 gesehen worden sein, und seitdem ist die Villa ein Lieblingsziel für Paranormalitätsforscher und Exorzisten aus aller Welt geworden. Einer von ihnen zündete vor einiger Zeit auf dem Gelände, um Jumels Geist auszuräuchern, sogar einen Schuppen an, in dem sich ein – wie sich zeigte, extrem explosionsfreudiger – Aufsitzrasenmäher befand. Also doch lieber übers „Tartine“.

Was machen Sie, wenn Sie Manhattan vermissen?

„Manhattan“ von Woody Allen anschauen. Leanne Shaptons Manhattan-Gemälde anschauen. „Across 110th Street“ von Bobby Womack hören. „New York“ von Cat Power hören. „Rockaway Beach“ von den Ramones hören. „Leaving New York“ von REM hören. Pastramisandwiches essen. Einen Flug nach New York buchen.

Was soll, was kann ich diesem Interview noch hinzufügen? Wer jetzt noch keine Lust hat, in dieses Buch zu schauen, ….
Maak und Shapton wandern von der Südspitze von Manhattan (= hügeliges Land) in den Norden, dort wo die Insel endet und die Bronx beginnt. Der eine mit dem Notitzbuch, die andere mit dem Aquarellkasten. Was dabei herauskommt sind Eindrücke, Kleinigkeiten, ein Treffen an der Tanke, ein Gespräch in einem Dehli, Geschichten über Häuser und Plätze. Orte, die nicht auf den Trampelpfaden für Touristen liegen. Ihre Route haben sie mit dem Lineal gezogen und schauten dann, was dabei herauskommt.
Ich durfte Niklas Maak einmal erleben, wie er uns durch London geführt hat. Ein Traum. Der Kerl ist ein Charmeur, ein Flaneur, klug, witzig, elequent und sehr sympatisch. Das alles merkt man diesem Buch an. Die Aquarelle von Jeannie Shapton haben ihren eigenen Charme. Wir kennen ihre Illustrationen schon zwei Bücher zum Thema Ernährung im Kunstmann Verlag.
Ach, ich könnte noch weiter schwärmen und freue mich einfach, wenn mich der Buchrücken mit seiner Schrift, wie bei einer Neonwerbung, aus dem Regal anlacht.

Leseprobe

Donnerstag, 21.September

Heute haben
HG Wells * 1866
Leonard Cohen * 1934
Klaus Kordon * 1934
Stephen King * 1947
Frédéric Beigbeder * 1965
Geburtstag
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Heute im Gedichte Kalender

Friedrich Hölderlin
An die Parzen

Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,
Daß williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht
Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;
Doch ist mir einst das Heilge, das am
Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,

Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!
Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel
Mich nicht hinab geleitet; Einmal
Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.
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Unser Buchtipp:

Hervé Le Tellier:Ich und der Präsident
Ein Briefroman
Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte
dtv € 8,00

„Weil er er war,
weil ich ich war“
Michel de Montaigne

Dies hat Tellier seinem Brief-Spaß-Roman vorneweggestellt. Passt.

Das wünscht sich doch jeder. Eine Antwort auf einen Brief an eine große Persönlichkeit zu bekommen. Tellier hat an den damaligen französischen Präsidenten Mitterand geschrieben. Es begann mit einer Urlaubspostkarte und er bekam eine Antwort. Aber was für eine. Es war natürlich ein Formblattr mit einer Unterschrift. Tellier nahm dies jedoch persönlich und schreib weiter an seinen neuen Brieffreund, den er dann auch gleich mal Francois nannte. Und jedes Mal – zack – bekam er Post.
So entwickelte sich eine langandauernde Brieffreundschaft. Tellier mit seinen Briefen und Postkarten, das Büro von Mitterand mit seinen Fromblättern. Er fühlt sich verstanden und gut aufgehoben von und mit seinem Präsidenten, so dass er diesen Briefwechsel mit Mitterrands Nachfolgern Chirac, Sarkozy, Hollande und Macron einfach fortführte.
Ein großes Vergnügen, bei dem ich nicht weiß, wie, wann, wo der Autor Tellier flunkert.
Ist mir ja auch egal.
Schauen Sie bitte in die Leseprobe. Es lohnt sich:

Leseprobe

Mittwoch, 20.September

Heute haben
Hedwig Dohm * 1831
Upton Sinclair * 1878
Joseph Breitbach * 1903
Adolf Endler * 1930
Javier Marias *1951
Geburtstag
und auch Sophie Loren und Alexander Mitscherlich.
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Glaube nicht, es muss so sein,
weil es so ist und immer so war.
Unmöglichkeiten sind Ausflüchte steriler Gehirne.
Schaffe Möglichkeiten.

Hedwig Dohm
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Magnus Lindgren: „Stockholm Underground“
ACT CD € 19,99
mit Eric Bibb, Till Brönner, Lars DK Danielsson, Henrik Janson, Daniel Karlsson, Per Lindvall, Ida Sand

„Stockholm Underground“ ist eine große Vereigung an den berühmten Jazz-Flötisten Herbie Mann und dessen Album „Memphis Underground“ aus dem Jahre 1969, das der US amerikanische Rolling Stone 2013 unter die 100 besten Jazz-Alben aller Zeiten wählte. Das soll nun aber nicht heißen, daß hier nicht Neues entstanden ist. Der schwedische Jazz-Flötist Magnus Lindgren, hat sich hochkarätige Mitspieler mit ins Studio genommen und im Stile der alten Platte u.a. eigene Kompositionen eingespielt.
Es ist eine Produktion des ACT Labels und da kennt man sich wohl sehr gut. Viele Musiker, die dort unter Vertrag stehen, haben Magnus Lindgren unterstützt. So auch die Mitglieder von Nils Landgrens Funk Unit, die bekannt für ihren groovenden Ton sind. Soul, Rhythm’n’Blues, Latin, Altes, Neues – eine perfekte Mischung, in der man die Lust und Laune der Musiker spüren kann. Ein Rückgriff in die 70er Jahre, gespielt mit Coolness eines Till Brönners, der mit seiner Trompete auch zu hören ist.

Dienstag, 19.September

Heute haben
William Golding * 1911
Carlo Fruttero * 1926
Stefanie Zweig * 1932
Geburtstag.
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Heute im Duden Gedichte Kalender:

Wer für andre nur weiß, der trägt wie ein Blinder die Fackel,
Leuchtet voran und geht selber in ewiger Nacht.

Johann Gottfried Herder
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Unser Buchtipp:

Jami Attenberg:Ehemänner
Aus dem Englischen von Barbara Christ
Schöffling Verlag € 24,00

Jami Attenbergs viertes Buch hat es als erstes nach Deutschland geschafft. „Die Middlesteins“ waren ein schöner Erfolg. Das Nachfolgebuch „Saint Mazie“ ging leider etwas unter. „All Grown Up“ ist in den USA schon erschienen und kommt bei uns 2108. Der Schöffling hat jetzt Jamis ersten Roman übersetzen lassen und präsentiert uns „Ehemänner“ in diesem Herbst. Etwas zögerlich ging ich an den ersten Roman der Autorin ran, da solche Rückgriffe oft nicht glücklich sind. Hier jedoch – weit gefehlt. Jami Attenbergs Erzählduktus, ihr Witz und Aktualität zeigt sich hier schon.
Allein der Einstieg, als Martin Miller, der Künstler und Ehemann von Jarvis in seinem Atelier von der Leiter und ins Koma fällt, ist schon sehr komisch und böse.
Was danach kommt ist Jarvis‘ Trauer, das Zurückziehen aus und Abschotten von der Welt. Erst ein Treffen mit drei attraktiven jungen Männern, jungen Vätern in einem Waschsalon lässt die ehemals flippige Jarvis auftauen und wieder zurückkehren in das Treiben im Stadtteil Williamsburg in Brooklyn. Jami versteht es sehr gut diese Künstlerszene zu beschreiben. Wir sehen förmlich die Typen, wie sie am Tresen hängen und sich wichtig geben.
Mit neugelerntem Schwung versucht Jarvis Tritt zu fassen. Die Bilder ihres Mannes werden (durch sein Koma) immer wertvoller und begehrter. Als Martins Agentin eine Gesamtschau in der MoMA organisieren will, sichtet Jarvis das Gesamtwerk ihres Mannes. In diversen Schuhkartons findet sie kompromittiernde Fotos, die ihre Sicht auf ihren Mann komplett verändert. Diese Initialzündung veranlasst sie, sich dem wirklichen Leben nicht mehr zu verschließen und Probleme direkt und kompromisslos anzugehen. Das passt natürlich nicht allen, die Kapital aus dem Werk ihres Mannes schlagen wollen.
Gleichzeitg verschärft sich die Lage um ihren komatösen Mann, nachdem bekannt geworden ist, dass Jarvis ihn von allen Maschinen abschalten lassen will.
Ein bisschen viel für einen Roman, meinen Sie vielleicht. Ja, könnte schon sein. Aber Jamie versteht es perfekt diese unterschiedlichen Stränge intelligent zu bündeln und die Geschichte(n) schneller werden zu lassen. Immer intensiver und lauter werden die letzten Kapitel. Aktuell, kritisch, kritisierend endet dieser Roman, der mit einem Paukenschlag begonnen hat und mit einem Feuerwerk endet.
Ich freue mich schon auf den neuen Roman von ihr.

Leseprobe

ORTE 24

Christel Müller, bildende Künstlerin, und Silvia Trummer, Schriftstellerin, arbeiten seit vielen Jahren themenbezogen zusammen. Sie haben in der Schweiz und Deutschland mehrere Ausstellungen gestaltet, indem sie Bilder, Texte und Objekte nebeneinander stellten. Unter dem Titel “ORTE“ zeigen die beiden Frauen Fotos und Notizen von unterwegs, an denen sie in den letzten Jahren gearbeitet haben. Was dabei entstanden ist, illustriert den Prozess von Gehen, Schauen und Gestalten. „Man könnte alles neu sehen“.

T10

Freitag, 15.September

Heute haben
Ferdinand von Saar * 1833
Truman Capote * 1924
Élie Wiesel 1928
Jurek Becker * 1937
Werner Schmidli * 1939
Cecilia Ahern * 1981
Geburtstag.
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Annette von Droste-Hülshoff
Spätes Erwachen

Wie war mein Dasein abgeschlossen,
Als ich im grün umhegten Haus
Durch Lerchenschlag und Fichtensprossen
Noch träumt in den Azur hinaus.

Als keinen Blick ich noch erkannte,
Als den des Strahles durchs Gezweig,
Die Felsen meine Brüder nannte,
Schwester mein Spiegelbild im Teich.

Nicht rede ich von jenen Jahren,
Die dämmernd uns die Kindheit beut;
Nein, so verdämmert und zerfahren
War meine ganze Jugendzeit.

Wohl sah ich freundliche Gestalten
Am Horizont vorüberfliehn;
Ich konnte heiße Hände halten
Und heiße Lippen an mich ziehn;

Ich hörte ihres Grußes Pochen,
Ihr leises Wispern um mein Haus
Und sandte schwimmend, halbgebrochen,
Nur einen Seufzer halb hinaus.

Ich fühlte ihres Hauches Fächeln,
Und war doch keine Blume süß;
Ich sah der Liebe Engel lächeln,
Und hatte doch kein Paradies.

Mir war, als habe in den Noten
Sich jeder Ton an mich verwirrt,
Sich jede Hand, die mir geboten,
Im Dunkel wunderlich verirrt.

Verschlossen blieb ich, eingeschlossen
In meiner Träume Zauberturm,
Die Blitze waren mir Genossen
Und Liebesstimme mir der Sturm.

Dem Wald ließ ich ein Lied erschallen,
Wie nie vor einem Menschenohr,
Und meine Träne ließ ich fallen,
Die heiße, in den Blumenflor.

Und alle Pfade mußt‘ ich fragen:
Kennt Vögel ihr und Strahlen auch?
Doch keinen: wohin magst du tragen?
Von welchem Odem schwillt dein Hauch?

Wie ist das anders nun geworden,
Seit ich ins Auge dir geblickt!
Wie ist nun jeder Welle Borden
Ein Menschenbildnis eingedrückt!

Wie fühl‘ ich allen warmen Händen
Nun ihre leisen Pulse nach,
Und jedem Blick sein scheues Wenden,
Und jeder schweren Brust ihr Ach!

Und alle Pfade möcht‘ ich fragen:
Wo zieht ihr hin? wo ist das Haus,
In dem lebend’ge Herzen schlagen,
Lebend’ger Odem schwillt hinaus?

Entzünden möcht‘ ich alle Kerzen
Und rufen jedem müden Sein:
Auf ist mein Paradies im Herzen,
Zieht alle, alle nun hinein!
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Finn-Ole Heinrich, Dita Zipfel & Halina Kirschner:
Trecker kommt mit
Mairisch Verlag 15,00
Kinderbuch ab 3 Jahren

Hilfe, ein Umzug steht an. ein Umzug vom Land in die Stadt. Das ist ja mal schon nicht lustig, wenn aber Trecker nicht mitdarf, dann wird es sehr sehr ernst für den kleinen Ich-Erzähler, oder kleine Ich-Erzählerin.
Trecker muss mit! Diese Aussage wird auch mehrfach getroffen und fett gedruckt lesen wir das auf jeder zweiten Seite. Trecker ist nämlich lebensnotwendig, wie Luft und Wasser. Allein, was der alles kann, was man alles mit ihm anstellen kann. Er ist super praktisch. Beim Einkaufen natürlich und wenn Stau ist – nix wie weg mit den lästigen Autos. Ist ein Wald zu weit weg, dann schieb Trecker ihn her. Muss ein Loch gegraben werden – Trecker macht das. Klein, rot, praktisch. Auch zum Chillen und Pause machen. Warum verstehen die Großen das nicht?
Und nach der Lektüre wird uns klar, dass ein Leben ohne Trecker zwar möglich ist, aber keinen Sinn macht.
Trecker muss mit!

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Finn-Ole Heinrich, vielfach preisgekrönter Autor, hat nach seinen erfolgreichen Titeln »Frerk, du Zwerg« und der Trilogie »Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt« jetzt erstmals zusammen mit Dita Zipfel ein Kinderbuch für ganz kleine Kinder geschrieben – wie immer anarchisch, wild, unerschrocken und mutig.

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Für diese Geschichte hat die Leipziger Illustratorin Halina Kirschner mit ihrer Siebdruckoptik und ihren leuchtenden Farben starke Bilder gefunden.

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Finn-Ole Heinrich & Dita Zipfel (Foto: Dawn Stoloff)

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Unsere nächste Veranstaltung:

Mittwoch, 20.September um 19:00

Helmut Gotschy: „Die Tote in der Blau“
Buchpräsentation

Eine bekannte Ulmer Kulturschaffende wird tot zwischen den Zillen in der Blau entdeckt – und das ausgerechnet eine Woche vor dem Schwörmontag, dem wichtigsten Ulmer Stadtfest, zu dem die Touristen zu Tausenden in die Stadt strömen. Kommissar Bitterle und seinem Team bleibt nur wenig Zeit, um den Fall aufzuklären. Die Lösung scheint zum Greifen nah – da geschieht ein weiterer Mord.

Bei uns in der Buchhandlung

Donnerstag, 14.September

Heute haben
Theodor Storm * 1817
Michel Butor * 1926
Ivan Klima * 1931
Eckhard Henscheid * 1941
Uli Becker * 1953
Geburtstag
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Theodor Storm
Abseits

Es ist so still; die Heide liegt
Im warmen Mittagssonnenstrahle,
Ein rosenroter Schimmer fliegt
Um ihre alten Gräbermale;
Die Kräuter blühn; der Heideduft
Steigt in die blaue Sommerluft.

Laufkäfer hasten durchs Gesträuch
In ihren goldnen Panzerröckchen,
Die Bienen hängen Zweig um Zweig
Sich an der Edelheide Glöckchen,
Die Vögel schwirren aus dem Kraut –
Die Luft ist voller Lerchenlaut.

Ein halbverfallen niedrig Haus
Steht einsam hier und sonnbeschienen;
Der Kätner lehnt zur Tür hinaus,
Behaglich blinzelnd nach den Bienen;
Sein Junge auf dem Stein davor
Schnitzt Pfeifen sich aus Kälberrohr.

Kaum zittert durch die Mittagsruh
Ein Schlag der Dorfuhr, der entfernten;
Dem Alten fällt die Wimper zu,
Er träumt von seinen Honigernten.
– Kein Klang der aufgeregten Zeit
Drang noch in diese Einsamkeit.
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9783608981063

Pierre Lemaitre:Drei Tage und ein Leben
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Klett-Cotta Verlag € 20,00

Im Jahr 1999 verschwindet ein Junge aus einem Dorf spurlos. Eine große Suchaktion wird gestartet, aber nachdem ein Jahrhundertsturm über die Gegend jagt, sind alle Spuren ausgelöscht. Rémi heisst der sechsjährige Junge, der sich mit der Hauptperson Antoine im Wald bei ihrem Baumhaus getroffen hat. Was dann geschieht, verändert alles innerhalb ein paar Sekunden.

„Rémi, der ihn nie in einem solchen Zustand gesehen hatte, war verängstigt. Er wandte sich um, machte einen Schritt. Da nahm Antoine den Stock in beide Hände und schlug voller Wut auf das Kind ein. Der Stock traf die rechte Schläfe. Rémi brach zusammen, Antoine ging näher, streckte die Hand aus, schüttelte ihn an der Schulter: Rémi?“

Für seinen letzten Roman, „Wir sehen uns dort oben“, hat Pierre Lemaitre den wichtigsten französischen Literaturpreis erhalten, den „Prix Goncourt“ und ich war gespannt, was nach diesem dicken, unglaublich guten Buch noch folgen kann. Lemaitre hat sich ein ganz anderes Thema herausgesucht und hat gewonnen. Herausgekommen ist ein psychologiches Kammerspiel, in dem ein zwölfjähriger zum Mörder wird. Kann das überhaupt sein? Antoine versteckt den toten Freund und kommt selber fast um vor Sorgen, ob er erwischt wird und ob seiner Tat überhaupt.
Wie geht Antoine mit dieser Schuld um? Durch den Sturm könnte er auf der sicheren Seite sein. Aber so richtig daran glauben mag Antoine nicht.

„Die rasch unter Wasser gesetzten Straßen verwandelten sich erst in Bäche, dann in Flüsse, und trugen alles davon, was die Windböen wenige Stunden zuvor losgerissen hatten: Mülleimer, Briefkästen, Kleidungsstücke, Kisten, Bretter; man sah sogar einen kleinen weißen Hund, der versuchte, sich über Wasser zu halten, und den man am nächsten Morgen tot an einer Mauer finden würde.“

Antoine wird größer, er studiert Medizin, heiratet – aber seine Schuld lässt ihn nicht los. Und wie ein Mediziner seziert er sein Familien-, das Dorfleben in einem wirtschaftlichen Umbruch. Nach seiner Flucht aus der Enge ist er wieder heimgekehrt, wie magisch angezogen. Er hängt fest im engmaschigen Spinnenetz. Wie in der griechischen Tragödie kann er seinem Schicksal nicht entkommen.

Das Ende ist im Anfang enthalten. In dem Moment, in dem er das Verbrechen begeht, ist klar, dass er dem nicht entrinnen kann, dass, was immer auch passieren wird, er am Ende letztlich zum Anfang zurückgeführt wird„, so Lemaitre.

Ein Buch, das mich nicht mehr losgelassen, das mich gefessselt hat, wie Antoine in seiner engen Dorfgemeinschaft.

Leseprobe

Mittwoch, 13.September

Heute haben
Jaroslav Seifert * 1901 (Nobelpreis 1984)
Per Olov Enquist * 1934
Antonio Tabucchi * 1943
Geburtstag.
Aber auch Bruce Springsteen, Romy Schneider und Ray Charles.
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Friedrich Hebbel
Wenn die Rosen ewig blühten …

Wenn die Rosen ewig blühten,
Die man nicht vom Stock gebrochen,
Würden sich die Mädchen hüten,
Wenn die Burschen nächtlich pochen.

Aber, da der Sturm vernichtet,
Was die Finger übrigließen,
Fühlen sie sich nicht verpflichtet,
Ihre Kammern zu verschließen.
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Die Shortlist ist raus. Alle Zeitungen berichten, analysieren und stellen Vermutungen an.
Welches Buch bekommt den Buchpreis 2017?
Keine Bange: Am Mittwoch, den 4.Oktober findet bei uns in der Buchhandlung das legendäre Shortlistlesen statt. Marion Weidenfeld und Clemens Grote lesen aus den sechs Bücher und wir stimmen ab. Jastram sagt der Jury, wo es lang geht. Und das alles mit viel Spaß. Bitte jetzt schon Plätze reservieren, damit Sie nicht auf dem Boden sitzen müssen.

Hier können Sie sich schon einmal einstimmen auf die sechs Bücher:

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Gerhard Falkner:Romeo oder Julia
Berlin Verlag € 22,00

Auf einem Schriftstellertreffen in Innsbruck passiert Kurt Prinzhorn etwas Merkwürdiges: Jemand muss während seiner Abwesenheit ein ausgiebiges Schaumbad in der Wanne seines Hotelzimmers genommen und dort bewusst Spuren hinterlassen haben. Nichts deutet jedoch auf ein fremdes Eindringen hin. Wenig später in Madrid, wo der Autor einer früheren Geliebten wiederbegegnet, reißt die Kette seltsamer Geschehnisse nicht ab – bis die Puzzleteile seiner Erinnerung ein Bild ergeben, das ihn weit in seine Vergangenheit zurückführt. Doch dann wird unter dem Fenster von Prinzhorns Zimmer in Madrid eine tote Frau gefunden.

Kommentar der Jury:
„Romeo oder Julia“ besteht aus drei Teilen, und tatsächlich erinnert der Roman an ein Triptychon. Hier ist jedes Wort mit feinem Pinsel gemalt, jeder Satz aufs schärfste angespitzt. Vordergründig handelt der Roman ja von den Abenteuern eines Schriftstellers, im Grunde aber geht es um das Abenteuer der Sprache, um das Abenteuer des Schreibens, und darum, wie mit Sprache Welt erschaffen wird, wie mit jedem Wort Entscheidungen getroffen werden: „Romeo ODER Julia“ eben.

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Franzobel:Das Floß der Medusa
Paul Zsolnay Verlag € 26,00

18. Juli 1816: Vor der Westküste von Afrika entdeckt der Kapitän der Argus ein etwa zwanzig Meter langes Floß. Was er darauf sieht, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren: hohle Augen, ausgedörrte Lippen, verbrannte Haut voller Wunden und Blasen … Die ausgemergelten Gestalten sind die letzten 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach dem Untergang der Fregatte Medusa zwei Wochen auf offener See überlebt haben. Da es in den Rettungsbooten zu wenige Plätze gab, wurden sie einfach ausgesetzt. Aus der Perspektive des Küchenjungen Victor wird erzählt, wie es zu dieser Tragödie kommen konnte.

Kommentar der Jury:
„Wo es kein Brot gibt, gibt es kein Gesetz mehr.“ Wie einfach ist dieser Satz. Und wie bedrückend wahr ist er. Franzobel hat uns mit seinem Roman eine alte Geschichte aufgetischt, die sich vor 200 Jahren zugetragen hat. Warum sollen wir diese Geschichte heute noch lesen? Franzobel schreibt uns dies ins Gedächtnis: Wir alle fahren gemeinsam auf dieser Fregatte und kämpfen gemeinsam auf dem Floß der Medusa ums Überleben. Denn – wie gesagt – da, wo es kein Brot gibt, wird es auch kein Gesetz mehr geben. Das ist bis heute gültig. Der Roman ist also auch eine kleine, ungeheuerliche Menschheitsgeschichte auf gerade einmal knapp 600 spannenden Seiten.

Thomas Lehr:Schlafende Sonne
Hanser Verlag € 28,00

Ein Jahrhundert Deutschland – an einem Tag. Rudolf Zacharias reist nach Berlin. Dort will er die Vernissage seiner früheren Studentin Milena Sonntag besuchen. In ihrer Ausstellung „Schlafende Sonne“ zieht Milena nicht nur eine künstlerische Lebensbilanz, sondern die ihrer Zeit. Wie in Bildern einer Ausstellung erzählt dieser Roman von den historischen Katastrophen und von den privaten Verwicklungen dreier Menschen, führt von den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs bis ins heutige Berlin.

Kommentar der Jury:
Thomas Lehr verhandelt, ausgehend von einem einzigen Tag, ein ganzes Jahrhundert und entwirft ein Geschichtslabyrinth, in dem er die komplexen Ereignisse und Verwerfungen souverän platziert und – im Wortsinn – neu zur Sprache bringt. Mit einer Mischung aus spannender Erzählung, Reflexion und ästhetischem Wagemut bricht er mit unseren Wahrnehmungsmustern und macht die Literatur selbst zum Instrument der Erkenntnis. Seite um Seite neue Blicke auf scheinbar Vertrautes, ein Archiv der Sinne, des Bewusstseins und all der sich überlagernden Bereiche, aus denen sich das speist, was wir unser Wissen nennen.

Robert Menasse:Die Hauptstadt
Suhrkamp Verlag € 24,00

Beamtin Fenia Xenopoulou soll das Image der Europäischen Kommission aufpolieren. Sie beauftragt den Referenten Martin Susman, eine Idee zu entwickeln. Die Idee weckt ein Gespenst aus der Geschichte, das für Unruhe in den EU-Institutionen sorgt. Kommissar Brunfaut muss aus politischen Gründen einen Mordfall auf sich beruhen lassen. Alois Erhart, Emeritus der Volkswirtschaft, soll in einem Think-Tank zur Zukunft Europas Worte sprechen, die seine letzten sein könnten. Und was macht Brüssel? Es sucht einen Namen – für das Schwein, das durch die Straßen läuft.

Kommentar der Jury:

Robert Menasse verwebt Zeiten, Nationen und Institutionen zu einer einzigartigen Panoramaaufnahme von Europa – kriminalistisch angetrieben, philosophisch durchdrungen und dabei immer grundironisch. Ganz in der Tradition von Balzacs Vorstellung kritischer Zeitgenossenschaft ist „Die Hauptstadt“ ein Roman, der alles über unsere Zeit enthält, ohne je zeitgeistig zu werden.

Marion Poschmann: „Die Kieferninseln
Suhrkamp Verlag € 20,00

Gilbert Silvester, Privatdozent und Bartforscher, steht unter Schock. Letzte Nacht hat er geträumt, dass seine Frau ihn betrügt. In einer absurden Kurzschlusshandlung verlässt er sie, steigt ins erstbeste Flugzeug und reist nach Japan, um Abstand zu gewinnen. Dort fallen ihm die Reisebeschreibungen des klassischen Dichters Bashō in die Hände, und plötzlich hat er ein Ziel: Wie die alten Wandermönche möchte auch er den Mond über den Kieferninseln sehen. Aber noch vor dem Start trifft er auf den Studenten Yosa, der mit einer ganz anderen Reiselektüre unterwegs ist, dem Complete Manual of Suicide.

Kommentar der Jury:
Mit der Intensität eines Haikus setzt Marion Poschmann ein unvergessliches Figurenpaar in die literarische Landschaft. Wie die beiden mit Matsuo Bashō und Selbstmordanleitung den Großstadttrubel und mythische Gefilde durchstreifen, ist pure Lesefreude! Der Roman ist eine Lebenswanderung, in der zwei konträre Charaktere mit gegensätzlichen Zielen ihr Selbst entfalten und ihrer Berufung entgegenlaufen. Jedes augenscheinlich noch so unbedeutende Detail wird Poesie. Poschmanns Perspektivwechsel zwischen Weitwinkel und Zoom, der inneren und der äußeren Welt erzeugen Tempo und subtile Spannung. Mit der Wanderung auf Bashōs Spuren schlägt sie eine Brücke über die Zeiten. Gekonnt, erfrischend locker, tiefenscharf.

Sasha Marianna Salzmann:Außer sich
Suhrkamp Verlag € 22,00

Sie sind zu zweit, von Anfang an, die Zwillinge Alissa und Anton. In der Zweizimmerwohnung im Moskau der postsowjetischen Jahre verkrallen sie sich in die Locken des anderen, wenn die Eltern aufeinander losgehen. Später, in der westdeutschen Provinz, streunen sie durch die Flure des Asylheims. Und noch später verschwindet Anton spurlos. Irgendwann kommt eine Postkarte aus Istanbul – ohne Text, ohne Absender. Alissa macht sich auf die Suche – nach dem verschollenen Bruder, aber vor allem nach einem Gefühl von Zugehörigkeit jenseits von Vaterland, Muttersprache oder Geschlecht.

Kommentar der Jury:
Ein Debütroman mit großer sprachlicher und dramaturgischer Kraft: Vom postsowjetischen Moskau über ein Asylheim in der westdeutschen Provinz bis in ins heutige Istanbul, erzählt Sasha Marianna Salzmann von den Umbrüchen und der Verbundenheit der Flüchtlingsfamilie Tschepanow. Vor allem erzählt sie aber sicher, perspektivenreich, humorvoll und mit großer Unbedingtheit von der jungen Generation dieser Heimat-Wanderer, die um die eigene Identität kämpft: sprachlich, politisch und sexuell. Für die persönlichen Träume dieser weltumspannenden Generation dekliniert sie das Scheitern an der Realität mit einem faszinierend eigenen Ton wieder neu. Europa wird in diesem Buch größer, es wird aber noch keine Heimat.