Heute haben Werner Bräuning * 1934 und Eva Demski * 1944 Geburtstag und Helene Weigel, Katherine Hepburn, Joseph Beuys ________________________________________
Theodor Körner
Ich denke dein im Morgenlicht des Maien, Im Sonnenglanz; Ich denke dein, wenn mich die Sterne freuen Am Himmelskranz.
Ich sorg‘ um dich, wenn in des Berges Wettern Der Donner lauscht; Du schwebst mir vor, wenn in den dunkeln Blättern Der Zephir rauscht.
Ich höre dich, wenn bei des Abends Gluten Die Lerche schwirrt; Ich denke dein, wenn durch des Deiches Fluten Der Nachen irrt.
Wir sind vereint, uns raubt der Tod vergebens Der Liebe Lust; O, laß mich ruhn, du Sonne meines Lebens, An deiner Brust! ___________________________________
Unser Buchtipp:
Karina Sainz Borgo: „Das dritte Land„ Aus dem Sapnischen von Angelica Ammar S.Fischer Verlag € 24,00
Angustias Romero flieht mit ihrem Mann und ihren beiden sieben Monate alten Zwillinge aus einem ungenannten Land über die Berge, um der Pest zu entkommen. Die Autorin stammt aus Venezuela und es liegt nahe, dass es sich um dieses Land handelt und die Seuche als Metapher für Willkür, Armut und Aussichtlosigkeit steht. Auf diesem 800 km langem Weg ins rettende Nachbarland sind sie, wie so viele andere, auf sich gestellt und Hitze, Staub, Gewalt, Hunger und Durst überleben viele der Geflüchteten nicht. So auch ihre beiden Kinder. An der Grenze unterhält Visitación Salazar einen illegalen Friedhof (Das dritte Land), in dem sie als Totengräberin diesen Gestorbenen einen Ort der Würde gibt. Hier endlich findet Angustias für die toten Zwillinge einen Ort. Sie beschließt, bei ihnen zu bleiben und die Totengräberin in ihrem Kampf zu unterstützen. Die Autorin schont uns beim Lesen nicht, schreibt über die Hoffnungsloskeit vieler Menschen, die nichts ausser ihr eigenes Leben haben und das wird ihnen oft genug von den wechselnden Machthabern, Todesbrigaden und marodirenden Banden zerstört, oder genommen. Hoffnung auf ein freies Leben, Kraft für Veränderungen kommen einzig und allein von Frauen, deren Lebenswille ein Zeichen für mehr Menschlichkeit ist. Ein Roman ohne Raum und Zeit, aber von einer krachenden Aktualität rund um den Globus.
Eine Buchpräsentation in Kooperation mit dem HfG-Archiv Ulm bei uns in der Buchhandlung. Montag, 15.Mai, 19 Uhr
Dorthin gehen, wo die Parallelen sich schneiden Hotel Kleber Post, Die Gruppe 47 in Saulgau Texte & Resonanzen Herausgeberin: Katrin Seglitz osbert+spenza Verlag € 24,00
Heute haben Peter Altenberg * 1859 Agnes Miegel * 1879 Umberto Saba * 1883 Vita Sackville-West * 1892 Marie Cardinal * 1929 Ota Filip * 1930 Keri Hulme * 1947 Geburtstag. Es ist der Todestag von Charles Bukowski. ___________________________________
„Das Leben ist so kurz, und die Menschen verstehen es nicht einmal, sich aus den doch noch bestehenden vierundzwanzig Stunden ein kleines, feines, flüchtiges Paradies zu machen!“ Peter Altenberg ____________________________________
Gestern erschienen:
Gilda Sahebi: „‚Unser Schwert ist Liebe‘„ Die feministische Revolte im Iran S.Fischer Verlag € 24,00
Gilda Sahebi, im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen, ist ausgebildete Ärztin und studierte Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet als freie Journalistin mit den Schwerpunkten Antisemi-tismus und Rassismus, Frauenrechte, Naher Osten und Wissenschaft. Sie ist Autorin für die ‚taz‘ und den ‚Spiegel‘ und arbeitet unter anderem für die ARD. Seit dem Tod von Jina Mahsa Amini und der darauf folgenden Protestbewegung berichtet sie unermüdlich über die Geschehnisse im Iran. Diese aktuellen Berichte finden sich in dieser Neuerscheinung wieder. Fast unerträglich ist es zu lesen, wie das Regime in Iran Menschen auf offener Straße ermordert, Jugendliche erschießt, in Gefängnisse steckt und nach ein paar Tagen behauptet, die Personen hätten Selbstmord begangen. Kaum zu glauben, dass es immer noch zu Protesten kommt, wo doch die Repressalien immer heftiger werden. Gilda Sahebis Buch ist gestern, zum Weltfrauentag, erschienen und sie schreibt: „Was im Iran geschieht, ist feministische Weltgeschichte.“ Gilda Sahebi schreibt, in historischen Rückblicken, wie es dazu kommen konnte, wie der Unterdrückungsapparat seit Jahrzehnten existiert und zum Machterhalt des Regimes dient. Auf Kosten von Freiheit und vieler, vieler Menschenleben.
Gilda Sahebi ist Morgen, Freitag, 10.März, von 14.00 bis 16.30 Uhr im Stadthaus Ulm und hält einen Vortrag genau zu diesem Thema im Rahmen derUlmer Denkanstöße.
Am Samstag, den 11.März ist die Vernissage zur Ausstellung im Haus der Begegnung Ulm.
Ausstellung: „Frau, Leben, Freiheit“
Illustrationen von Demonstrierenden der Revolution im Iran vom 11.3.- 21.4.2023 täglich 9-18 Uhr, Sonntag bis 16 Uhr im Haus der Begegnung
Herzlich willkommen zur Vernissage: Samstag, 11. März um 18.00 Uhr im Haus der Begegnung Bei der Vernissage wird es eine Liveschaltung zu der Künstlerin Naghmeh Jah aus Kanada geben und die Schauspielerin Jasmin Tabatabai spricht per Videobotschaft zur Situation im Iran.
Heute haben Michel de Montaigne * 1533 Johann Beer * 1655 Marcel Pagnol * 1895 Erika Pluhar * 1939 Bodo Morshäuser * 1953 Colum McCann * 1965 Geburtstag ______________________________________________
Winfried Hermann Bauer Strandläufer
Wenn ich über die endlosen Betonwiesen Wandere Wenn ich mich entlang der Kabelkanäle hangle Oder mich unter abwegige Grünbrücken Ducke Wirkt ein Gedanke wie ein Brandbeschleuniger Auf die Feuernester in mir Wie es wohl wäre Von der westlichen Klagemauer zu springen Im Dschungel aufzuschlagen Abseits allen keimfreien Geweses Und mich der Gärsuppe hinzugeben Der Auf-Lösung Als unabdingbaren Voraussetzung einer neuen Ordnung… ______________________________________________
FrühNorma lingsgeschichten, wenn es draussen noch winterlich kalt ist.
In der kleinen, gebundenen Ausgabe ist diese Textauswahl wirklich bestens für die Tasche geeignet. Mal eben kurz warten, in der Straßenbahn 12 Minuten sitzen, oder einfach mal so in der Mittagspause eine Geschichte lesen und dann den Blick schweifen lassen. Es beginnt mit Peter Kurzeck und einem Regentag im März. „Geniesel, Märzregen, Regentage. Und am Abend die Amsel. Alle Tage. Im Regen, in einer Pause des Regens. Alles tropft.“ Aber Kurzeck schreibt auch: „Das Leben ruft. Hell liegt die Erde vor uns. Warum können nicht alle Tage so sein?“ Wir sind mit Stefan Zweig in der Provence, mit Thomas Mann auf dem Zauberberg, mit Kafka in Prag. Zsuzsa Bánk schreibt über einen Ostertag, Oscar Wilde über einen Riesen und Walter Benjamin über den Osterhasen. Die Geschichten von Lew Tolstoi und Iwan Bunin heissen nur „Frühling“. Und so geht es weiter mit Felicitas Hoppe, Judith Hermann, Christoph Ransmayr und vielen Klassikern. „Sei gegrüßt! natürliche Sehnsucht! Sei gegrüßt! Glück! göttliches Glück! und Freuden aller Arten, Blumen und Wein, wenn auch die einen verblühen und der andere berauscht; und Fahrkarten zu einer halben Krone hianus aus London am Sonntag, und in einer dunklen Kapelle Hymnen singen vom Tod, und alles,, was das Klappern der Schreibmaschinen und das Abheften von Briefen und das Schmieden von Gliedern und Ketten, die das Empire zusammenhalten, durchbricht und zur Hölle schickt.“, schreibt Virginia Woolf in ihrem „Orlando“, aus dem hier eine kleine Passage abgedruckt ist.
Viel Vergnügen.
Hier geht es zur Leseprobe. ________________________________________
Am 03. März findet auch bei uns in Ulm der nächste Global Strike statt. Auf dem Global Strike sind diesmal @parentsforfutureulm, @letztegeneration und @jugend.aktiv.in.ulm mit dabei. Wir starten Freitag, den 3. März, um 15 Uhr auf dem Münsterplatz.Lasst uns alle zusammen für eine bessere Klimapolitik auf die Straße gehen.
In den letzten Jahren haben wir mehr bewegt, als viele je gedacht hätten. Es gibt heute eine breite gesellschaftliche Mehrheit für mehr Klimaschutz – doch auf den großen Durchbruch warten wir bis heute. Weder an die Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag noch an das Klimaschutzgesetz hält sich die Politik. Anfang März treffen sich die Ampel-Parteien zum Koalitionsgipfel. Kurz zuvor findet unser Klimastreik statt – auch in Deiner Nähe. Damit er sich auf die richtige Seite stellt, darf Scholz keine Sekunde lang glauben, die Menschen in diesem Land interessieren sich nicht mehr für das Klima. Dafür müssen die Demos wieder richtig groß werden. Gemeinsam machen wir klar: unsere Zukunft darf nicht an einer bockigen Politik scheitern. _________________________________________
Klimakrise in Europa Der nächste viel zu warme Winter In vielen Teilen Europas sind die Winter zu warm: In den Alpen fehlt Schnee und in Frankreich befürchtet man den nächsten Dürresommer. In Deutschland melden Meteorologen den zwölften zu warmen Winter in Folge. Der vergangene Winter hat vielen europäischen Ländern zu wenig Regen und Schnee gebracht, dafür aber zu hohe Temperaturen. In Deutschland melden Meteorologinnen und Meteorologen den zwölften zu warmen Winter in Folge. „Der Klimawandel lässt nicht locker“, sagte Uwe Kirsche vom Deutschen Wetterdienst (DWD). Die durchschnittliche Temperatur lag demnach bei 2,9 Grad – und damit 2,7 Grad über dem Wert der international gültigen Referenzperiode 1961 bis 1990. Es fiel zudem zu wenig Regen.
Gestern Abend im Stadthaus Ulm ________________________________________
Heute haben Daniel Casper von Lohenstein * 1635 William Somerset Maugham * 1874 Virginia Woolf * 1882 Eva Zeller * 1923 Silvio Blatter * 1946 Dzevad Karahasan * 1953 David Grossman * 1954 Alessandro Baricco * 1958 Geburtstag __________________________________________
Jung sein ist Glück und vergeht wie Dunst, jung bleiben ist mehr und ist eine Kunst. Friedrich Theodor Vischer __________________________________________
Jetzt neu als Taschenbuch:
Lana Bastašić: „Fang den Hasen„ Aus dem Bosnischen von Rebekka Zeinzinger Fischer Taschenbuch € 14,00
„Eine europäische Literatur, [die] vollbringt, was hervorragende Literatur vollbringen sollte – uns hoffen lassen, dass sich Wunder erfüllen. Lana Bastašićs Geschichten müssen erzählt werden.“ Saša Stanišić
Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis der Europäischen Union 2020.
Eigentlich wollte ich hier schreiben, wie gut mir der Roman gefallen hat, wie er mich überrascht, überrollt und auf falsche Fährten gebracht hat. Ihnen die vielen tollen Besprechnungen zeigen, die es gab, als der Roman neu erschienen ist. Dann fällt mir auf der Seite des S.Fischer Verlages dieses Interview auf. Na, besser kann ich es doch gar nicht schreiben. Nehmen Sie sich die Zeit. Es lohnt sich.
Roadtrip ins Identitätskuddelmuddel
Lana Bastašić steht ihrer Lektorin Teresa Pütz Rede und Antwort zu ihrem international gefeierten Debütroman „Fang den Hasen“, der Bedeutung weiblicher Solidarität und ihrem Verhältnis zur zersplitterten jugoslawischen Heimat.
Wovon handelt dein Roman, welcher Hase will da gefangen werden – oder eben nicht? Und ohne das Ende vorwegzunehmen, was hat Dürers berühmte Hasenradierung damit zu tun?
An der Oberfläche handelt mein Roman von Lejla und Sara, zwei Kindheitsfreundinnen, die sich nach zwölf Jahren plötzlich wiedersehen und gemeinsam auf einen ziemlich verrückten Roadtrip durch den Balkan bis nach Wien gehen – um Armin zu finden, Lejlas Bruder, der damals in den Kriegswirren verschwand.
Tiefergehend handelt er vom Geschichtenerzählen und Erinnerungen: inwiefern wir eine andere Person und ihr Leben jemals verstehen und beschreiben können, und wie unsere Erinnerungen von ihr anders oder irreführend sein können. Den Hasen zu fangen bedeutet für mich die Suche danach, den anderen zu verstehen. Dürers Hase in der Albertina war dafür eine nützlicher Erzählschluss – der symbolhafte Hase in meinem Roman entwickelt sich von etwas Lebendigem zu etwas Starrem, zur Kunst, und damit zum Unsterblichen.
Mit Lejla und Sara begegnen wir zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, und die trotzdem eine ganz besondere Freundschaft verbindet. Was bedeutet Freundschaft für dich persönlich, insbesondere unter Frauen?
Ich empfinde Freundschaft als etwas sehr Schönes, Komplexes und schwer zu Definierendes. Manchmal sind die Grenzen fließend, so dass es schwierig zu sagen ist, was Freundschaft eigentlich ist. In meinem Buch wollte ich einen Blick auf die Beziehung zwischen zwei Frauen werfen, die manchmal wie eine Freundschaft aussieht und dann wiederum sehr toxisch und zerstörerisch sein kann.
Für mich persönlich sind Frauenfreundschaften in der stark patriarchalischen Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, und die uns gelehrt hat, uns gegenseitig als Konkurrentinnen zu betrachten, immer besonders wichtig gewesen. Ich glaube an weibliche Solidarität und die Praxis der Integration im Gegensatz zum patriarchalischen und kapitalistischen Drang andere zu bekämpfen und auszuschließen.
Wie war es im Bosnien der 90er aufzuwachsen? Warum hast du dein Heimatland verlassen, schreibst aber jetzt darüber – und lässt deine Erzählerin harte Worte dafür finden? An einer Stelle in deinem Roman vergleicht Sara Bosnien mit einer Frau, die von einem Mann vergewaltigt und zurückgelassen wird.
Für uns war es völlig normal, einfach weil wir nichts anderes kannten. Ich darf auch behaupten, dass ich eine privilegierte Kindheit hatte – ich war ein serbisches Mädchen, das in einer Stadt lebte, in der Serben die Mehrheit stellten. Meine Eltern waren zudem Zahnärzte, ich konnte mir Dinge leisten, die manchen meiner Freunde verwehrt blieben. Diese Privilegien wollte ich unter anderem in meinem Roman verdeutlichen. Mir ging es wie Sara, die im Gegensatz zu ihrer Freundin Lejla damals den ›richtigen‹ Nachnamen und die ›richtige‹ Religion hatte. Doch im Unterschied zu meiner Protagonistin habe ich mein Land erst mit 25 Jahren verlassen, um in Barcelona zu leben. Ich ging, weil ich fühlte, dass wenn ich im Nachkriegsbosnien – zerrissen von Nationalismus, Korruption und Hass – bleiben würde, ich zu einer bitteren und zornigen Person werden würde. Und dann wäre ich nicht imstande gewesen zu schreiben. Der jugoslawische Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić hat einmal gesagt: Ein Mann, der nicht hassen kann und sich entscheidet, nicht zu hassen, wird immer ein Fremder in Bosnien sein. Dennoch ist meine Beziehung zu Bosnien nicht so düster, nicht so bitter wie die meiner Erzählerin. Ich kehre immer wieder zurück in meine Heimat, schreibe in meiner Muttersprache. Aber ja, ich musste zuerst aus bosnischen Denkmustern ausbrechen. Ich brauchte die Distanz, um meinen Roman zu schreiben.
Dein Roman erschien zuerst in einer bosnischen und kroatischen Ausgabe. Von dir kursieren ganz unterschiedliche Biographieangaben, die alle versuchen, deine Nationalität und Muttersprache einzukreisen: Jugoslawisch, Bosnisch, Serbisch, Kroatisch, Montenegrinisch, Serbokroatisch? Würdest du für uns etwas Licht ins Dunkel bringen?
Meine Freundin und Schriftstellerin Dubravka Ugrešić sagte einmal zu mir, dass ich »die letzte jugoslawische Autorin« sei. Damit meinte sie, dass ich zu einer jüngeren Generation gehöre, aber mein Hintergrund so kompliziert ist, dass nur dieses allumfassende Adjektiv es festnageln kann: jugoslawisch. Meine Familie war serbisch, aber wie viele Serben lebten wir in Kroatien. Die Sprache ist die gleiche, nur die Religion eine andere.
Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre war der Nationalismus überall auf dem Vormarsch, auch in Kroatien. An Kiosken wurden Dosen verkauft, die »reine kroatische Luft« beinhalten (Ugrešić schreibt darüber in einer ihrer Essays). Mein Vater verlor seine Arbeit und auf uns wurde Druck ausgeübt, Zagreb zu verlassen. Das taten wir dann auch. Wir zogen nach Bosnien, und mein Bruder und ich blieben bei unseren Großeltern auf dem Land, bis unsere Eltern Arbeit fanden. Jeder glaubte, dass das Ganze schnell vorbei gehen würde. Dann aber begann der Krieg und wir blieben in Banja Luka. Nur hatte sich das Blatt jetzt gewendet: plötzlich waren wir die Mehrheit und die nicht-serbische Bevölkerung wurde niedergemetzelt, vergewaltigt und ins Exil geschickt.
Die Sprache, die in Bosnien, Kroatien, Serbien und Montenegro gesprochen wird, wurde ursprünglich einmal als Serbokroatisch bezeichnet. Serbokroatisch haben meine Eltern in der Schule gelernt. Nach dem Zerfall Jugoslawiens und durch den Krieg wollten diese Länder nichts miteinander zu tun haben. Plötzlich wurden Serbisch und Kroatisch zwei unterschiedliche Sprachen. Vielleicht kann man sich das wie Deutsch, Schweizerdeutsch und Österreichisch vorstellen, wenn diese Länder in den Krieg miteinander gezogen wären? Zur gleichen Zeit tauchten zwei neue Sprachen auf, die vorher nicht existiert hatten: Bosnisch und Montenegrinisch. Für einige von uns war das seltsam, wir waren an diese Namen nicht gewöhnt. Im Grunde passierte es also, dass Politik und Nationalismus wichtiger als Sprache und Verstand wurden. Die Wahrheit ist, niemand braucht einen Übersetzer, wenn Menschen aus diesen vier Ländern miteinander sprechen. Aus diesem Grund bevorzuge ich, meine Sprache Serbokroatisch zu nennen, auch wenn ich weiß, dass sie nicht mehr geführt wird – aber sie verdeutlicht mir einfach, dass Sprache keine nationalen Grenzen kennt.
Was bedeutet Heimat für dich als eine Autorin, die ständig unterwegs ist?
Ich habe nur ein Zuhause und das ist die Literatur. Das klingt schmalzig, ist aber wahr. Es ist meine Republik, die ich mit meinen Schriftstellerkolleg*innen teile. Ich sage das nicht, weil ich romantisch bin. Ich sage das, weil ich in einem Land geboren bin, das nicht länger existiert, ich eine Sprache gelernt habe, die nicht länger existiert, und nun habe ich drei verschiedene Nationalitäten. Ich habe also sehr früh verstanden, dass Nationen recht beliebig sind, und dass meine Heimat etwas Größeres sein muss als ein Reihe Koordinaten. Ich bin sehr oft umgezogen und ich reise viel, aber die eine Konstante in meinem Leben, die nie ihre Bedeutung verliert, ist die Literatur.
Welche Bedeutung hat der Literaturpreis der Europäischen Union für dich, mit dem du letztes Jahr ausgezeichnet wurdest? Welche Erfahrungen machst du generell als Autorin im Literaturbetrieb?
Dieser Preis hat mir sehr viel bedeutet, auch weil ich ihn mit zwölf anderen europäischen Preisträgern teile und das Gefühl hatte, zu einer Gemeinschaft zu gehören, die größer ist als die der serbischen und bosnischen Autor*innen. Frauen werden im Balkan kaum ausgezeichnet, oder überhaupt nominiert. Wir müssen dreimal so hart arbeiten und uns und unseren Platz in der Literaturwelt ständig rechtfertigen. Uns lässt man keine mittelmäßigen oder schlechten Bücher durchgehen – wir müssen Meisterwerke schreiben, um einen Platz an der Tafel zu ergattern. Das ist so ungerecht und leider immer noch allzu sehr Realität. Für mich persönlich bedeutete der Literaturpreis und alle Übersetzungen, die daraus folgten, dass ich woanders akzeptiert werden konnte, dass ich jetzt aufstehen kann und sagen: »Ich bin eine Schriftstellerin«. Ich verstehe heute, dass der sexistische Literaturbetrieb, aus dem ich komme, nur ein winziger Teil einer viel größeren, viel offeneren Gemeinschaft ist.
Was möchtest du Leser*innen zum Schluss mit auf dem Weg geben?
Ich wünsche mir, dass sie sich generell für Bosnien und die Literatur des Balkans interessieren. Mir ist bewusst, dass das, was sie bisher aus Bosnien bekommen, immer nur typische Kriegsgeschichten mit Helden, Bösewichten und Opfern sind. Daher hoffe ich, dass mein Roman sie einen Blick auf die Frauen und jungen Mädchen werfen lässt, die in meiner Heimat aufgewachsen sind und die sich von früh an mit diesem Identitätskuddelmuddel auseinandersetzen mussten. Schlussendlich hoffe ich, sie können sich mit dem ganz universellen Thema identifizieren, dass wir stets bemüht sind, unsere Leben in Geschichten zu verwandeln, dass wir alle versuchen, uns auf die eine oder andere Weise unsterblich zu machen.
Die Bundesregierung soll sich wegen mutmaßlichen Verstoßes gegen die gesetzlichen Klimaziele vor Gericht verantworten. Einem Zeitungsbericht zufolge reichte der Bund für Umwelt und Naturschutz in Deutschland Klage gegen die Regierung ein. Er verklagt die Bundesregierung wegen Verfehlung der Klimaziele in den Bereichen Verkehr und Gebäude. Das berichtet unter anderem die „Süddeutsche Zeitung“. Der BUND verlangt in seiner beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eingereichten Klage den Beschluss von Sofortprogrammen, wie sie das Klimaschutzgesetz vorsieht. …
Heute haben Charles Perrault * 1628 Johann Heinrich Pestalozzi * 1746 Jakob Michael Reinhold Lenz * 1751 Jack London * 1876 Daniil Charms * 1905 Alice Miller * 1923 Haruki Murakami * 1949 David Mitchell * 1969 Geburtstag ________________________________________
Jakob Michael Reinhold Lenz Gute Laune
Gute Laune, Lieb und Lachen Soll mich hier Unaufhörlich glücklich machen, Und die ganze Welt mit mir. Auf dem Sammt der Rosen wiegen Sich die Weisen nur allein. Liebe? ist sie nicht Vergnügen? Nur die Treue macht die Pein. ________________________________________
Unser Tip:
Julia Voss: „Hilma af Klint“ S.Fischer Verlag € 32,00
„Jenseits des Sichtbaren“ Hilma af Klint Regie: Halina Dyrschka DVD 2020 € 17,99
Die Kunstgeschichte muss umgeschrieben werden. Diese Äußerung fiel vor ein paar Jahren, als KunstgeschichtlerInnen die schwedische Malerin Hilma af Klint (1862-1944) entdeckten. Aus allen Wolken sei sie gefallen, sagt Julia Voss, dass sie während ihres Kunstgeschichte-Studiums nie diesen Namen gehört hat. Über 1.500 abstrakte Bilder hinterließ die Künstlerin und sie war es, die vor Kandinsky abstrakt malte. Doch niemand nahm dies war. Kunst war und ist immer noch eine Domäne der Männer. Die außergewöhnliche Gedankenwelt der Hilma af Klint reicht dabei von Biologie und Astronomie über Theosophie bis hin zur Relativitätstheorie und umspannt einen faszinierenden Kosmos aus einzigartigen Bildern und Notizen. Vor zwei Jahren erschien bei S.Fischer die Biografie von Julia Voss und jetzt gibt es einen Dokumentarfilm auf DVD.
Heute haben Jakob Grimm * 1785 Gao Cingijan * 1940 Geburtstag und es ist der Todestag von Henri Bergson, Albert Camus, T.S.Eliot, Christopher Isherwood und Aharon Appelfeldt. ____________________________________
T.S.Eliot (1888-1965) Morning at the Window
They are rattling breakfast plates in basement kitchens, And along the trampled edges of the street I am aware of the damp souls of housemaids Sprouting despondently at area gates.
The brown waves of fog toss up to me Twisted faces from the bottom of the street, And tear from a passer-by with muddy skirts An aimless smile that hovers in the air And vanishes along the level of the roofs. _____________________________________
Unser Buchtipp:
Marilynne Robinson: „Jack„ Aus dem Amerikanischen von Uda Strätling S.Fischer Verlag € 26,00 Amerikanisches TB € 13,90
Die 80jährige US-amerikanische Autorin Marilynne Robinson schreibt ihre „Gilead“-Trilogie weiter. Gilead, ein biblisches Land aus dem Alten Testament und eine fiktive Stadt in den USA ist der Ort, aus dem sie ihre Geschichten schreibt. So wie Sherwood Anderson, William Faulkner und auch Elizabeth Strout sammelt die Autorin ihre Figuren an diesem Ort, der sie dann auch nicht mehr loslässt. Angelegt als Trilogie, ausgezeichnet mit dem Pulitzer Preis, taucht Jack wieder auf, der schon in einem Vorgängerroman eine Rolle spielt. Dieser Vorgänger spielt allerdings nach diesem aktuellen. Jack ein Herumtreiber, ein Gefallener, ein Verstoßener. Sein Vater ist Priester und er ist weiß. Er stolpert über Della Miles, eine engagierte schwarze Lehrerin, und es entsteht eine Liebesgeschichte der besonderen Art. Denn in Gilead in Iowa der 50er Jahre herrscht der alltägliche Rassismus. Marilynne Robinson erzählt wieder ein weiteres Stück amerikanische Geschichte. Nicht aus den Metropolen heraus, sondern aus einer Kleinstadt im Irgendwo. Sie schreibt über die Sehnsüchte und Hoffnungen der beiden Protagonisten, über die Schranken und Stolpersteine in den Familien und in der Gesellschaft und über den Begriff Heimat und Zuhause.
Von Leila Boucheligua, Nina Kunze und Lena Schmidt, SWR
Erreger aus Permafrostboden
Es ist nicht der Yeti, der tief im Eis als Gefahr lauert. Einem internationalen Forschungsteam gelang es, Viren, die jahrtausendelang vom Permafrost konserviert waren, zu reaktivieren. Ihre Untersuchungsergebnisse zu sogenannten „Zombieviren“ veröffentlichten sie vor Kurzem in einer Preprint-Studie. Das Team um Jean-Marie Alempic von der Universität Marseille hatte bereits 2014 und 2015 zwei funktionsfähige Viren im Permafrostboden entdeckt. Nun veröffentlichten die Wissenschaftler ihren Forschungsstand zu 13 weiteren, bislang unbekannten Viren aus dem Eis. Doch wie kann es sein, dass Viren, die seit prähistorischen Zeiten inaktiv waren, mehrere tausend Jahre später wieder aktiv werden? Permafrostböden sind wie eine natürliche Kühltruhe, erklärt Guido Grosse, Leiter der Sektion Permafrostforschung am Alfred-Wegener-Institut. Er war daran beteiligt, die Bodenproben aus Sibirien zu gewinnen, die nun in Marseille untersucht wurden. Viele der arktischen Eisschichten bestehen schon seit der letzten Eiszeit. In einigen Regionen könne man sogar noch Überreste von Mammuts finden, erläutert Grosse: nicht nur Knochen, sondern auch konservierte Haare, Fleisch und Blut. Im Gegensatz zu tropischen oder gemäßigten Klimazonen wird das organische Material im gefrorenen Boden nicht zersetzt. Bakterien, die für den Verfallsprozess sorgen, werden erst aktiv, wenn der Permafrost taut. …
Greta Thunberg hat ihr Klima-Buch in Zusammenarbeit mit über hundert Wissenschaftler:innen aus Geophysik, Mathematik, Ozeanographie, Meteorologie, Ökonomie, Psychologie und Philosophie zusammengestellt. Außerdem erzählt sie von ihren eigenen Erfahrungen, die sie sammeln konnte. Davon, wie sie das weltweit praktizierte Greenwashing aufgedeckt und somit gezeigt hat, wie sehr wir alle hinters Licht geführt wurden. Was Greta Thunberg über Lügen und Greenwashing der Regierungen schreibt, können Sie im FREITAG diese Woche auf zwei Seiten nachlesen.
Auf über 500 Seiten durchgehend vierfarbig, mit zahlreichen Fotos, Schaubildern und Graphiken.
Heute haben Hedwig Dohm * 1831 Upton Sinclair * 1878 Joseph Breitbach * 1903 Hanss Cibulka * 1920 Adolf Endler * 1930 Paulus Böhmer * 1936 Javier Marías * 1951 Michael Wildenhain * 1958 Geburtstag _____________________________________
„Gewiß, jeder hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern; das Recht aber, diese Meinung mit der Wahrheit zu identifizieren und für den Andersdenkenden Scheiterhaufen zu errichten, das hat er nicht.“ Hedwig Dohm ______________________________________
Extinction Rebellion in Berlin, 19.9.2022
Unser Buchtipp:
Jens Liljestrand: „Der Anfang von morgen„ Aus dem Schwedischen von: Thorsten Alms, Karoline Hippe, Franziska Hüther, Stefanie Werner S.Fischer Verlag € 24,00
Es brennt. Es brennt wie in Franziska Gänslers Roman „Ewig Sommer“, den wir vor ein paar Tagen hier vorgestellt haben. Die Wälder brennen und es wird danach viele Vermisste und Tote geben. Jens Liljestrand will aber kein Weltuntergangsszenario beschreiben. Er will in seinem Buch die Blickrichtung auf die Menschen richten. Was machen Menschen in so einer Extremsituation? Wie verhalten sie sich? Wie reagieren sie auf andere Menschen in ihrem Umfeld? Liljestarnd lässt dabei vier Menschen zu Wort kommen, die auch von vier Personen übersetzt worden sind. Da ist Didrik, der mit seiner Familie im Herzen Schweden in einer Waldhütte seinen Urlaub verbringt. Zu lange warten sie, bis sich entschließen, aufzubrechen. Dass dann das Auto, durch die Hitze, nicht mehr anspringt, macht die Situation noch gefährlicher. Daneben gibt es noch eine junge Influencerin, den Sohn einer Tennislegende und Didriks älteste Tochter Vilja, die am Ende des Romanes die Zügel in die Hand nimmt. Es sind die Jungen, die sich wehren, die kämpfen, die sich einsetzen und ihr Leben riskieren.
„Ich habe den Roman nicht geschrieben, damit Leute jetzt feststellen, dass es den Klimawandel gibt – das ist bekannt. Was mein Roman kann: helfen, die eigene Gefühlswelt auszudrücken – Verzweiflung oder Wut oder Trauer oder Resilienz. Das kann Kultur. Wir werden den Klimawandel nicht mit Kultur stoppen. Dafür brauchen wir Wissenschaft und Technologie. Aber Kultur lässt Menschen sich selbst und andere erkennen.“
„Der Anfang von morgen“ ist ein prallvoller Roman, über den ich noch seitenlang schreiben könnte, so viele Geschichten sind darin verwoben, in denen es um auch um Liebe und Betrug, politische Engagement und heftige Diskussionen geht. Liljestrand möchte nicht erklären und physikalische Zusammenhänge aufdröseln. Er nimmt uns mittenhinein in ein mögliche Zukunft, die schon Wirklichkeit geworden ist. Wir hören es knistern und knacken, wir spüren die Hitze und das Brüllen der Feuersbrunst und meinen direkt neben den Personen zu stehen.
„Wenn Sie diesen Roman gelesen haben und mehr über den Klimawandel wissen wollen: Lesen Sie keine Romane. Informieren Sie sich lieber darüber, was Ihre Regierungen und Wissenschaftler dazu sagen.“
Gérard Scappini: „Ankunft in der Fremde“ Lesung und Gespräch Eintritt € 8,00
Man könnte Gérard Scappinis Roman „Ankunft in der Fremde“ lesen wie einen Zeitzeugenbericht. Wie sein Protagonist Pascal Napolitana stammt Scappini aus Toulon – und nachdem der Autor in den beiden Vorgängerbänden über Kindheit und Jugend Pascals in der südfranzösischen Stadt geschrieben hat, geht es nun ins Freiburg der Jahre 1966/67, wo der junge Mann, wie damals der Autor selbst, seinen 16-monatigen Militärdienst ableisten muss. In der Tasche hat er einen Gedichtband des Pazifisten Prévert, dafür keinen Schulabschluss, von Deutschland kennt er kaum mehr als „Goethe / Hitler / und Beckenbauer“. Gérard Scappini wurde 1947 in Toulon geboren. 1966 kam er nach Freiburg, um seinen Militärdienst zu absolvieren und blieb danach in Deutschland. Er reiste viele Jahre als Verlagsvertreter durch den Buchhandel.
Heute haben Samuel Pepys * 1633 Wilhelm Grimm * 1786 Erich Kästner * 1899 Elisabth Langgässer * 1899 César Aira * 1949 Geburtstag und es ist der Todestag von John Keats, der am 23.2.1821 in Rom gestorben ist. Er liegt auf dem Nichtkatholischen Friedhof in Rom bei der Pyramide und auf seinem Grabstein stehen die weltberühmte Worte: „Here lies One Whose Name was writ in Water“ __________________________________________
Winfried Hermann Bauer
Stumm Liegt der See Felsen frieren am Ufer Eisschollen starren Gen Himmel Während die Sonne Über den Horizont späht Hineinhorcht Und auf das Seufzen wartet Im Eis Auf mildes Wehen Auf Bersten und Krachen Auf tauende Kanten Und der Welt Erwachen ___________________________________________
Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022
Ein auffälliger Buchumschlag, der zum Hingreifen anregt. (Es ist ein Motiv auf einer russischen Streichholzschachtel, wie Katerina Poladjan gestern auf einem Zoom-Abend des S.Fischer Verlages erzählte) Und das genau empfehle ich auch. Katerina Poladjans neuer Roman erzählt nur von einem Tag in einer Kommunalwohnung im Osten der Sowjetunion. Es ist der 11.März 1985, im Radio läuft Trauermusik, da der Staats- und Parteichef Tschernenko am Vortag verstorben ist. Die Mitbewohner:innen wissen noch nicht, dass Gorbatschow der neue Vorsitzende wird und mit ihm eine neue Zeit beginnt. Auf engem Raum wohnen die unterschiedlichsten Menschen und Familien in dieser umgebauten großbürgerlichen Wohnung. Dort, wo früher eine Familie wohnte, lebt nun in jedem Zimmer eine Familie, die sich die Küche, das Bad und die Toilette teilen. In einem der Zimmer wohnen vier Generationen von Frauen. Warwara, die Großmutter, ist Mitte 60 und arbeitet immer noch aushilfsweise als Hebamme in der städtischen Klinik. Maria ist 45 Jahre alt, lebt getrennt und arbeitet als Museumswärterin. Ihre 20-jährige Tochter Jalka ist seit einiger Zeit selbst Mutter. Sie arbeitet in einer Glühbirnenfabrik Fabrik im Schichtdienst. An diesem Abend möchte sie ein Küchenkonzert in der Kommunalka geben, in der Hoffnung, dadurch der Enge entfliehen zu können, da sich auch ein Musikmanager angekündigt hat. Und es gibt noch Jalkas kleine Tochter, die noch in den Kindergarten geht. Katerina Poladjan erzählt mit viel Humor über diese Lebensgemeinschaft. Eigenwillige Mitbewohner:innen treffen sich in der Küche, in der immer etwas Unbekanntes auf dem Herd köchelt, in der ein Tisch zwei Zentimeter länger, als der andere ist und somit abgesägt werden soll. Es gibt verschlosssene Zimmer, Menschen, die nie jemand zu Gesicht bekommt. Poladjan Sprache ist leicht, verspielt und trifft doch den Punkt genau, so dass wir uns sehr gut die Hoffnungen und die Hoffnungslosigkeit in diesem System, die Sehnsüchte und Verzweiflungen dieser Menschen vorstellen können.
Für mich eines der besten deutschsprachigen Bücher des Frühjahrs und zurecht auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022 im Bereich Literatur.
Heute haben Ludvig Holberg * 1684 Joseph Conrad * 1857 Geburtstag ____________________________________________
„Your strength is just an accident arising from the weakness of others.“ Joseph Conrad aus „Herz der Finsternis“ _____________________________________________
Unser Tipp des Tages:
Thomas von Steinaecker: „Ende offen“ Das Buch der gescheiterten Kunstwerke S.Fischer Verlag € 35,00
Was für ein schönes Buch. Hier stimmt ja alles. Von Scheitern kann in diesem Fall nicht die Rede sein. Obwohl, wenn es ein Flop wird, könnte sich dieses umfangreiche Buch in die lange Reihe der gescheiterten Kunstwerke einreihen. Da hilft nur eins: Kaufen.
Weshalb gibt es von Stanley Kubricks monumentalem Filmvorhaben zu Napoleon nur ein Drehbuch? Warum hört Stockhausens Werkzyklus mit dem seltsamen Titel KLANG bei der 21. Stunde auf? Und wieso schaffte es David Foster Wallace nicht, seinen Roman „Der bleiche König“ zu vollenden? Die Liste der gescheiterten Kunstwerke der Kulturgeschichte ist lang und spektakulär. Und die Gründe für das Scheitern sind so unterschiedlich wie die einzelnen Projekte: Mal war es der Größenwahn des Künstlers, ein anderes Mal fehlte plötzlich das Geld, nicht selten kam ein früher Tod dazwischen. Der Schriftsteller Thomas von Steinaecker erzählt in seinem Buch die außergewöhnlichsten Geschichten hinter dem Scheitern und zeigt, wie einflussreich Ideen sein können, die nur in unserer Fantasie existieren.
Dieses Interview fand ich auf der Seite des S.Fischer Verlages:
Was ist für Dich das Faszinierende am Scheitern in der Kunst?
Dass ein Kunstwerk gelingt und das heißt in erster Linie: dass es überhaupt fertig und veröffentlicht wird, ist ja eher die Ausnahme als die Regel. Das vergisst man immer angesichts unserer Kulturgeschichte, die mit Meisterwerken reich bestückt ist. Was ist aber mit all der Masse von Werken, die nie fertig wurden? Und warum blieben sie unvollendet? Was ist da passiert? Und was bedeutet das überhaupt: scheitern? Das hat ja immer einen sehr negativen Beigeschmack. Es gibt aber halt auch Werke, die sind nicht zu 100% gelungen – und sei es nur, dass sie nie fertig wurden. Aber trotzdem enthalten sie geniale Passagen, die es lohnt, näher anzusehen.
Die Liste der gescheiterten oder unvollendeten Kunstwerke ist lang, wie hast Du entschieden, welche dieser Projekte Du in Deinem Buch behandeln möchtest?
Ich habe mich einerseits vom Kanon leiten lassen, obwohl das heute natürlich ein problematischer Begriff ist. Trotzdem wird es niemanden geben, der die Bedeutung Michelangelos, Beethovens, Kubricks oder Bachmanns in Frage stellt. Was ist also mit diesen Genies? Was hatten sie außer ihren bekannten Meisterwerken noch in der Schublade liegen und warum sind sie damit nicht zu Rande gekommen? Andererseits war ich egoistisch und habe mir Künstler:innen angeschaut, die ich persönlich toll finde, obwohl sie vielleicht eher nischig sind. Den genialen Dilettanten James Hampton zum Beispiel. Oder die Singer-Songwriterin Judee Sill, die vielleicht tragischste Heldin des Rock ’n‘ Rolls.
Du bist selber Schriftsteller, gibt es gescheiterte oder unvollendete Kunstwerke, die Dich als Autor besonders beeinflusst haben?
Mich haben als Jugendlicher die Romane Franz Kafkas beim Schreiben stark beeinflusst. Gerade weil sie alle drei nicht vollendet sind und das natürlich – wie bei jedem unvollendeten Kunstwerk – bei mir ein Kopfkino in Gang gesetzt hat: Wie geht diese Geschichte aus? Davon handelten dann manchmal meine allerersten Texte, was im Nachhinein natürlich ziemlich größenwahnsinnig war, dass ich da einfach Fortsetzungen von »Der Process« und »Das Schloss« geschrieben habe. Aber das Unvollendete der gescheiterten Kunstwerke ist in gewisser Weise auch ein Urknall für die Fantasie.
Das Buch erzählt vom Scheitern unterschiedlichster Kunstwerke im Film bis zur Architektur, gibt es eine Kunstform, bei der das Risiko zu scheitern höher ist als bei anderen und wenn ja, warum?
Ja, ich denke schon. Und zwar weiß ich das aus eigener leidvoller Erfahrung als Regisseur. Beim Fernsehen und besonders beim Kino gibt es so viele unterschiedliche, höchst riskante Faktoren, dass der Friedhof der gescheiterten Filme geradezu unermesslich ist und täglich anwächst. Film ist ja nicht nur – mehr als alle anderen Kunstsparten – Teamarbeit (vom Drehbuch über die Schauspieler:innen, die Kamera und die Regie), wo nur ein Gewerke ausfallen muss und schon explodiert alles, es ist auch die neben der Architektur teuerste Kunst. Und Filmfirmen tendieren ja manchmal dazu, bankrott zu gehen…
Bei all den Projekten, mit denen Du dich beschäftigt hast, gibt es da eines, bei dem Du dir es am meisten wünschen würdest, es wäre vollendet worden?
Da ist die Liste lang. Beethoven zehnte Sinfonie würde mich brennend interessieren. Auch der vierte Satz der 9. Sinfonie Anton Bruckners. Wenn es nach mir ginge, hätte Ludwig II. noch ein paar seiner geplanten Schlösser bauen dürfen. Und natürlich würde man zu gern wissen, wie Charles Dickens‘ »Edwin Drood« oder Jane Austen’s »Sanditon« denn nun ausgegangen wären.
Und andersherum gefragt: Gibt es ein Kunstwerk, bei dem Du dir wünschen würdest, es wäre nie vollendet worden, weil die Realität nicht so spannend ist, wie die Vorstellung davon, was alles möglich gewesen wäre?
Ich freue mich sehr für Brian Wilson, den Kopf der »Beach Boys«, dass er nach sage und schreibe 35 Jahren dann doch noch sein »Smile«-Album fertigstellte. Aber die fünf, sechs Stücke, die es von dem originalen Album aus den 1960ern gibt, haben so eine unglaubliche Strahlkraft, dass die Neuaufnahme mit einem hörbar gealterten Wilson und Originalinstrumenten von damals, denen aber digital nachgeholfen wird, den Eindruck der ursprünglichen Fragmente nachträglich ein bisschen beschädigt.
Häufig scheitern Projekte an den Kosten oder am Tod der Künstler:innen, mittlerweile sind die Produktionskosten in vielen Bereichen geringer und selbst verstorbene Schauspieler:innen sind aufgrund neuester Technik noch in aktuellen Filmen zu sehen. Wird es in Zukunft weniger gescheiterte Kunstwerke geben?
Das Scheitern wird nicht aufhören. Und das ist gut so. Denn gerade, dass etwas nicht gelingt, ist ja oft Anstoß für etwas, das dann doch noch glückt. Wenn auch vielleicht viel später und jemand anderem. Aber auch Ideen, die nicht umgesetzt wurden, weil sie vielleicht zu groß und unrealistisch waren, sind ja ständiger Ansporn, es trotzdem und nun erst recht zu versuchen. Fail again! Fail better! __________________________________________
Thomas von Steinaecker, geboren 1977 in Traunstein, wohnt in Augsburg. Er schreibt vielfach ausgezeichnete Romane – unter anderem »Wallner beginnt zu fliegen« und »Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen« – sowie Hörspiele. Außerdem dreht er Dokumentarfilme, für die er unter anderem den ECHO Klassik erhielt. Für S. Fischer Hundertvierzehn initiierte er das »Mosaik-Roman«-Projekt »Zwei Mädchen im Krieg« und veröffentlichte zusammen mit der Zeichnerin Barbara Yelin den Fortsetzungs-Webcomic »Der Sommer ihres Lebens«. Zuletzt erschien 2016 der Roman »Die Verteidigung des Paradieses«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war.