
Heute haben
Georg Kaiser * 1878
Ba Jin * 1904
Maarten ‚t Hart * 1944
Geburtstag
und es ist der zweite Todestag von Peter Kurzeck.

Leseprobe aus:
Peter Kurzeck: „Oktober und wer wir selbst sind“
Stroemfeld Verlag € 19,90
Fischer Taschenbuch € 9,99
1
Daß also auch dieser wie jeder Sommer, sagst du dir. Mußt du
dir sagen. Wider jede Vernunft. Vergangen. Ein Ende. Aus und
vorbei. Mit rechten Dingen. Wie kann er vorbei sein? Am
Abend Carina ins Bett bringen (jetzt hast du ein Kind) und dann
weiter schreiben. Das Jahr 1983. Im Juni vierzig geworden und
fristgerecht meine Arbeit verloren, eine unersetzliche Halbtags-
stelle in einem Antiquariat, und mit meinem dritten Buch ange-
fangen. Über das Dorf meiner Kindheit. Staufenberg im Kreis
Gießen. Jetzt schreibst du wieder, sagt Sibylle am Abend zu mir.
Du schreibst jeden Tag und dann wirst du bald wieder für drei
Jahre zum Gespenst. Diesmal nicht, sagte ich und gleich kam
mir vor, als ob sie das seit dem Sommer schon jeden Abend zu
mir sagt. Erst noch die späte Sonne ewigkeitsgolden auf den
Fenstern, Dächern und Giebeln, dann in den Abend hinein lan-
ge prunkvolle Dämmerungen in immer tieferen Farben und
jetzt immer länger die Nacht ums Haus. Herbst. Wird jetzt je-
den Tag früher dunkel. Carina ist vier. Vor zwei Wochen ihr
Geburtstag und dann war sie krank. Ohrenschmerzen, Husten,
Fieber, eine Frankfurter Halsentzündung. Naßkalt und jeden
Tag Regen. So früh schon der Herbst? Und kein Nachsommer?
Kein Nachsommer dieses Jahr? Und dann ist Carina wieder ge-
sund und kann alle Bilderbücher auswendig. Nicht nur ihre ei-
genen, auch die aus der Bibliothek. Schon gestern kein Fieber
mehr. Es hat aufgehört zu regnen und am dritten Tag mittags
ziehen wir ihr alle warmen Sachen an, die wir für sie haben.
Strumpfhosen, Wollsocken, eine polizeigrüne Mantelstoffhose.
Von Pascale einen selbstgestrickten bunten Pullover (alle Lieb-
lingsfarben in diesem einen Pullover!). Sind die Schuhe nicht
schon zu klein? Eine dicke rote Bommelmütze wie für eine
Schneeballschlacht in einem Bilderbuch. Und zum erstenmal
nach dem Sommer auch wieder ihren Anorak. Aus dem Second-
handladen. Erst mußten wir die Ärmel umschlagen, so groß.
Und jetzt kann man froh sein, wenn er noch eine Weile paßt.
Grün und ein buntes Zierbörtchen mit einem Indianermuster.
Eher noch ein Eskimomuster. Magische Zeichen. Sibylle eine
rote Cordhose und einen dicken bunten Pullover. Und bückt
sich und bindet Carina von sich einen Schal um. Ein großes indi-
sches Tuch. Blau? Hellblau? Türkis und mit Silberfäden. Damit
man auch an trüben Tagen die Ferne nicht aus den Augen ver-
liert. Und für sich selbst auch so ein indisches Tuch, ein gelbes.
Gelb oder orange? Gelb, aber mit hellroten Kringeln. Eine
Schrift, eine fremde Schrift. Große bunte Tücher und leicht wie
der Wind. Dann an einem türkischen Obststand auf der Leipzi-
ger Straße jeder einen Apfel. Zum Aussuchen. Rot oder gelb
oder grün? Und jetzt haben wir die Farben beisammen für einen
Herbstspaziergang. Jetzt kommt die Sonne durch. Seit Tagen,
seit Wochen zum erstenmal. Eine blasse Herbstmittagssonne.
Und statt am Ende der Leipziger Straße umzukehren, gehen wir
immer weiter. Gehen bis zu dem alten Weg bei den Schrebergär-
ten am Bahndamm.
Pfützen auf dem Weg. Am Bahndamm mannshoch das Gras.
Gras, Rainfarn, Brennesseln, Disteln, Ginster, Hagebutten,
Weißdorn und Schlehen. Und Brombeerhecken. Die letzten
Brombeeren. Die letzten und dann die allerletzten. Der Som-
mer, sagte ich zu Sibylle und Carina, wißt ihr den Sommer
noch? Vor uns her fliegen Vögel auf, kleine Vögel, die schnell
durch die Luft schwirren. Und Elstern am Weg. Halten Abstand
und bleiben doch in unserer Nähe. Wüßten gern, was wir hier
wollen, die Elstern. Den Taunus sieht man und Wolkenschatten
über dem Taunus. Und wenn man sich umdreht – die Stadt. Am
Horizont, als ob sie uns nachkommen will. Vorläufig zum
Stehen gekommen. Wir auch. Am Rand der bewohnten Welt.
Hätten auf diesem Weg auf die Ginnheimer Wiese, hätten an
Ginnheim und Eschersheim vorbei und immer weiter den
Bahndamm entlang gehen können. Masten, Leitungsdraht, Vö-
gel. Die Elstern. Immer wieder S-Bahnen und Eisenbahnzüge
an uns vorbei. Manchmal ein Dröhnen. Die Autobahn, Flug-
zeuge. Bei Bonames Pferdeweiden, die Nidda, ein Teich. Wie
auf einem alten Bild liegt Bonames in den Wiesen. Hinter Har-
heim und Berkersheim Obstgärten, Felder, der Wind. Wieder
Herbst. Und weit weg Kinder. Lassen Drachen steigen. Müssen
rennen im Wind. Rennen mit den Drachen am Rand des Him-
mels entlang. Und lassen sich dann von den Drachen mit in die
Luft ziehen. Hoch hinauf. Bis in die Wolken.
Sollten nicht zu weit, sagt Sibylle. Carinas erster Tag. Lieber
bald umkehren! Wolken ziehen. Wieder die Sonne. Ist eben ein
Zug vorbei? Wir stehen in der Sonne. Auf einmal wie taub.
Umso deutlicher gleich das Bild. Steppengras, Stadtrand- und
Bahndammgestrüpp. Herbstfarben. Alles schwankt, alles weht.
Gelb, braun und schwarz. Von der Zeit und vom Sommer ver-
brannt. Die ganze vernarbte zerschlagene Landschaft, jedes
Blatt, jeder Halm, jeder Stein fängt in der Sonne zaghaft zu lä-
cheln an. Zaghaft, verhärmt und schief und doch wie die Sonne
selbst. So hell ist das Licht, daß wir alle drei blinzeln. Erst blin-
zeln und dann die Augen schmal. Wie Eskimos, wie Mongolen.
Das Gras weht, die Halstücher flattern. Ein Herbstbild. An Ca-
rinas Anorak das Börtchen mit dem Eskimomuster und wie die
Farben leuchten. Als sei die Zeit angehalten! Als ob das Muster
uns etwas sagen will! Und dann unser Heimweg. Zurück in die
Stadt. Die Elstern mit bis zu den ersten Häusern. Vor ein paar
Jahren noch konnte man hinter den Schrebergärten über Wie-
sen, die aussahen, als ob sie keinem gehören. Niemandsland,
Steppe, Prärie. Indianerland für die Kinder von Bockenheim,
Ginnheim und vom Industriehof. Indianerland und zum Ball-
spielen auch. Und damit sie den Taunus sehen und die Jahreszei-
ten. Und stehen und müssen dem Wind und den Zügen nachse-
hen. Den Zügen, den Vögeln, den Wolken nach mit dem Blick.
Und beim Spielen sich heiser schreien wie die Krähen. Und ein
Feuerchen machen, damit sie wissen, wie man ein Feuerchen
macht und Kartoffeln brät in der Asche. Ein Stück Brot, einen
Apfel mit. Und erst in der Dämmerung heim. Heim im Dun-
keln. Sogar bis aus Hausen und Eschersheim sind die Kinder
hierher auf die Wiesen gekommen. Und jetzt sind da Sportplät-
ze. Rasen, Kieswege, Verbotsschilder, Tafeln, Nummern, ein
Tennisplatz, eine Aschenbahn, Flutlicht und Drahtzäune, die
ein Vermögen kosten. Alles zu. Abgeschlossen und unbetretbar.
Und der Wassergraben? Ein Rinnsal, lebendig, ein Bach. Frö-
sche drin. Kaulquappen. Sogar Riedgras und Schilf und Binsen.
Und ist weg. Unauffindbar. Zugeschüttet, erwürgt oder unter-
irdisch. Für immer in einem Kerker.
Auf dem Heimweg noch Milch und Obst kaufen und in die
Zweigstelle der Stadtbibliothek. Neue Bilderbücher für Carina
(sie sucht sie sich selbst aus!). Sehen ob sie in der Bibliothek
nicht endlich die Jahrestage 4 bekommen haben und den dritten
Band von Studs Lonigan von Farrell. Und weil wieder Oktober
ist, die Gedichte von Dylan Thomas glücklich mit heim. Sein
Geburtstagsgedicht. Und am Abend den Tag als Bild. Mit Eifer,
mit Buntstiften. Carina vier Jahre alt. Zwei Wochen nach ihrem
Geburtstag. Der erste Tag, als sie wieder ganz gesund. Alles mit
auf das Bild drauf. Auch nicht die Herbstfelder hinter dem Ho-
rizont vergessen. Feldwege, Böschungen, kleine Straßen zwi-
schen den Autobahnen. Wiesen mit Kühen und Pferden. Die
Kirchtürme von Bonames, von Berkersheim und Bad Vilbel.
Und die Kinder, die mit ihren Drachen hoch durch die Luft
segeln. Sind die Herbstferien schon vorbei? Oder kommen erst
noch, aber sowieso viel zu kurz. Hoch in den Wolken die Kin-
der. Den Main sehen sie, den Rhein und die Donau. Das König-
reich Böhmen. Die Alpen, den Balkan, den Bosporus – und
dahinter das ganze Land bis nach Indien und China. Und ganz
weit hinten chinesische Kinder mit chinesischen Mützen und
chinesischen Drachen. Und haben auch bunte Börtchen an
ihren Jacken. Die auch mit aufs Bild. Carinas rote Bommelmütze – und
mal auch den Wind! Der Wind, der geht schwer. Der Wind und
die Wolken und Wolkenschatten. Muß alles mit auf das Bild.
Abend. Alle Lampen an. Sibylle in Pullover und Strumpfhose.
Beißt in einen Apfel. Gute Äpfel, sagt sie. Könnten noch Brat-
äpfel machen, wenn Carina lang aufbleibt und du nicht gleich
wieder zu schreiben anfängst. Ein Kirschenjahr war es auch,
sagte ich. Herbst, Abend, Nacht ums Haus und die Heizung
summt. Buntstifte. Bleistiftspitzer. Hell das Licht. Carina neben
mir auf dem Sessel. Schon im Schlafanzug (ein Schlafanzug mit
Marienkäfern), schon seit zwei Stunden im Schlafanzug und
kein bißchen müde. Halb auf meinem Schoß.
Schwebt über dem Bild. Und Peta, mal auch das Häschen dazu, sagt sie und hat
zum erstenmal abends keinen Husten mehr. Das Häschen, was
einmal da weggerannt ist, wie wir es noch schnell gesehen haben.
Aber das war doch schon vor Ostern, sagte ich. Ja, sagt sie und
kommt zwecks Überzeugungskraft mit ihrem Gesicht ganz nah
an mein Gesicht. Ja, soll aber trotzdem mit drauf! Mal drei
Häschen, Peta. Und sie sollen aber nicht wegrennen. Sollst sie
malen, wie wenn sie zu uns hingucken alle drei. Wie wenn sie am
liebsten gleich kommen wollen!
…
SINN UND FORM 5/2011, S. 624-633
Schock, Ralph
„Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren“. Gespräch mit Peter Kurzeck
RALPH SCHOCK: Dein Roman „Oktober und wer wir selbst sind“ ist Teil eines großen Erinnerungsprojekts, an dem du seit Jahrzehnten schreibst. Kannst du die Position des Romans in diesem Werk beschreiben?
PETER KURZECK: Es ist der vierte Band und eine Rückblende innerhalb des Erzählten. Die autobiographische Reihe beginnt 1984, und dann erzähle ich rückwärts den vorangegangenen Herbst und Winter. Hier geht es um den Oktober 1983, ein Herbstbuch also.
SCHOCK: Warum hast du diese Zeit, diese zwölf Monate des Jahres 1983/84, zum Zentrum des Mammutprojekts gemacht?
KURZECK: Weil ich glaube, daß man beispielhaft erzählen kann, daß es reicht, eine bestimmte Zeitspanne zu nehmen, um exemplarisch über das eigene Leben oder die Zeit an sich zu sprechen. Die Bücher vor „Übers Eis“, also vor dieser autobiographischen Reihe, spielen in verschiedenen Zeiten: „Kein Frühling“ zum Beispiel in der ersten Nachkriegszeit in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, und „Keiner stirbt“ im Oktober 1959. Ich habe mir vorgenommen, mein Zeitalter aufzuschreiben. Jetzt ist es noch wie eine Landkarte, die erst entsteht, oder ein Puzzle. Da und dort sind schon ein paar Flecken zu erkennen, aber es ist mühsam, sich vorzustellen, was aus dem Ganzen einmal wird. Wenn ich zäh genug weitermache und es mir gelingt, die nächsten Bücher möglichst bald zu beenden, wird man sehen, wie das zu leben anfängt, wie es sich zueinander verhält. Ich habe die nächsten zwei oder drei Bücher schon angefangen, für jedes Hunderte von Manuskriptseiten geschrieben und Hunderte von Seiten mit Notizen vorbereitet. Jetzt komme ich mir vor wie in der Nachkriegszeit, mit acht, als wir kein Geld und keine richtige Wohnung hatten, nur ein Flüchtlingszimmer, einen Gemeinschaftsdachboden und eine Gemeinschaftswaschküche, und aus den Lagern gerade erst heraus und nach Hessen gekommen waren. Wir hatten nur einen geliehenen Küchentisch und eine Küchenlampe mit einer 15-Watt-Birne. Natürlich mußte gespart werden, die wurde nur angemacht, wenn es ganz dunkel war – in der Dämmerung noch lange nicht. Wenn sie aber dann angemacht wurde, gab sie ein schönes trübgoldenes Licht und machte aus dem Raum eine Art Höhle, weil sie die Ecken nicht ausleuchtete. Es war ein Licht wie auf einem Rembrandt. Und ich sehe mich als Acht- oder Zehnjährigen abends am Küchentisch sitzen, unter der geliehenen Lampe am geliehenen Küchentisch, auch die Stühle waren nicht unsere eigenen, und ich habe ein Stück Papier vor mir. Papier war damals etwas Kostbares. Auch heute werde ich beim Schreiben nie den Gedanken los, daß es etwas Kostbares ist und daß man es bevorraten muß, damit man immer welches hat. Und ich sehe mich an diesem Tisch sitzen und mich erst mit Bleistift und dann mit Buntstiften ein Königreich malen, weil wir so arm waren … Ich bin natürlich ein König, sonst wäre die Armut ja nicht auszuhalten gewesen. Und das ist, glaube ich, so etwas wie die Vorwegnahme dessen, was ich jetzt tue, nämlich Bücher zu schreiben, die mein Zeitalter festhalten sollen.
SCHOCK: Dein Königreich wird immer differenzierter, größer, umfassender. Du bist inzwischen dazu übergegangen, Neufassungen von bereits abgeschlossenen Büchern herauszubringen, weil sie dir nicht ausführlich genug erschienen.
KURZECK: Das war eine Ausnahme. Als ich „Kein Frühling“ fertigstellte, hatte ich zweihundert Seiten mehr und wußte nicht, ob sie reingehören oder nicht. Ich war so erschöpft und müde, daß ich nicht mehr in der Lage war, das zu entscheiden. Ich wollte nur, daß der Roman endlich erscheint, um diese Erschöpfung loszuwerden. Solange ein Buch nicht erschienen ist, schleppt man es mit sich herum. Die Arbeit zog sich schon über Jahre hin und nahm mich so in Anspruch, daß ich am Ende kaum mehr denken konnte. Jetzt, genau zwanzig Jahre später, haben wir das Buch in der erweiterten Fassung herausgebracht.
SCHOCK: Du hast erzählt, daß sich aus einem Nebensatz im zwölften Kapitel des „Oktober“-Romans ein neues Riesenprojekt entwickelt hat, dessen Umfang du noch gar nicht absehen kannst. Vor etwa drei Jahren habe ich dich um einen kurzen Text gebeten, und du hast gesagt: Kann ich schon machen, aber das dauert drei Jahre, weil sechshundert Seiten daraus werden.
KURZECK: Auf diese Art Wildnis habe ich nur bedingt Einfluß. Es geht mir damit wie mit der Schönheit. Ich wußte schon als Kind, ich bin ihr verfallen. Ich kann ihr nicht widerstehen, weder in Form eines Lieds noch einer Blume, weder eines Menschen noch eines Hauses, nicht mal eines Lichtflecks oder eines Baums. Dieses Hingerissensein ist auch beängstigend, weil man merkt, es ist stärker als man selbst. Man ist dem ausgeliefert. So ähnlich geht es mir auch beim Schreiben. Gleichzeitig habe ich ein ausgeprägtes Formgefühl, das diesem Wuchern entgegensteht. Das heißt, ich muß eine Kunstform daraus machen, so wie ich auch Umgangssprache, Erinnerung und freies Assoziieren einbeziehe. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht darin, alles erst mal schnell zu Papier zu bringen. Ich schreibe oft ohne Satzzeichen und nur klein, nicht weil ich für Kleinschreibung bin, sondern weil es schneller geht. Auch Schreibfehler korrigiere ich nicht. Manchmal gelingt es mir auf diese Weise, die Arbeit von Wochen an einem Vormittag zu erledigen. Hinterher brauche ich Monate, um es in die Form zu bringen, die mich von der Arbeit erlöst. Sonst kann ich es nicht aus Händen, Kopf und Geist entlassen. Eine andere Art zu arbeiten besteht darin, daß ich zwei oder drei Sätze schreibe oder eher auswendig lerne, beim Gehen, Kaffeetrinken, bei allem was ich tue, und dann sehe, ob ich noch frisch genug bin und vielleicht noch zwei oder drei weitere Sätze hinkriege.
SCHOCK: Diese Sätze bestehen ja oft nur aus wenigen Worten. Du machst ganz kurze Sätze, oft fehlen die Verben. Die braucht man im Grunde auch gar nicht, weil du beim „Vermessen der Zeit“ ein Aufzähler bist, und da stören Verben eher, weil sie einen Vorgang beschreiben. Du sammelst Begriffe wie ein Buchhalter. Wie kommt dieser fast verbfreie Stil zustande?
KURZECK: Ganz verbfrei ist er natürlich nicht, die fehlenden Verben fallen bloß besonders auf – vor allem Kritikern und Deutschlehrern. Das ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit. Ich habe von Kind auf geschrieben, damals hatte ich mit drei Sprachen zu tun. Zunächst mit dem Dialekt meiner Eltern, die aus Böhmen waren und ein böhmisches Österreichisch sprachen, das bei meiner Mutter eher Wienerisch klang. Sie war aus dem Kurort Franzensbad, während mein Vater einen harten Böhmerwalddialekt hatte. Dann bin ich in einem Dorf in Oberhessen aufgewachsen, wo die Menschen mit Fremden nicht reden konnten und auch der Schulunterricht auf Hessisch war. Die Sprache meiner Eltern, die ich zuerst gelernt habe, ging praktisch bis zur Haustür – nicht mal das, nur bis zur Küchentür. Und dann gab es noch die Sprache der Bücher. Ich habe von Kind auf viel gelesen, und diese drei Sprachen zu vereinen ist wohl Teil meiner Arbeit. Eigentlich kann man heute nicht mehr so schreiben wie im neunzehnten Jahrhundert, obwohl das zum Teil immer noch gemacht wird. Für die meisten ist Sprache eine ziemlich hölzerne Angelegenheit, auch für viele Kollegen. Da steht dann bei direkter Rede: Anführungszeichen unten, Anführungszeichen oben, antwortete er zornig oder so. Mir ging es darum, eine Sprache zu finden, in der nicht ständig zwischen innen und außen unterschieden wird, in der man es nicht nötig hat, einen antiquierten inneren Monolog kursiv zu setzen und obendrein zu unterbrechen, sondern in einem einzigen Satz nachvollziehen kann, was jemand wahrnimmt und denkt – so wie er selbst es formulieren würde. Ich wollte der Sprache die Lebendigkeit geben, die sie im Alltag hat. Zum Beispiel wenn ich in eine Kneipe gehe oder am Bahnhof ankomme und der Bahnhof ist nicht mehr da, weil er umgebaut wird, wie jetzt gerade in Saarbrücken. Oder wie das, was ein Taxifahrer mir erzählt, während wir unterwegs sind. Ich sehe, ob er die Uhr eingeschaltet hat, aus dem Lautsprecher schnarrt die Zentrale, die Straße fängt an zu fahren, man sieht, daß am Stadtrand ein ganzes Industriegebiet umgebaut wird, daß etwas Neues entsteht. Und ich versuche das alles zusammenzubringen: die Umgangssprache des Taxifahrers, das, was sie bei mir hervorruft, was ich ihm antworte, die Erinnerung an ein anderes Gespräch, das ich vor vierzig Jahren in Stockholm geführt habe. Die Erinnerung wird man ja nicht los, für den Schriftsteller ist sie eine Art Werkzeug. Und weil man sie als Arbeitsmittel benutzt, geht man anders mit ihr um. Man weiß schon im voraus: Das wirst du irgendwann brauchen. Man richtet sein Leben so ein, daß man sich später gut erinnern kann.
…