Montag

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Heute haben
Jonathan Swift * 1667
Theodor Mommsen * 1817
Ippolito Nievo * 1831
Mark Twain * 1835
Winston Churchill * 1874
Thomas Hettche * 1964
Geburtstag.
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Heute, am letzten Tag im November, stellen wir Ihnen den Dezember-Gedichtband aus dem Reclam Verlag vor, so dass Sie gut gerüstet in den neuen Monat starten können.

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“Dezember”

Gedichte ausgewählt von Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell
Reclam Verlag € 5,00

Jetzt haben wir das Jahr voll. Voll mit Gedichten für jeden Monat.
Wenn Sie alle Monate in einem Band wollen, wird es schwierig.
Aber Sie bekommen alle zwölf Heftchen im Schuber für € 48,00 und
sparen somit fast 45 Tage.

Erwartungsvoller Auftakt samt Nikolaus
Schneefall im Advent
Traurig-schöne Dezembertage
Christnacht – damals und heute
Weihnachtsfeiern vielerorts
Das Jahr klingt aus
heissen die Kapitelüberschriften und die Herausgeberinnen kommen mal
wieder ohne Goethe aus.
Es geht! Und wie!!

Christian Morgenstern
Winternacht

Es war einmal eine Glocke,
die machte baum, baum.
Und es war einmal eine Flocke,
die fiel dazu wie im Traum.

Die fiel dazu wie im Traum …
Die sank so leis hernieder
wie ein Stück Engleingefieder
Aus dem silbernen Sternenraum.

Es war einmal eine Glocke,
die machte baum, baum.
und dazu fiel eine Flocke,
so leise wie im Traum.

So leis als wie ein Traum.
Und als viertausend gefallen leis,
da war die ganze Erde weiß,
als wie von Engleinflaum.

Da war die ganze Erde weiß,
als wie von Engleinflaum.

Matthias Claudius
Ein Lied vom Reifen

Seht meine lieben Bäume an,
Wie sie so herrlich stehn,
Auf allen Zweigen angetan
Mit Reifen wunderschön!

Von unten an bis oben ‘naus
Auf allen Zweigelein
Hängt’s weiß und zierlich, zart und kraus,
Und kann nicht schöner sein;

Und alle Bäume rundumher
All alle weit und breit
Stehn da, geschmückt mit gleicher Ehr,
In gleicher Herrlichkeit.

Rainer Maria Rilke

Die hohen Tannen atmen heiser
im Winterschnee, und bauschiger
schmiegt sich sein Glanz um alle Reiser.
Die weißen Wege werden leiser,
die trauten Stuben lauschiger.

Da singt die Uhr, die Kinder zittern:
im grünen Ofen kracht ein Scheit
und stürzt in lichten Lohgewittern, –
und draußen wächst im Flockenflittern
der weiße Tag zu Ewigkeit.
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Ungereimtheit der Woche von Werner Färber
(oder: Anreger der Woche*)

Ein Einhorn

Ein Gnu verliert im Lauf des Streites
sein eines Horn – doch nicht sein zweites.
Somit bleibt am Kopf zurück
das andre Horn als Einzelstück
Weil’s ab sofort ein Einhorn ist,
das Gnu sein Horn nicht sehr vermisst.
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Nicht vergessen:
Morgen ist nicht nur der 1.Dezember und wir dürfen ein Türle aufmachen, sondern gleichzeitig auch der erste Dienstag im Monat und somit Zeit für die „Erste Seite„.
Diesmal geben wir Last Minute Buchtipps, Clemens Grote liest aus zwei Buchhandelsgeschichte und Peter Kurzeck erzählt über das kleine Wunder eines Bücherbusses.
Wir beginnen pünktlich um 19 Uhr.
Der Eintritt ist frei.

Sonntagsskizzen (12)

Sonntagsskizzen von Detlef Surrey
Von Detlef Surrey

Skizzen vom Aktsalon am Montagabend

Zwischen fünf und fünfzehn Zeichnerinnen und Zeichnern treffen sich des Montagabends in einer Atelieretage im Berliner Wedding. Für Modell, Kekse und Getränke ist gesorgt, Zeichenmaterial bringt jeder selbst…

Skizzen aus meinem Block von verschiedenen Sessions.

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Aktsalon Wedding, Montagabend 21:00 – 23:00 Uhr. 10 €/Teilnehmer. Gerichtstrasse 23, Hof 3, Aufgang 2, Etage 3, 13347 Berlin, S+U Wedding, S Humboldthain, ℅ Malte Hassenstein, Kontakt 030-95997814, malte.hassenstein@sehrnetz.de

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Detlef Surrey ist Illustrator und Comiczeichner in Berlin.

Skizzen: skizzenblog.surrey.de 
Blog:  detlefsurrey.de
Web:  www.surrey.de

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Sonntagsskizzen Rückblick:

-> Sonntagsskizzen 11 – Rom Pitigliano Skizzen II
-> Sonntagsskizzen 10 – Paris „Nous sommes tous unies!“
-> Sonntagsskizzen  9 – Rom Skizzen
-> Sonntagsskizzen  8 – Dr. Sketchy´s Berlin
-> Sonntagsskizzen  7 – Skizzenfestival Stralsund
-> Sonntagsskizzen  6 – Lesung OL im Literaturhaus
-> Sonntagsskizzen  5 – Konzert Hunting Islands
-> Sonntagsskizzen  4 – Das Reichstagsgebäude und „Karlchen Adler“
-> Sonntagsskizzen  3 – Holzmühle in Vogt
-> Sonntagsskizzen  2 – Literaturfestival Berlin
-> Sonntagsskizzen  1 – Skizzen vom Urban Sketchers Treffen in Darmstadt

Samstag

Heute haben
William Blake * 1757
Alexander Blok * 1880
Stefan Zweig * 1881
Alberto Moravia * 1907
Geburtstag

William Blake

Never seek to tell thy love,
Love that never told can be;
For the gentle wind does move
Silently, invisibly.

I told my love, I told my love,
I told her all my heart;
Trembling, cold, in ghastly fears,
Ah! she did depart!

Soon as she was gone from me,
A traveler came by,
Silently, invisibly
He took her with a sigh.
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EinSommer am See“ wurde von einer ausgewählten Fachjury des Tagesspiegels als bester Comic des Jahres gekührt.

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Jillian Tamaki, Mariko Tamaki: „Ein Sommer am See
Aus dem Englischen von Tina Hohl
Handlettering von Michael Hau
Reprodukt Verlag € 29,00

Rose verbringt jeden Sommer mit ihren Eltern die Ferien am See. Dort steht ein kleines Holzhaus, die Zimmer sind hergerichtet vom letzten Jahr und Rose freut sich auf das Treffen mit Windy, ihre eineinhalb Jahre jüngere Freundin. Alles soll wie immer werden. Baden im See, grillen am Strand, faulsein, lesen, rumhängen.
Doch in diesem Sommer wird es anders. Rose ist kein Kind mehr, aber auch noch lange keine Frau. Ihre Mutter hat sich immer mehr in sich zurückgezogen, die Eltern streiten sich. Sie trägt die Trauer um ein weiteres Kind in sich, das sie nie bekommen wird. Dies ist Rose jedoch noch nicht klar und so ist Windy für sie wie ein kleine Schwester. Aber so unbedarft ist die Kleine auch nicht mehr. Als die Beiden am Strand liegen, unterhalten sie sich über ihre Brüste, Titten, Möpse. Wie gross sie wohl werden und ab wann sie einen BH brauchen. Sie sind große Kinder und doch schnuppern sie in die Welt der Erwachsenen, die sie aber noch nicht verstehen. Warum ist Roses Mutter so traurig, warum die Grossmutter von Windy so komisch? Doch dies alles belastet die Beiden nicht. Sie genießen ihre Tage, schwimmen, gehen einkaufen und leihen sich DVDs aus, die eigentlich nichts für sind. In diesem Tante Emma Laden, bekommen sie von einem Jungen, der dort im Sommer arbeitet, Filme ausgeliehen, die erst ab 16 oder 18 sind. Kettensägenmasacker und andere Horrofilme gilt es gemeinsam anzuschauen. Es ist ein Zeichen von Erwachsenensein, dies auszuhalten.
Rose verliebt sich in diesen Jungen, der sie jedoch nicht bemerkt. Die Beiden tauchen immer wieder in diesem Laden auf, registrieren das Gerede dieser älteren Jungs und deren Verhältnis zu Mädchen. Das Worte Schlampe taucht auf, das die beiden Mädchen auch sofort übernehmen. Sie bemerken, dass es um eine ungewollte Schwangerschaft in dieser Clique geht. Um Liebe, Sex, Verzweiflung.
Verzweifelt sind auch die Eltern von Rose, da sie sich nicht mehr nahekommen können. Zu groß ist der Verlust des nicht gekommenen Kindes.
Mariko Tamaki und ihre Cousine Jilian Tamaki haben einen großartigen Coming of Age Roman geschrieben und gezeichnet. Die Bilder ergänzen den Text, erweitern ihn und führen Details aus, die in der knappen Sprache nicht vorkommen. Gedanken, Erinnerungen und Träume tauchen auf, die im Text nicht zu finden sind.
Das dicke Buch ist für alle Leser und Leserinnen, auch wenn sie sich bisher nicht mit Graphic Novels beschäftigt haben. Sie werden das Buch sicherlich immer wieder in die Hand nehmen, darin blättern und Dinge entdecken, die Ihnen beim ersten Durchlesen nicht aufgefallen sind. Zu recht wird er mit Preisen überhäuft.

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Interview mit Mariko Tamaki
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Morgen gibt es den 12.Teil der Sonntagsskizzen von Detlef Surrey.
Skizzen vom Aktsalon am Montagabend

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Freitag

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Heute haben
Georg Forster * 1754(den hatte der Arche Kalender gestern drin)
Pedro Salinas * 1892
Ludwig Fels * 1946
Geburtstag
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Unser Buchtipp für die Manteltasche:

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„Der schönste Ort der Welt“
Von Menschen in Buchhandlungen
Herausgegeben von Martha Schoknecht
Diogenes Verlag € 5,00

Wie in den letzten Jahren schon, veröffentlicht der Diogenes Verlag im späten Herbst eine Anthologie im kleinen Format, das prima in jede Hand- und/oder Manteltasche passt.
Dieses Mal geht es um Buchhandlungen, um die Menschen, die darin arbeiten und die Menschen die sich als Kunden darin aufhalten. Dass es für viele wirklich ein ganz besonderer Ort ist, zeigt sich auch bei uns, wenn wir sehen, wieviel Kunden bei uns den „Buchgenuss nach Ladenschluss“ in Anspruch nehmen. Die Möglichkeit, sich abends für ein paar Stunden ungestört mit seinen Freunden in der Buchhandlung aufhalten zu können.
Martha Schoknecht hat natürlich das Diogenes Archiv geplündert und Autoren wie Urs Widmer, der etwas zum Vorwort beiträgt, Ingrid Noll, Otto Jägersberg und Martin Suter mit aufgenommen. Suters Ausschnitt aus dem Roman „Lila Lila“ hat sich bei mir eingeprägt und ich habe ihn seit meiner Lektüre vor Jahren nicht mehr vergessen. Eine Lesung in einer kleinen Buchhandlung hat Suter so genau aufnotiert, wie ich es schon so viele Male erlebt habe. Petra Hartlieb kommt gleich zweimal darin vor. Einmal als Krimiautorin und einmal als neue Besitzerin einer Buchhandlung in Wien, die ihr erstes Weihnachtsgeschäft erlebt und überlebt. Ja, genau so kenne ich das auch.
George Orwell, Gustave Flaubert und Mark Twain sind ebenso vertreten, wie die skandinawische Journalistin Arne Seierstad, von der wir einen kleinen Auszug aus ihrem sehr guten Buch „Der Buchhändler aus Kabul“ lesen können. Patricia Highsmith, Claire Beyer und einige andere Autoren runden das Buch wunderbar ab, bis zum Schluss noch Lauren Leto „Zehn Tipps für das Anbandeln in Buchhandlungen“ gibt. Da bin ich aber gespannt, wer sich das bei uns im Laden zu Herzen nimmt.
Der einigartige Briefwechel zwischen der englischen Buchhändlerin Helene Hanff „84, Charing Cross Road“ gibt es ganz neu als Taschenbuch und Madge Jenisons Aufzeichnungen aus ihrem Buchladen in Manhattan „Sunwise Turn“ kennen wir zum Teil, da wir daraus eine Jahresgabe gemacht hatten.
Damit nicht genug, gibt es auch noch Illustrationen u.a. von Bosc, Degas, Paul Flora, Edward Gorey, Nikolaus Heidelbach, Loriot, Sempé.
Aber auch mit dieser Information lasse ich Sie noch nicht von diesem Büchle los.

Am kommenden Dienstag, den 1.Dezember gibt es wieder eine „Erste Seite“ bei uns in der Buchhandlung. Clemens Grote wird uns zwei der Geschichten aus dem Buch vortragen. Welche, das verrate ich noch nicht. Dazu gibt es unsere neue Jahresgabe, ein Text von Joseph Mitchell, und viele Buchtipps für jung und alt, die Rasmus Schöll und ich hochhalten werden.
Wer weiss, ob Clemens Grote noch etwas Weihnachtliches auf der Pfanne hat.

„Die erste Seite“
Dienstag, den 1.Dezemeber ab 19 Uhr
Der Eintritt ist kostenlos.

Donnerstag

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Heute haben
Georg Forster * 1754
Franz Jung * 1888
Eugène Ionesco * 1909
Geburtstag

Unser heutiger Buchtipp:

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Matthew Quick:Goodbye Bellmont
Im OtiginalBoy21€ 10,99
Aus dem Englischen von Knut Krüger
dtv, gebunden, € 16,95
Jugendbuch ab 14 Jahren

Matthew Quick kannte ich bisher nur von seiner Romanvorlage „Silber Linings“ für den gleichnamigen Film, der für sieben Oscars nominiert wurde und einen bekam. Seine Bücher habe ich nicht gelesen. Nun liegt dieses Jugendbuch auf unserem Neuerscheinungstisch und ich habe gar nicht kapiert, dass es er selbe Autor ist. Umso besser.
Wieder befinden wir uns in einer ungenannten, gesichtslosen Stadt in den USA. Wieder spielt es im irischen Mileu, in einer Fmilie, die immer noch von ihren irischen Wurzeln geprägt ist. Sowohl im Film, als auch in diesem Buch sind die beiden Protagonisten traumatisiert. Finley, der Junge aus „Goodbye Bellmont“, das im Original „Boy21“ heißt, lebt mit seinem Vater und Großvater zusammen. Der Vater arbeitet nachts an einer Autobahnmautstelle, Pop, sein Großvater sitzt im Rollstuhl, hat beide Beine verloren und immer eine Flasche Bier in der Hand. Eine Mutter gibt es nicht mehr. Warum? Das erfahren wir später. Finley spricht nicht darüber, fragt nicht und es ist auch kein Thema innerhalb dieser Männergemeinschaft. Finley spielt Basketball und dieser Sport gibt ihm Kraft, Mut und vielleicht auch die Chance ein Stipendium zu bekommen. Raus aus der Stadt, die nicht gerade Fröhlichkeit ausstrahlt. Finley ist der einize Weiße in seiner Mannschaft. Er ist Kapitän, wird trotzdem von seinen Jungs als White Rabbit bezeichnet. An seiner Seite steht Erin, ein Mädchen, das sich vor Jahren einfach in sein Basketball eingemischt hat und mittlerweile Finleys Freundin ist. Sie redet, sie macht, sie organisiert, nimmt das Leben in die Hand. Finley ist der Schweiger. Beide haben den gleichen Basketballtraum, beide stehen in der Starting Five der Schulmannschaft.
Als der Coach Finley zur Seite nimmt und ihm mitteilt, dass er sich um einen Jungen kümmern soll, dessen Eltern ermordet worden sind, ändert sich der gewohnte Tagesablauf für Finley extrem. Russ Allen ist anders. Er ist zwar genauso verschlossen wie Finley, aber er glaubt von einem anderen Stern zu sein. Seine Eltern sind weg und würden ihn demnächst mit einem Raumschiff abholen. Es ist Russ‘ Art, mit seinem Trauma fertig zu werden. Trotz dieses Zustandes, der Finley sehr fremd ist, beginnt eine zarte Freundschaft zwischen den beiden. Eine Freundschaft, die Finley seinen Startplatz in der Basketballmannschaft kosten könnte. Denn der Coach weiss, dass Russ ein begnadeter Spieler ist, nach dem Tod seiner Eltern jedoch keinen Ball mehr angefasst hat. Über Finley möchte der Trainer, dass er wieder spielt und Punkte für die Mannschaft sammelt.
Soweit die erste Hälte des Buches. Mehr mag ich nicht verraten. Vielleicht liest ja gerade jemand darin und befindet sich auf Seite 140.
„Goodbye Bellmont“ ist ein Jugendbuch, das sich sehr zart mit Freundschaft, Liebe, Vertrauen, Gewalt, Anderssein auseinandersetzt. Was machen wir mit unseren großen Träumen? Können wir es mit eigener Kraft schaffen, sie zu erfüllen? Wie wichtig ist uns Freundschaft, Liebe, Zuneigung?
Matthew Quick hat (in der Übersetzung von Knut Krüger) Sätze geschrieben, die ich dauernd hätte unterstreichen können. Für „Goodbye Bellmont“ braucht man kein Basketballfan zu sein. Der Sport dient dem Autor als Transportmittel für seine wirkliche Anliegen und das ist ihm mehr als gelungen.

https://www.youtube.com/watch?v=iBbbaUgGQZk

Interview mit dem Autor über seine Romane
https://www.youtube.com/watch?v=Z50jiOz9esU

Mittwoch

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Heute haben
Georg Kaiser * 1878
Ba Jin * 1904
Maarten ‚t Hart * 1944
Geburtstag
und es ist der zweite Todestag von Peter Kurzeck.

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Leseprobe aus:
Peter Kurzeck: „Oktober und wer wir selbst sind“

Stroemfeld Verlag € 19,90
Fischer Taschenbuch
€ 9,99

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Daß also auch dieser wie jeder Sommer, sagst du dir. Mußt du
dir sagen. Wider jede Vernunft. Vergangen. Ein Ende. Aus und
vorbei. Mit rechten Dingen. Wie kann er vorbei sein? Am
Abend Carina ins Bett bringen (jetzt hast du ein Kind) und dann
weiter schreiben. Das Jahr 1983. Im Juni vierzig geworden und
fristgerecht meine Arbeit verloren, eine unersetzliche Halbtags-
stelle in einem Antiquariat, und mit meinem dritten Buch ange-
fangen. Über das Dorf meiner Kindheit. Staufenberg im Kreis
Gießen. Jetzt schreibst du wieder, sagt Sibylle am Abend zu mir.
Du schreibst jeden Tag und dann wirst du bald wieder für drei
Jahre zum Gespenst. Diesmal nicht, sagte ich und gleich kam
mir vor, als ob sie das seit dem Sommer schon jeden Abend zu
mir sagt. Erst noch die späte Sonne ewigkeitsgolden auf den
Fenstern, Dächern und Giebeln, dann in den Abend hinein lan-
ge prunkvolle Dämmerungen in immer tieferen Farben und
jetzt immer länger die Nacht ums Haus. Herbst. Wird jetzt je-
den Tag früher dunkel. Carina ist vier. Vor zwei Wochen ihr
Geburtstag und dann war sie krank. Ohrenschmerzen, Husten,
Fieber, eine Frankfurter Halsentzündung. Naßkalt und jeden
Tag Regen. So früh schon der Herbst? Und kein Nachsommer?
Kein Nachsommer dieses Jahr? Und dann ist Carina wieder ge-
sund und kann alle Bilderbücher auswendig. Nicht nur ihre ei-
genen, auch die aus der Bibliothek. Schon gestern kein Fieber
mehr. Es hat aufgehört zu regnen und am dritten Tag mittags
ziehen wir ihr alle warmen Sachen an, die wir für sie haben.
Strumpfhosen, Wollsocken, eine polizeigrüne Mantelstoffhose.
Von Pascale einen selbstgestrickten bunten Pullover (alle Lieb-
lingsfarben in diesem einen Pullover!). Sind die Schuhe nicht
schon zu klein? Eine dicke rote Bommelmütze wie für eine
Schneeballschlacht in einem Bilderbuch. Und zum erstenmal
nach dem Sommer auch wieder ihren Anorak. Aus dem Second-
handladen. Erst mußten wir die Ärmel umschlagen, so groß.
Und jetzt kann man froh sein, wenn er noch eine Weile paßt.
Grün und ein buntes Zierbörtchen mit einem Indianermuster.
Eher noch ein Eskimomuster. Magische Zeichen. Sibylle eine
rote Cordhose und einen dicken bunten Pullover. Und bückt
sich und bindet Carina von sich einen Schal um. Ein großes indi-
sches Tuch. Blau? Hellblau? Türkis und mit Silberfäden. Damit
man auch an trüben Tagen die Ferne nicht aus den Augen ver-
liert. Und für sich selbst auch so ein indisches Tuch, ein gelbes.
Gelb oder orange? Gelb, aber mit hellroten Kringeln. Eine
Schrift, eine fremde Schrift. Große bunte Tücher und leicht wie
der Wind. Dann an einem türkischen Obststand auf der Leipzi-
ger Straße jeder einen Apfel. Zum Aussuchen. Rot oder gelb
oder grün? Und jetzt haben wir die Farben beisammen für einen
Herbstspaziergang. Jetzt kommt die Sonne durch. Seit Tagen,
seit Wochen zum erstenmal. Eine blasse Herbstmittagssonne.
Und statt am Ende der Leipziger Straße umzukehren, gehen wir
immer weiter. Gehen bis zu dem alten Weg bei den Schrebergär-
ten am Bahndamm.
Pfützen auf dem Weg. Am Bahndamm mannshoch das Gras.
Gras, Rainfarn, Brennesseln, Disteln, Ginster, Hagebutten,
Weißdorn und Schlehen. Und Brombeerhecken. Die letzten
Brombeeren. Die letzten und dann die allerletzten. Der Som-
mer, sagte ich zu Sibylle und Carina, wißt ihr den Sommer
noch? Vor uns her fliegen Vögel auf, kleine Vögel, die schnell
durch die Luft schwirren. Und Elstern am Weg. Halten Abstand
und bleiben doch in unserer Nähe. Wüßten gern, was wir hier
wollen, die Elstern. Den Taunus sieht man und Wolkenschatten
über dem Taunus. Und wenn man sich umdreht – die Stadt. Am
Horizont, als ob sie uns nachkommen will. Vorläufig zum
Stehen gekommen. Wir auch. Am Rand der bewohnten Welt.
Hätten auf diesem Weg auf die Ginnheimer Wiese, hätten an
Ginnheim und Eschersheim vorbei und immer weiter den
Bahndamm entlang gehen können. Masten, Leitungsdraht, Vö-
gel. Die Elstern. Immer wieder S-Bahnen und Eisenbahnzüge
an uns vorbei. Manchmal ein Dröhnen. Die Autobahn, Flug-
zeuge. Bei Bonames Pferdeweiden, die Nidda, ein Teich. Wie
auf einem alten Bild liegt Bonames in den Wiesen. Hinter Har-
heim und Berkersheim Obstgärten, Felder, der Wind. Wieder
Herbst. Und weit weg Kinder. Lassen Drachen steigen. Müssen
rennen im Wind. Rennen mit den Drachen am Rand des Him-
mels entlang. Und lassen sich dann von den Drachen mit in die
Luft ziehen. Hoch hinauf. Bis in die Wolken.
Sollten nicht zu weit, sagt Sibylle. Carinas erster Tag. Lieber
bald umkehren! Wolken ziehen. Wieder die Sonne. Ist eben ein
Zug vorbei? Wir stehen in der Sonne. Auf einmal wie taub.
Umso deutlicher gleich das Bild. Steppengras, Stadtrand- und
Bahndammgestrüpp. Herbstfarben. Alles schwankt, alles weht.
Gelb, braun und schwarz. Von der Zeit und vom Sommer ver-
brannt. Die ganze vernarbte zerschlagene Landschaft, jedes
Blatt, jeder Halm, jeder Stein fängt in der Sonne zaghaft zu lä-
cheln an. Zaghaft, verhärmt und schief und doch wie die Sonne
selbst. So hell ist das Licht, daß wir alle drei blinzeln. Erst blin-
zeln und dann die Augen schmal. Wie Eskimos, wie Mongolen.
Das Gras weht, die Halstücher flattern. Ein Herbstbild. An Ca-
rinas Anorak das Börtchen mit dem Eskimomuster und wie die
Farben leuchten. Als sei die Zeit angehalten! Als ob das Muster
uns etwas sagen will! Und dann unser Heimweg. Zurück in die
Stadt. Die Elstern mit bis zu den ersten Häusern. Vor ein paar
Jahren noch konnte man hinter den Schrebergärten über Wie-
sen, die aussahen, als ob sie keinem gehören. Niemandsland,
Steppe, Prärie. Indianerland für die Kinder von Bockenheim,
Ginnheim und vom Industriehof. Indianerland und zum Ball-
spielen auch. Und damit sie den Taunus sehen und die Jahreszei-
ten. Und stehen und müssen dem Wind und den Zügen nachse-
hen. Den Zügen, den Vögeln, den Wolken nach mit dem Blick.
Und beim Spielen sich heiser schreien wie die Krähen. Und ein
Feuerchen machen, damit sie wissen, wie man ein Feuerchen
macht und Kartoffeln brät in der Asche. Ein Stück Brot, einen
Apfel mit. Und erst in der Dämmerung heim. Heim im Dun-
keln. Sogar bis aus Hausen und Eschersheim sind die Kinder
hierher auf die Wiesen gekommen. Und jetzt sind da Sportplät-
ze. Rasen, Kieswege, Verbotsschilder, Tafeln, Nummern, ein
Tennisplatz, eine Aschenbahn, Flutlicht und Drahtzäune, die
ein Vermögen kosten. Alles zu. Abgeschlossen und unbetretbar.
Und der Wassergraben? Ein Rinnsal, lebendig, ein Bach. Frö-
sche drin. Kaulquappen. Sogar Riedgras und Schilf und Binsen.
Und ist weg. Unauffindbar. Zugeschüttet, erwürgt oder unter-
irdisch. Für immer in einem Kerker.
Auf dem Heimweg noch Milch und Obst kaufen und in die
Zweigstelle der Stadtbibliothek. Neue Bilderbücher für Carina
(sie sucht sie sich selbst aus!). Sehen ob sie in der Bibliothek
nicht endlich die Jahrestage 4 bekommen haben und den dritten
Band von Studs Lonigan von Farrell. Und weil wieder Oktober
ist, die Gedichte von Dylan Thomas glücklich mit heim. Sein
Geburtstagsgedicht. Und am Abend den Tag als Bild. Mit Eifer,
mit Buntstiften. Carina vier Jahre alt. Zwei Wochen nach ihrem
Geburtstag. Der erste Tag, als sie wieder ganz gesund. Alles mit
auf das Bild drauf. Auch nicht die Herbstfelder hinter dem Ho-
rizont vergessen. Feldwege, Böschungen, kleine Straßen zwi-
schen den Autobahnen. Wiesen mit Kühen und Pferden. Die
Kirchtürme von Bonames, von Berkersheim und Bad Vilbel.
Und die Kinder, die mit ihren Drachen hoch durch die Luft
segeln. Sind die Herbstferien schon vorbei? Oder kommen erst
noch, aber sowieso viel zu kurz. Hoch in den Wolken die Kin-
der. Den Main sehen sie, den Rhein und die Donau. Das König-
reich Böhmen. Die Alpen, den Balkan, den Bosporus – und
dahinter das ganze Land bis nach Indien und China. Und ganz
weit hinten chinesische Kinder mit chinesischen Mützen und
chinesischen Drachen. Und haben auch bunte Börtchen an
ihren Jacken. Die auch mit aufs Bild. Carinas rote Bommelmütze – und
mal auch den Wind! Der Wind, der geht schwer. Der Wind und
die Wolken und Wolkenschatten. Muß alles mit auf das Bild.
Abend. Alle Lampen an. Sibylle in Pullover und Strumpfhose.
Beißt in einen Apfel. Gute Äpfel, sagt sie. Könnten noch Brat-
äpfel machen, wenn Carina lang aufbleibt und du nicht gleich
wieder zu schreiben anfängst. Ein Kirschenjahr war es auch,
sagte ich. Herbst, Abend, Nacht ums Haus und die Heizung
summt. Buntstifte. Bleistiftspitzer. Hell das Licht. Carina neben
mir auf dem Sessel. Schon im Schlafanzug (ein Schlafanzug mit
Marienkäfern), schon seit zwei Stunden im Schlafanzug und
kein bißchen müde. Halb auf meinem Schoß.
Schwebt über dem Bild. Und Peta, mal auch das Häschen dazu, sagt sie und hat
zum erstenmal abends keinen Husten mehr. Das Häschen, was
einmal da weggerannt ist, wie wir es noch schnell gesehen haben.
Aber das war doch schon vor Ostern, sagte ich. Ja, sagt sie und
kommt zwecks Überzeugungskraft mit ihrem Gesicht ganz nah
an mein Gesicht. Ja, soll aber trotzdem mit drauf! Mal drei
Häschen, Peta. Und sie sollen aber nicht wegrennen. Sollst sie
malen, wie wenn sie zu uns hingucken alle drei. Wie wenn sie am
liebsten gleich kommen wollen!

SINN UND FORM 5/2011, S. 624-633

Schock, Ralph
„Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren“. Gespräch mit Peter Kurzeck

RALPH SCHOCK: Dein Roman „Oktober und wer wir selbst sind“ ist Teil eines großen Erinnerungsprojekts, an dem du seit Jahrzehnten schreibst. Kannst du die Position des Romans in diesem Werk beschreiben?

PETER KURZECK: Es ist der vierte Band und eine Rückblende innerhalb des Erzählten. Die autobiographische Reihe beginnt 1984, und dann erzähle ich rückwärts den vorangegangenen Herbst und Winter. Hier geht es um den Oktober 1983, ein Herbstbuch also.

SCHOCK: Warum hast du diese Zeit, diese zwölf Monate des Jahres 1983/84, zum Zentrum des Mammutprojekts gemacht?

KURZECK: Weil ich glaube, daß man beispielhaft erzählen kann, daß es reicht, eine bestimmte Zeitspanne zu nehmen, um exemplarisch über das eigene Leben oder die Zeit an sich zu sprechen. Die Bücher vor „Übers Eis“, also vor dieser autobiographischen Reihe, spielen in verschiedenen Zeiten: „Kein Frühling“ zum Beispiel in der ersten Nachkriegszeit in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, und „Keiner stirbt“ im Oktober 1959. Ich habe mir vorgenommen, mein Zeitalter aufzuschreiben. Jetzt ist es noch wie eine Landkarte, die erst entsteht, oder ein Puzzle. Da und dort sind schon ein paar Flecken zu erkennen, aber es ist mühsam, sich vorzustellen, was aus dem Ganzen einmal wird. Wenn ich zäh genug weitermache und es mir gelingt, die nächsten Bücher möglichst bald zu beenden, wird man sehen, wie das zu leben anfängt, wie es sich zueinander verhält. Ich habe die nächsten zwei oder drei Bücher schon angefangen, für jedes Hunderte von Manuskriptseiten geschrieben und Hunderte von Seiten mit Notizen vorbereitet. Jetzt komme ich mir vor wie in der Nachkriegszeit, mit acht, als wir kein Geld und keine richtige Wohnung hatten, nur ein Flüchtlingszimmer, einen Gemeinschaftsdachboden und eine Gemeinschaftswaschküche, und aus den Lagern gerade erst heraus und nach Hessen gekommen waren. Wir hatten nur einen geliehenen Küchentisch und eine Küchenlampe mit einer 15-Watt-Birne. Natürlich mußte gespart werden, die wurde nur angemacht, wenn es ganz dunkel war – in der Dämmerung noch lange nicht. Wenn sie aber dann angemacht wurde, gab sie ein schönes trübgoldenes Licht und machte aus dem Raum eine Art Höhle, weil sie die Ecken nicht ausleuchtete. Es war ein Licht wie auf einem Rembrandt. Und ich sehe mich als Acht- oder Zehnjährigen abends am Küchentisch sitzen, unter der geliehenen Lampe am geliehenen Küchentisch, auch die Stühle waren nicht unsere eigenen, und ich habe ein Stück Papier vor mir. Papier war damals etwas Kostbares. Auch heute werde ich beim Schreiben nie den Gedanken los, daß es etwas Kostbares ist und daß man es bevorraten muß, damit man immer welches hat. Und ich sehe mich an diesem Tisch sitzen und mich erst mit Bleistift und dann mit Buntstiften ein Königreich malen, weil wir so arm waren … Ich bin natürlich ein König, sonst wäre die Armut ja nicht auszuhalten gewesen. Und das ist, glaube ich, so etwas wie die Vorwegnahme dessen, was ich jetzt tue, nämlich Bücher zu schreiben, die mein Zeitalter festhalten sollen.

SCHOCK: Dein Königreich wird immer differenzierter, größer, umfassender. Du bist inzwischen dazu übergegangen, Neufassungen von bereits abgeschlossenen Büchern herauszubringen, weil sie dir nicht ausführlich genug erschienen.

KURZECK: Das war eine Ausnahme. Als ich „Kein Frühling“ fertigstellte, hatte ich zweihundert Seiten mehr und wußte nicht, ob sie reingehören oder nicht. Ich war so erschöpft und müde, daß ich nicht mehr in der Lage war, das zu entscheiden. Ich wollte nur, daß der Roman endlich erscheint, um diese Erschöpfung loszuwerden. Solange ein Buch nicht erschienen ist, schleppt man es mit sich herum. Die Arbeit zog sich schon über Jahre hin und nahm mich so in Anspruch, daß ich am Ende kaum mehr denken konnte. Jetzt, genau zwanzig Jahre später, haben wir das Buch in der erweiterten Fassung herausgebracht.

SCHOCK: Du hast erzählt, daß sich aus einem Nebensatz im zwölften Kapitel des „Oktober“-Romans ein neues Riesenprojekt entwickelt hat, dessen Umfang du noch gar nicht absehen kannst. Vor etwa drei Jahren habe ich dich um einen kurzen Text gebeten, und du hast gesagt: Kann ich schon machen, aber das dauert drei Jahre, weil sechshundert Seiten daraus werden.

KURZECK: Auf diese Art Wildnis habe ich nur bedingt Einfluß. Es geht mir damit wie mit der Schönheit. Ich wußte schon als Kind, ich bin ihr verfallen. Ich kann ihr nicht widerstehen, weder in Form eines Lieds noch einer Blume, weder eines Menschen noch eines Hauses, nicht mal eines Lichtflecks oder eines Baums. Dieses Hingerissensein ist auch beängstigend, weil man merkt, es ist stärker als man selbst. Man ist dem ausgeliefert. So ähnlich geht es mir auch beim Schreiben. Gleichzeitig habe ich ein ausgeprägtes Formgefühl, das diesem Wuchern entgegensteht. Das heißt, ich muß eine Kunstform daraus machen, so wie ich auch Umgangssprache, Erinnerung und freies Assoziieren einbeziehe. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht darin, alles erst mal schnell zu Papier zu bringen. Ich schreibe oft ohne Satzzeichen und nur klein, nicht weil ich für Kleinschreibung bin, sondern weil es schneller geht. Auch Schreibfehler korrigiere ich nicht. Manchmal gelingt es mir auf diese Weise, die Arbeit von Wochen an einem Vormittag zu erledigen. Hinterher brauche ich Monate, um es in die Form zu bringen, die mich von der Arbeit erlöst. Sonst kann ich es nicht aus Händen, Kopf und Geist entlassen. Eine andere Art zu arbeiten besteht darin, daß ich zwei oder drei Sätze schreibe oder eher auswendig lerne, beim Gehen, Kaffeetrinken, bei allem was ich tue, und dann sehe, ob ich noch frisch genug bin und vielleicht noch zwei oder drei weitere Sätze hinkriege.

SCHOCK: Diese Sätze bestehen ja oft nur aus wenigen Worten. Du machst ganz kurze Sätze, oft fehlen die Verben. Die braucht man im Grunde auch gar nicht, weil du beim „Vermessen der Zeit“ ein Aufzähler bist, und da stören Verben eher, weil sie einen Vorgang beschreiben. Du sammelst Begriffe wie ein Buchhalter. Wie kommt dieser fast verbfreie Stil zustande?

KURZECK: Ganz verbfrei ist er natürlich nicht, die fehlenden Verben fallen bloß besonders auf – vor allem Kritikern und Deutschlehrern. Das ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit. Ich habe von Kind auf geschrieben, damals hatte ich mit drei Sprachen zu tun. Zunächst mit dem Dialekt meiner Eltern, die aus Böhmen waren und ein böhmisches Österreichisch sprachen, das bei meiner Mutter eher Wienerisch klang. Sie war aus dem Kurort Franzensbad, während mein Vater einen harten Böhmerwalddialekt hatte. Dann bin ich in einem Dorf in Oberhessen aufgewachsen, wo die Menschen mit Fremden nicht reden konnten und auch der Schulunterricht auf Hessisch war. Die Sprache meiner Eltern, die ich zuerst gelernt habe, ging praktisch bis zur Haustür – nicht mal das, nur bis zur Küchentür. Und dann gab es noch die Sprache der Bücher. Ich habe von Kind auf viel gelesen, und diese drei Sprachen zu vereinen ist wohl Teil meiner Arbeit. Eigentlich kann man heute nicht mehr so schreiben wie im neunzehnten Jahrhundert, obwohl das zum Teil immer noch gemacht wird. Für die meisten ist Sprache eine ziemlich hölzerne Angelegenheit, auch für viele Kollegen. Da steht dann bei direkter Rede: Anführungszeichen unten, Anführungszeichen oben, antwortete er zornig oder so. Mir ging es darum, eine Sprache zu finden, in der nicht ständig zwischen innen und außen unterschieden wird, in der man es nicht nötig hat, einen antiquierten inneren Monolog kursiv zu setzen und obendrein zu unterbrechen, sondern in einem einzigen Satz nachvollziehen kann, was jemand wahrnimmt und denkt – so wie er selbst es formulieren würde. Ich wollte der Sprache die Lebendigkeit geben, die sie im Alltag hat. Zum Beispiel wenn ich in eine Kneipe gehe oder am Bahnhof ankomme und der Bahnhof ist nicht mehr da, weil er umgebaut wird, wie jetzt gerade in Saarbrücken. Oder wie das, was ein Taxifahrer mir erzählt, während wir unterwegs sind. Ich sehe, ob er die Uhr eingeschaltet hat, aus dem Lautsprecher schnarrt die Zentrale, die Straße fängt an zu fahren, man sieht, daß am Stadtrand ein ganzes Industriegebiet umgebaut wird, daß etwas Neues entsteht. Und ich versuche das alles zusammenzubringen: die Umgangssprache des Taxifahrers, das, was sie bei mir hervorruft, was ich ihm antworte, die Erinnerung an ein anderes Gespräch, das ich vor vierzig Jahren in Stockholm geführt habe. Die Erinnerung wird man ja nicht los, für den Schriftsteller ist sie eine Art Werkzeug. Und weil man sie als Arbeitsmittel benutzt, geht man anders mit ihr um. Man weiß schon im voraus: Das wirst du irgendwann brauchen. Man richtet sein Leben so ein, daß man sich später gut erinnern kann.

Dienstag

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Der Winter ist da. Schnee und minus 10 Grad.

Heute haben
Lawrence Sterne * 1713
Carlo Collodi * 1826
Arundhati Roy * 1961
Geburtstag
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Unser heutiger Buchtipp:

Hackl

Erich Hackl:Dieses Buch gehört meiner Mutter
Diogenes Verlag € 10,00

Das letzte Buch von Erich Hackl gibt es seit dieser Woche als Taschenbuch. Ist es ein Roman oder ein Gedicht?
Das Schriftbild lässt nicht auf normale Prosa schließen.

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So weit ich zurückdenken kann, hat meine Mutter von der Welt ihrer Kindheit und Jugend erzählt. Ich bin nun, nach ihrem Tod, darangegangen, mich dieser Welt zu versichern, sie mit ihrem Blick und in ihren Worten wahrzunehmen, und deshalb gehört dieses Buch meiner Mutter.

Eigentlich war der Vater der bessere Geschichtenerzähler. Er konnte weglassen, pointieren und einen Knoten an seine Geschichten machen. Seine Mutter hingegen hat erzählt, wie sie es noch in Erinnerung hatte und lässt Geschichten auch mal offen enden. Genauso schreibt Erich Hackl dies auf und damit macht auch der Satzspiegel Sinn. Einzelne Erzählteile bilden Mosaiksteine für ein großes Ganzes. Wobei hier nicht das Große zählt, sondern die kleinen Steinchen, die ein gesamtes Mosaik abbilden von einem Landstrich in Österreich, an der Donau, nahe der tschechischen Grenze. Ein besonderes Buch, das wir mit immer größeren Ruhe lesen, obwohl es nicht gerade zimperlich in den Erzählungen seiner Mutter zugeht. Menschliche Schicksale, Tod und Kriege ziehen sich durch den Text.Erich Hackl schildert das Leben der kleinen Leute, spricht politische Fragen aus der Vergangenheit an.
Die Mutter zählt die fünf schlimmsten Dinge auf, die einer Frau passieren können. Und auf Platz eins landet: Ein uneheliches Kind zu bekommen. Gerade die Position der Frauen spielt eine zentrale Rolle in den Erinnerungen. Was machte ein Bauer mit Töchter? Für was waren sie zu gebrauchen? Es gab oft die Jüngste, die den besten Draht zum Vater, zum Bauern hatte, die ihn als Einzigste aus den Beizen holen konnte. Aber sonst?

Erich Hackl wird mit diesem Buch nicht auf den Bestsellerlisten landen. Wir als LeserInnen genießen aber jede Seite und tauchen immer mehr in diese verschwundene Welt ein. Eine Welt, in der es noch bunt und laut war, trotz all der grausamen Dinge, die damals geschahen. Heute ist alles ein grauer Einheitsbrei, oder so ähnlich schreibt Hackl im Nachwort.

Als ich getauft werden sollte,
“schnell schnell, eh sie uns stirbt”,
lag meine Mutter im Wochenbett,
das sie sich in die Stube hatte stellen lassen,
des besseren Überblicks wegen.

“Sie soll Henriette heißen, merk dir das”.
sagte sie zum meinem Vater. Er nickte zerstreut,

In der Kirche fällt dem Vater vor lauter Schnaps und Durcheinander nicht mehr der aufgetragene Namen ein.

Da begann ich zu schreien, was meinen Vater belebte.
Sei Blick irrte durchs Kirchenschiff,
wanderte über die Säulen, die Bänke, den Opferstock,
streifte den Seitenaltarm blieb endlich haften
an der Muttergottes mit Kind. Seine Miene hellte sich auf.
“Maria”, sagte er mit rauher Stimme,
fragend zuerst, dann bestimmt. “Maria!”

Montag

„Image Peace“ heissen die zwei Worte von rechts nach links gelesen
Von Ayzit Bostan.
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Heute haben
Marieluise Fleißer * 1901
Paul Celan * 1920
Herbert Achternbusch * 1938
Geburtstag

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Antje Damm:Kleines Afrika
Tulipan Verlag € 10,00
Kinderbuch ab 7 Jahren

Mit der Sehnsucht ist es so eine Sache. Wir tragen sie in uns, bemerken sie im Alltag meist gar nicht. Aber wenn sie dann mal ausbricht, dann gibt es kein Halten mehr. Sie verändert unser Denken, Fühlen und Handeln.
So geht es auch der kleinen Frida in dem kleinformatigen, schmalen Roman für Kinder ab sieben Jahren.
Antje Damm erzählt in einer nie aufgeregten Sprache die Geschichte von Frida, die sich Afrika herbeiwünscht. Ein Land, in dem es Elefanten gibt. Sie weiß davon, da sie ein Foto ihres Nachbarn gesehen hat, wie er auf einem solch großen Tier reitet. Dieses Bild im Kopf lässt das kleine Mädchen nicht mehr los. Sie muss in dieses ferne Land reisen. So packt sie ihren kleinen Rucksack mit dem Allernotwendigsten, dem Vesperbrot für die Schule und ihrem Kuscheltier Liselotte, einem Affen, leert alles wieder aus, schüttet ihren Schulranzen aus und stopft ihre Sachen dort hinein. Sie will nach Afrika und irgendwie wird sie es schaffen. Der Mutter noch einen schönen Gruß geschrieben und los geht die Reise.
Frida ist jedoch keine große Heldin, sondern ein normales Mädchen mit viel Mut und Phanasie, aber auch ängstlich und verträumt und Antje Damm schreibt dies auch genauso auf. Sehr realistisch und doch, in einigen Episoden, zum Brüllen komisch. Frida weiss, dass Afrika im Süden liegt. Aber wo ist Süden, in welche Richtung muss sie gehen? Die Stadt ist groß und nirgends stehen die passenden Schilder. Sie trifft auf Erwachsene, die ruppig, freundlich, ganz anders sind und ihr auch nicht so richtig weiterhelfen können. Sie sieht in einem Reisebüro einen Hinweis auf Afrika, bekommt jedoch auch hier nicht die passende Antwort, da sie gar nicht zu Wort kommt. Ihr Vesperbrot ist aufgegessen, es beginnt zu regnen, die Stadtlandschaft verändert sich auf Fridas Weg. Die schönen Häuser sind verschwunden und sie wandert durch einen Stadtteil, den sie noch nie gesehen hat. Plötzlich, sie glaubt es kaum, findet sie Afrika. „Kleines Afrika“ steht an einem Haus geschrieben. Frida nimmt ihren Mut zusammen, tritt ein und findet ein Afrika, ein anderes Afrika, ein ganz persönliches Afrika. „Kleines Afrika“ ist ein Frisörgeschaft für afrikanische Frisuren. Hinter dem Tresen befindet sich eine Frau in bunten Kleidern, mit einem Tuch auf dem Kopf, aus dem Rastalocken spitzeln. Hier bekommt Frida Antworten auf ihre Fragen, sie bekommt etwas zu essen, das sie mit den Händen essen soll und die Frau erzählt ihr eine Geschichte von einem Elefanten. Mit einem Talisman in Elefantenform in der Hand, einem vollen Bauch und der fremden Geschichte im Kopf, bringt die dunkelhäutige Dame Frida wieder zu ihrer Mutter zurück, die sich schon riesig Sorgen gemacht hat.
Das Ende bleibt offen, aber es ist ein Schluss, der viel Gutes zulässt.
Antja Damm, die wir als Illustratorin vieler phantasievoller Bilderbücher kennen, hat hier ein sehr schönes, unaufgeregtes Kinderbuch schrieben und illustriert, dass nicht nur die Sehnsucht der kleinen Frida thematisiert, sondern auch uns teilhabenlässt an der Sehnsucht der Frisördame, die aus einem fernen Land kommt und Sehnsucht nach ihrem Zuhause hat.
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Werner Färbers Ungereimtheit der Woche
Kuh oder cow?

Wer auf eine Weide schaut,
sieht schon mal ’ne Kuh, die kaut.
Sie wiederkäut den ganzen Tag,
weil sie Durchgekautes mag.

Wer jedoch nach England schaut,
sieht dort keine Kuh die kaut.
Dasselbe Tier nennt man dort Cow.
Ist diese Umkehrung nicht schlau?

Dort sagt man Cow, hier sagt man Kuh.
Kaut man auf Englisch, heißt es chew.

Sonntagsskizzen (11)

Sonntagsskizzen von Detlef Surrey
Von Detlef Surrey

Reiseskizzen aus Pitigliano und Rom im Herbst (II)


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DetlefSurrey-pen-fbDetlef Surrey ist Illustrator und Comiczeichner in Berlin.

Skizzen: skizzenblog.surrey.de 
Blog:  detlefsurrey.de
Web:  www.surrey.de

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Sonntagsskizzen Rückblick:
-> Sonntagsskizzen  10 – Paris „Nous sommes tous unies!“
-> Sonntagsskizzen  9 – Rom Skizzen
-> Sonntagsskizzen  8 – Dr. Sketchy´s Berlin
-> Sonntagsskizzen  7 – Skizzenfestival Stralsund
-> Sonntagsskizzen  6 – Lesung OL im Literaturhaus
-> Sonntagsskizzen  5 – Konzert Hunting Islands
-> Sonntagsskizzen  4 – Das Reichstagsgebäude und „Karlchen Adler“
-> Sonntagsskizzen  3 – Holzmühle in Vogt
-> Sonntagsskizzen  2 – Literaturfestival Berlin
-> Sonntagsskizzen  1 – Skizzen vom Urban Sketchers Treffen in Darmstadt

 

Samstag

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Heute haben
Voltaire * 1694
Franz Hessel * 1880
Veza Canetti * 1897
Margriet de Moor * 1941
Geburtstag

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„Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.“
Voltaire
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Unseren Buchtipp fürs Wochenende hatten wir auf unserer letzten 1.Seite vorgestellt.
Hier auf dem Blog nochmals, zum in Ruhe nachlesen und weil es einfach ein wichtiges Buch ist, das von der Vergangenheit, bis in die aktuelle französische Gegenwart reicht.

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Marceline Loridan-Ivens:Und du bist nicht zurückgekommen
Insel Verlag  € 15,00
 
Dieser schmale Band im Insel Verlag erzählt eine seltsame und wahre Geschichte.  Siebzig Jahre nach dem gewaltsamen Tod ihres Vaters, ermordet in Auschwitz, erinnert sich die Autorin zum ersten Mal öffentlich und schreibt nach dieser langen Zeit einen Brief an den Vater, den sie ihr Leben lang vermisst hat. Selbst Deportierte und Überlebende von Birkenau,versucht sie, sich diesem Verlust, ihrem eigenen Vergessen, aber auch ihrem Schmerz anzunähern. Der Vater und die damals 15-jährige Autorin
Marceline werden gemeinsam abtransportiert, aber eben auf verschiedene Lager aufgeteilt. Sie erinnert sich an Gräuel, Hunger, Gewalt, Krankheit, Angst, an Apathie und Verzweiflung und an eine kleine von ihrem Vater handgeschriebene Botschaft, von einem Mitgefangenen überbracht. Aber sie erinnert sich nicht an den Inhalt der Botschaft. Diese Fehlstelle ihres Gedächtnisses wird zum Bild für alles Unaussprechliche ihres Kummers, für ihre Unfähigkeit, ein ,normales‘ Leben nach dem Holocaust zu führen.
Ein normales Leben kann sie auch deshalb schon nicht führen, da sie bei ihrer Rückkehr aus dem KZ von einem Onkel am Bahnhof abgeholt wird, der ihr sagt:: „Zeige deine Nummer nicht. Sie werden es nicht verstehen“. So bleibt sie fremd bei ihren eigenen Leuten, innerhalb ihrer Familie. Sie kritisiert jedoch auch den latenten Antisemitismus in Frankreich und die öffentliche Nichtbeachtung der vielen Anschläge auf jüdische Einrichtungen und Ermordungen jüdischer Mitbürger.
 
Loridan-Ivens ist Schauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin, mit ihrem Mann hat sie zahlreiche Dokumentarfilme gedreht, u.a.Birkenau und Rosenfeld. Dieses Buch ist beeindruckend, zutiefst bewegend und wahr.


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Morgen gibt es die 11. Folge der Sonntagsskizzen von Detlef Surrey.
Noch einmal italienische Eindrücke aus Rom und Pitigliano.

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