Donnerstag

Mein Lyrikkalender überrascht mich heute mit einem Gedicht aus dem 17.Jahrhundert.

Johann Georg Schoch
AMaRille

1.
AMaRille/
Wenn soll ich erlangen/
Daß dein Lippen-Thau/
Schöne Frau/
Feuchte meine Wangen?
AMaRille.

2.
AMaRille/
Wenn sol mein Begehren
Dein so süsser Schmatz/
Liebster Schatz?
Doch einmal gewehren?
AMaRille.

3.
AMaRille/
Dämpffe meine Lüste;
Ich sag‘ unverhölt/
Was mich quält/
Das seynd deine Brüste.
AMaRille.

4.
AMaRille/
Kan es nicht geschehen/
Daß ich heute mag
Noch den Tag
Deiner Augen sehen.
AMaRille.

5.
AMaRille/
Was ich noch muß hoffen/
Das ist deine Gunst/
Schönste/ sunst
Steht das Grab mir offen.
AMaRille.

6.
AMaRille/
Was du mir kanst geben
Steht bey dir allein:
Ja/ und Nein/
Sterben/ oder Leben.

Johann Georg Schoch (getauft 28. Februar 1627 in Leipzig; † um 1690) war ein deutscher Lyriker, Dramatiker und Übersetzer der Barockzeit.
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Gestern abend noch ein paar Erzählungen gelesen, die so richtig reinlaufen, ohne große Haken und viel über den Kulturbetrieb offenlegen. Die Szene in Berlin am Theater, Preisverleihungen, Filmfestivals.
Johanna Adorjàn, die wir noch aus ihrem Roman über ihre ungarische Grosseltern kennen („Eine exklusive Liebe“), schreibt worin Sie sich als Journalistin der FAZ auch gut auskennt. Dieser Auflauf der kulturellen Gutmenschen, die dann doch ihre Macken haben, ihr Eigenleben, obwohl sie so glatt in Medien reproduziert werden.
Sie schildert Personen, die Darsteller sind und sich darstellen wollen. Die vielleicht auch mehr sein wollen, als sie im wirklichen Leben sind. Sie wollen mitschwimmen in den Edellokalen und Theaterpremieren.
Johanna Ardojàn nimmt uns mit an die Hand und öffnet uns Türen, zu denen wir wohl keine Berechtigung hätten. Frech, witzig, im Stile von Suter, Heidenreich,wenn diese Vergleiche erlaubt sind.
Das Buch ist eine wahre Freude.
In blauem Leinen gebunden, geprägte Schrift auf dem Deckel, blauer Buchschnitt und blauer Druck. Schönes Papier und überhaupt ein wahrer Genuß in der Hand.
Wem so etwas wohl eingefallen ist?

Freunde

Johanna Adorján: „Meine 500 besten Freunde
Luchterhand Verlag € 18,99

Die erste Erzählung: „Ein Tisch in der Mitte“ wurde auch schon komplett in der FAZ abgedruckt.
Ha, ein perfekter letzter Satz. Lassen sie sich den nicht entgehen und lesen Sie ihn wirklich erst am Schluss.
Oder habe ich jetzt schon zu viel verraten?
Viel Spaß damit:
Ein Tisch in der Mitte

Mittwoch

Heute haben H.W.Longfellow * 1807
und John Steinbeck * 1902
Geburtstag.
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Und passend zum Geburtstag und zum Datum, hier ein Gedicht von

Henry Wadsworth Longfellow
Afternoon in February

The day is ending,
The night is descending;
The marsh is frozen,
The river dead.

Through clouds like ashes
The red sun flashes
On village windows
That glimmer red.

The snow recommences;
The buried fences
Mark no longer
The road o’er the plain;

While through the meadows,
Like fearful shadows,
Slowly passes
A funeral train.

The bell is pealing,
And every feeling
Within me responds
To the dismal knell;

Shadows are trailing,
My heart is bewailing
And tolling within
Like a funeral bell.
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Gestern habe ich das neueste Buch von Ugo Riccarelli zu Ende gelesen. Ein Autor, den ich vor Jahren lieben gelernt habe mit seinem Roman: „Der vollkommende Schmerz“. Danach kamen seine Sporterzählungen: „Fausto Coppis Engel“ und ein Roman über seinen Vater: „Der Zauberer“. Jetzt kommt er mit einem neuen Werk über ein Irrenhaus. Erzählt wird dies alles aus der Perspektive des jungen Assistenten Beniamino, der später auch die Leitung des Hauses übernimmt, oder übernehmen muss.
Nun bin ich angefixt wegen eines der letzten Bücher, die ich hier vorgestellt habe und dessen Titel ganz anders lautet, als im Original. Und auch hier hätte ich mir fast den italienischen Titel (in Übersetzung) im Deutschen gewünscht.
„Comallamore“ heisst er und wird am Schluss des Romanes von Fosco mehrfach ausgerufen: „Wiebeideliebe“. Mit diesem Spruch macht sich der Insasse aus dem Staub, verschwindet im Wald, löst sich von allen Fesseln und kämpft dem dem Widerstand gegen die Faschisten und Nazis.

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Ugo Riccarelli: „Die Residenz des Doktor Rattazzi
Übersetzt aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
Zsolnay Verlag € 18,90
Das italienische Original:Comallamoregibt es bei uns für € 15,95.
Als eBook € 14,99

Wie oben schon erwähnt, handelt der Roman in einem Irrenhaus in der Zeit vor und während des italienischen Faschismus. Riccarelli schafft es auch hier wieder Formulierungen zu finden, die ich mir herausschreiben möchte. Er lässt eine so warmherzige Atmosphäre enstehen, in einem Umfeld, das dem genau widerspricht.
Beniamino hinkt nach einem Sportunfall, beginnt nicht sein Medizinstudium und arbeitet als Aushilfe beim alten Leiter des Irrenhauses. Nach dessen Tod kommt Doktor Rattazzi, der sich gegen die harte Art des Personals wehrt und auch die neue Methode der Elektroschocks verhindert. Er möchte seinen Patienten ein möglichst unbeschwertes Leben im Innern des Hauses bieten. Als der Krieg immer näher kommt und die Bombadierungen ein sicheres Leben nicht mehr garantieren, ziehen ein Großteil der Patienten und Pfleger in die Berge in ein altes Bauernhaus. Aber auch dort werden sie von der Gewalt eingeholt.
Riccarelli stellt ein paar Insassen besonders heraus. Fosco, den mit „Comallamore“ und einen alten Patienten, der nur in Reimen von Homer redet. Als dieser (als einzigster Patient) von einem faschistischen Offizier misshandelt und ermordert wird, können wir folgendes lesen:
„Beniamino aber hörte ihn nicht mehr, denn jetzt sah er, wie der Wunde in Cavanis Kopf viele hundert Verse von Homer entsrömten, jene Worte, die der alte Mann so sehr geliebt und jahrelang in seinem Geist bewahrt hatte, mit denen er zu Bett gegangen war, gelacht und geweint, geschlafen und gegessen hatte, Verse, mit denen er die Welt gelesen und beschrieben hatte, um denen, die ihm zuhörten, Trauer und Schönheit zu schenken.
Da lächelte Beniamino. Unter Tränen, die ihm jetzt in die Augen stiegen, die er zuvor nicht hatte schließen können, gelang ihm ein Lächeln, wie ein Gruß an die Worte des professors, die schon über den Hof flogen, über die Wiesen schwebten und zum Himmel aufstiegen, endlich befreit von den Mauern des Irrenhauses, vom Wahnsinn und vom Krieg.“

Mehr mag ich gar nicht über diesen schmalen, schönen Roman schreiben, um Ihnen nicht zu viel zu verraten.
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“The Lost Wife,” by Alyson Richman

„The Lost Wife“ von Alyson Richman
(gefunden bei unypl)

Dienstag

Heute haben Victor Hugo (* 1802) und Hermann Lenz (* 1913) Geburtstag.
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Küssen lernen in der Buchhandlung.
Vielleicht hat sich noch mehr Lernmaterial bei den DVDs versteckt?
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Byung-Chul Han, von dem ich hier immer wieder Bücher vorstelle, von dem letzte Woche ein Text über die Müdigkeitsgesellschaft (so auch sein Buchtitel) speziell in Südkorea hier zu lesen war, hat einen neuen Text auf der Seite des Matthes & Seitz Verlages veröffentlicht. Diesmal geht es um den Einsatz von Drohnen.

Die Ethik des Drohnenkriegs
Byung-Chul Han

MQ-1 Predator

Alle, vom Luftwaffenchef der Bundeswehr über den Wehrbeauftragten des Bundestages bis zum Bundesverteidigungsminister, wollen sie haben, die bewaffneten Drohnen, am besten sofort. Kürzlich heißt es aus dem Verteidigungsministerium, der Einsatz von bewaffneten Drohnen sei »ohne Zweifel sinnvoll«. Trotz massiver Probleme, die die Tötung per Knopfdruck mit sich bringt, geht kein Aufschrei durch die Gesellschaft.

Zweifellos stellen diese fliegenden Kampfroboter einen militärtechnischen Fortschritt dar. Bedeuten sie aber auch einen ethischen Fortschritt, weil man eigene Soldaten keiner Lebensgefahr aussetzt? Thomas de Maizière ist der Ansicht, dass eine Waffe stets ethisch als neutral zu betrachten sei. Macht es tatsächlich keinen ethischen Unterschied, die Gegner zu töten, ohne selbst in Erscheinung zu treten, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen? Wäre nicht der Einsatz meines Lebens eine notwendige Bedingung für die Rechtfertigung der Tötung des Gegners im Krieg? Nach dem Ehrenkodex der Ritter, der die westliche Vorstellung der militärischen Ehre maßgeblich geprägt hat, ist nicht ehrenhaft, den Feind anzugreifen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Ehrenhaft ist es nur, den Feind auf dem Schlachtfeld zu töten. Unehrenhaft ist dagegen, den Feind außerhalb des Schlachtfeldes heimtückisch zu töten, ihn etwa zu vergiften.

Wichtig für die Gerechtigkeit im Kampf ist vor allem die Symmetrie der Mittel. Besitzt mein Gegner nur ein Schwert, so ist der Gebrauch einer Armbrust verwerflich. Daher erscheint der Einsatz von Drohnen den betroffenen Muslimen als feige und unmoralisch. Die Tötung per Mausklick gleicht für sie einem heimtückischen Mord. Auch in der Geschichte des Krieges gab es immer wieder Versuche, Tötungsmittel einzuschränken. Sie dienten, wie Carl Schmitt sagen würde, zur »Hegung des Krieges«. So wurde z. B. im 2. Lateran-Konzil von 1139 für den Krieg zwischen christlichen Fürsten und Völkern jeder Einsatz von Fernwaffen verboten.

Den kompletten Text können Sie hier weiterlesen.
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Lesen in der Underground New York Public Library

“Los Hijos Del Tiempo,” by Ana Colchero

„Los Hijos Del Tiempo“ von Ana Colchero

Bibel

„The Holy Bible“
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Planen Sie Ihr Wochenende in Ulm.
Am Samstag spielt Sophie Hunger im Roxy,
Wolfgang Schukraft spielt Mark Rothko im Weishaupt Museum vor dem Original Rothko Bild.
Am Sonntag spielt das Hassler Consort Händels: „Julius Cäsar in Ägypten“ im Stadthaus.

Montag

Heute haben
Carlo Goldoni * 1707
Anthony Burgess * 1917
Franz Xaver Kroetz * 1946
Geburststag.
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Passend zum Wetter bringt mein Lyrikkalender ein Gedicht von

Robert Frost
Fire and Ice

Some say the world will end in fire,
Some say in ice.
From what I’ve tasted of desire
I hold with those who favor fire.
But if it had to perish twice,
I think I know enough of hate
To say that for destruction ice
Is also great
And would suffice.

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Gestern hatte ich endlich Zeit, das Buch von Albertine Sarrazin zu lesen, das vor ein paar Tagen im Hanser Berlin erschienen ist. Ich muss gestehen, ich habe es überhaupt nur wegen des Nachwortes von Patti Smith bestellt und jetzt auch mit nach Hause genommen. Und dieses Nachwort war auch das erste, was ich gelesen habe. Sie schreibt über ihre Erfahrungen mit diesem Buch, das sie sich für 99 Cent in New York gekauft hatte. In einer Zeit, in der sie kein Geld hatte und von Robert Mapplethorpe verlassen worden war. „Ich frage mich wirklich, ob ich ohne sie die geworden wäre, die ich bin.“ Sie verschlingt dieses Buch, trägt es ihr ganzes Leben mit sich herum, getraut sich aber erst vor kurzem (auf einer Tournee) das Buch wieder herauszuziehen. Sie liest es wieder in einer Nacht.
Was hat es mit diesem Buch auf sich? Was hat es mit der Autorin auf sich?

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Albertine Sarrazin: „Astragalus
übersetzt von Claudia Steinitz
Hanser Berlin Verlag € 19,90
als eBook € 15,99

„Der Himmel war mindestens zehn Meter weiter weg. Ich blieb sitzen, nur keine Eile. Der Aufprall hatte wohl die Steine erschmettert, meine rechte Hand tastete überKiesel. Mit jedem Atemzug dämpfte die Stille die explodierenden Sterne, deren Funken noch in meinem Schädel prasselten. Die weißen Flächen der Steine leuchteten schwach in der Dunkelheit. Meine Hand löste sich vom Boden, strich über den linken Arm hinauf bis zur Schulter, über Rippen hinunter bis zum Becken: nichts. Ich war unversehrt, ich konnte weiter. Ich stand auf. Als es mich mit ausgebreiteten Armen, das Gesicht voran, in die Dornensträucher katapultierte, fiel mir ein, dass ich versäumt hatte, auch meine Beine zu kontrollieren.“

So beginnt dieser Roman und Sie merken schon, dass er genau das Leben der jungen Albertine erzählt. Aber wie sie das macht, ist schon ein kleines Meisterwerk. Sie schildert diese Nacht, dieses sich Fortschleppen. Sie schreibt auf, wie sie (sie nennt sich im Roman Anne, in Anlehnung an ihren richtigen Namen, der ihr im Heim weggenommen worden ist) von Julien auf dem Motorrad mitgenommen und zu ihm nach Hause gebracht worden ist.
Ihre Zeit dort mit dem gebrochenen Knöchel (Astragalus heisst der Knochen), bis sie endlich ins Krankenhaus kommt und dort in letzter Sekunde operiert wird.
Albertine Sarrazine schreibt unglaublich gut und ich verstehe, warum sich viele Schriftstellerinnen für sie stark gemacht haben. Ich denke, dass das nicht nur ein Biografie-, Knast-Bonus war. Viel mehr mag ich über diesen Roman nicht schreiben, um Ihnen den vollen Genuss dieser hochinterssanten und für mich sehr fremden Welt nicht zu nehmen.
Ich mache mich auf jeden Fall auf die Suche, ob ich noch an ihre andere Bücher von Albertine Sarrazine auf deutsch herankomme. Ganz vorne rechts auf unserem Tisch im Laden liegt dieses Buch.

Hier geht es zur Leseprobe, bei der eventuelle die Umlaut fehlen.

Sonntag

Heute kommt der Blog etwas später.
Zuerst eine kleine Runde durch den Wald, dann etwas später noch „Literatur im Foyer“ mit Thea Dorn und Christoph Ransmayr. Ein grossartiger Kerl, dieser Ransmayr. Sein Buch „Atlas eines ängstlichen Mannes“ haben wir ja an einer „Ersten Seite“ vorgestellt, aber ihn sprechen und vorlesen hören, gibt der Sache noch einen extra Kick.
Hier können Sie diese Sendung nochmals anschauen.
Es lohnt sich.
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Gestern abend eine Neuerscheinung durchgefressen und erst nach der letzten Seite des Buches das Licht ausgemacht.

Flucht

Jesús Carrasco: „Die Flucht
Klett-Cotta Verlag € 18,95
als eBook € 14,99
Aus dem Spanischen von Petra Strien

Im spanischen Original heisst das Buch: “ Intemperie“.
Normalerweise bin ich kein so ein Pedant und nehme die Übersetzungen, wie sie sind.
Hier jedoch hat mich im Nachhinein der reisserische Titel gewundert.
„Intemperie“ heisst laut leo.org u.a.: „Die Unbilden“.
Es hat auch etwas mit der Witterung zu tun. Es kann auch obdachlos, im Freien übernachten heissen. Wetterfest und wettergeschützt.
Der Duden schreibt zu „Unbilden“:
Unangenehme Umstände, Auswirkungen, Begleiterscheinungen von etwas, was jemandem schicksalhaft widerfährt.
Beispiele:
– den Unbilden der Zeit, des Alters, des Lebens, der Natur ausgesetzt sein
– die Unbilden des Wetters ertragen müssen.

Natürlich haben beide Sprachen recht. Es geht um eine Flucht, aber vielmehr geht es um die verschiedenen Formen der Bedeutung des spanischen Wortes „Intemperie“.
Auch das Titelbild deutet eher auf einen amerikanischen Western, als auf die karge, hügelige spanische Landschaft.
Fast hätte ich mir ein Bild von Antoni Tàpies gewünscht, der mit seinen Erdfarben und Kreuzmotiven eine unglaubliche Symbolik und archaische Verstörung und Ruhe ausstrahlt.

Ein Junge ist auf der Flucht und hält sich in einem Erdloch versteckt. Es wurde mir nicht klar warum. Was auch nicht so wichtig ist. Sicherlich spielt der Polizeichef eine große Rolle und eventuell auch sexueller Missbrauch.
Auf jeden Fall kriecht der Junge (der auch nur so benannt wird) nach vielen Stunden aus seinem Versteck und versucht ungesehen aus der Gegend seines Dorfes zu verschwinden. Dies ist alles nicht so einfach, da die Landschaft sehr karg ist und kaum Unterschlupf bildet. So bewegt sich der Junge viel bei Nacht. Er trifft auf einen alten Schäfer, dessen Hund ihn entdeckt. Aber anstatt zu bellen und ihn anzugreifen, kommt es hier zu einer sehr schönen liebevollen Szene. Der alte Ziegenhirte nimmt den Jungen mit auf seine Reise, zeigt ihm das Nötigste, was er über die Ziegen wissen muss, fragt aber nicht weiter nach, warum der Junge alleine unterwegs ist. Gleichzeitig weiss der Junge nicht, wie er den Alten einschätzen kann/soll. Dieses sehr sehr einfache, durch Hunger und Armut gezeichnete und duch dauernden Durst geprägte Leben ist das Faszinierende an diesem Buch. Es wird kaum gesprochen und auch wenig gehandelt. Es ist wie ein verblichenes Graffity an einer alten Wand, auf die die südliche Mittagssonne brennt.
Es kommt in der Mitte des Buches zu einem großen Showdown, von dem sich alle Personen nicht mehr erholen. Oder zumindest verändert daraus hervorgehen. Es geht wirklich um Leben und Tod. Eigentlich geht es in den Seiten zuvor um’s Überleben und jetzt scheint es um den Tod zu gehen und wie ihm zu entrinnen ist.
Extrem starke Bilder, die auch an „Winter’s Bone“ erinnern, oder an den Roman „Die Straße“.
Wenige Personen in einer fast unwirklichen, zumindest sehr unwirtlichen Landschaft.
Gemeinsam starten der Alte und der Junge eine sehr gefährliche Aktion und nur gemeinsam können sie diese durchstehen.

Nun werden Sie denken: Oh Mann, der Wiltschek hat wieder ein Buch gelesen / beschrieben, das einen vollkommen runterzieht. Nein, das ist nicht der Fall.
Es ist kein Krimi, kein Thriller, keine Sozialkritik an der spanischen Gesellschaft.
Es ist fast so etwas wie eine Meditation, wenn ich dieses Wort für seine Situation benutzen darf.
Es sind messerscharfe Beobachtungen, Andeutungen und Handlungen, die plötzlich ganz anders weitergehen, als wir als Leser vielleicht denken.
Eine kleine Passage im ersten Drittel des Buches mag dies verdeutlichen.
Die Beiden finden einen Kuhkadaver, auf dem ein Rabe sitzt und in dem eine Ratte innendrin herumnagt. Der Hirte treibt die Ratte aus dem Leichnam in einen Sack und erschlägt sie mit seinem Knüppel. Na klar, denke ich, die Ratte hätte sich wahrscheinlich über die Vorräte des Alten hergemacht. Wahrscheinlich schon. Jedoch landet die Ratte sehr schnell auf dem Grill als Abendessen. Dies wird alles so schlüssig und ohne Vorbehalte erzählt, dass es gar nicht grausam, eklig daherkommt.

Ein sehr bewegendes Buch, das viel mit dem Thema Hoffnung und Vorhersehung spielt. Dem Vorgegebenen und dem was Personen daraus machen (können).

Hier kommen Sie zur Leseprobe.

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Jesús Carrasco 1972 in Badajoz geboren. »Die Flucht« ist sein erster Roman, der sich auf Anhieb in insgesamt acht Länder verkauft hat. Er gilt als die literarische Neuentdeckung Spaniens. Der Autor lebt in Sevilla.

Pressestimmen aus Spanien:

»Ein Mann und ein Kind nehmen uns mit auf eine Reise, die an Hemingways ›Der alte Mann und das Meer‹ erinnert. Mit seiner außergewöhnlichen Sprache schafft Carrasco neue Welten.«
El País

»Ein moderner Klassiker: … Die Flucht wird uns sehr lange begeistern.«
El Placer de la Lectura

»Ein Roman voller Poesie.«
Página 2

»Das beste Debüt der Saison«
ABC Cultural

»Eine der größten Überraschungen der literarischen Saison.«
El Periódico de Extremadura

»Jesús Carrasco liefert ein blendendes Romandebüt.«
Noticias de Álava

»Carrasco geht unter die Haut: Mal scharf wie ein Messer, mal zart wie Balsam.« Diario de León

»Eines der besten Bücher des Jahres … Die Flucht wartet mit allem auf, was einen Roman der Spitzenklasse ausmacht.«
Papel en Blanco
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Ich wünsche Ihnen einen geruhsamen Sonntag.
Genießen Sie die Natur und Ihre Bücher.

CatFLICKR
(gefunden auf flickr.com)
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„Swans Way“ von Marcel Proust
(gefunden bei unypl.tumblr.com)

Samstag

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Mit diesem Cappuccino (von Michele Napolitano in der Kaffebar in der Lichtburg) wünsche ich Ihnen einen schönen Samstagmorgen.
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Heute hat Erich Kästner Geburtstag (* 1899)
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Endlich wieder lieferbar!

Einstein

Peter Tille, Manfred Bofinger (Illustrator): „Einstein mit der Geige
Eulenspiegel Verlag € 6,99
Ein Pappbilderbuch im handlichen Format 22 x 16 cm

Lange Zeit war es vergriffen, das schöne Bilderbuch über Albert Einstein und seine Geige, so dass wir uns in der Buchhandlung überlegten, wie wir das ändern könnten. So wuchs die Idee, diese Bildergeschichte als Plakat drucken zu lassen. Sehr stolz waren wir über das fertige Produkt und haben ihm auch gleich ne ISBN verpasst. Wahrscheinlich schwirrt die auch noch irgendwo in den Nachschlagewerken herum. Als Abfallprodult gab es dann noch so ein kleines Streifenplakat, das wir für wenig Geld hergaben.
Nun sind die großen Plakate fast alle weg und von den kleinen Streifen haben wir noch einige im Büro liegen.
Wenn Sie Sie nun Lust haben, sich von Tille und Bofinger die Relativitätstheorie erklären zu lassen, dann kommen Sie vorbei, rufen Sie an, mailen Sie uns und wir schenken Ihnen diesen Bilderbuchstreifen.

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Albert Einstein braucht für seinen Weg zur Arbeit immer gleich lange.
Es sind immer die selben Personen, die er auf seinem Weg dorthin trifft.
Wenn es aber regnet, holt ihn ein Auto ab. Der Weg ist der selbe, die Personen auch.
Aber er schafft die gleiche Strecke in einer viel kürzeren Zeit.
Ja, das isses schon mit der Relativität.
Relativ einfach!
Na gut, Einsteins Gedanken gingen schon noch ein wenig tiefer.
Aber für den relativen Anfang soll es uns genügen.

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Peter Tille schrieb Gedichte, Aphorismen und Kinderbücher. Geboren 1938 in Leipzig, gestorben 1996.

Manfred Bofinger, Grafiker und Illustrator, 1941 in Berlin geboren. Abitur. 1961 Abschluß einer Lehre als Schriftsetzer. 1961-1968 Typograf beim «Eulenspiegel». Seit 1968 freiberuflicher Graphiker und Cartoonist in Berlin. 120 illustrierte Bücher, viele Preise, zahlreiche Ausstellungen, ausgezeichnete Bücher. Der beliebte Zeichner starb im Januar 2006.
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UNYPL

Links „The Mummy, The Will And The Crypt“ von John Bellairs.
Rechts „Ribsy“ von Beverly Cleary.
(gefunden bei UNYPL)

Freitag

Heute haben
Hugo Ball * 1886
Jane Bowles * 1917
und Danilo Kis * 1935
Geburtstag.
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Peter Buwalda: „Bonita Avenue
Rowohlt Verlag € 24,95
Bei Random House Audio als Hörbuch gelesen von Susanne Wolff, Benno Fürmann, Axel Milberg.
Eine gekürzte Lesung auf 12 CDs € 29,99

Über 600 Seiten hat diese niederländische Neuerscheinung. Und die haben es in sich.
„Die niederländische Antwort auf Jonathan Franzen. (NRC Handelsblad)“

Selten so einen ein Feuerwerk von einem Roman gelesen. Und das ist dazu noch ein Erstlingswerk. Das oben genannte Handelsblad liegt mit seinem Statement nicht ganz richt, denn gegen Buwalda ist Franzen eine lange, breite übersichtliche Autobahn. Während die „Bonita Avenue“ (der Roman) die gefährlichsten Serpentinen und Abzweigungen hat, die sich literarisch gewaschen haben. Wenn Sie sich also diesen Zigelstein antun wollen, dann nehmen Sie sich ein Wochenende frei, versorgen sich mit Grundnahrungsmittel rund um Ihre Lesestätte, denn Sie werden nicht mehr wegkommen.
Erzählt wird die Geschichte einer Patchworkfamilie über 40 Jahre hinweg. Dies aber nicht linear, es gibt immer wieder Sprünge in den Zeiten und Orten, die jeweils die aktuelle Siuation erläutern, oder aus den Grundfesten wirft.
Grossartig komponiert, flüssig geschrieben.
Der Roman wird nach einer Straße in den USA benannt; dort wo die Familie glücklich war, zufrieden, klein und bescheiden. Der Vater kann Karriere in Holland an der Universität machen. Wird dort Rektor und später Wissenschaftsminister (!!!). Wir merken sehr bald, dass sich hinter der Fassade Abgründe auftun, dass jeder etwas zuverstecken hat. Dass gelogen wird, dass sich Balken biegen. Aber die Geschichte geht weiter, das Rad der Zeit dreht sich unaufhörlich.
Ich mag gar nicht so viel über den Inhalt erzählen, das erfahren Sie sicherlich in der Presse und sonst überall (ich verlinke ein Interview mit Peter Buwalda unten). Nur so viel, dass es am Ende, nachdem Sie schon bald keine Luft mehr bekommen, was sich Buwalda hat alles einfallen lassen, dass es also noch mehreren realen und fiktionalen Explosionen, nach denen nichts mehr so ist, wie es mal wahr, zu einem einem großen Showdown kommt, das sich gewaschen hat, bevor die Restfamilie sich zur Weihnachtsfeier zusammenfindet.

Rowohlt Bookmarks über den Autor und seinen Roman.
Sieben Fragen an Peter Buwalda.
Leseprobe

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„The Best American Essays 2012“ herausgegeben von Robert Atwan & David Brooks
(gefunden bei UNYPL)
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Donnerstag

Heute haben
Anais Nin * 1903
Raymond Queneau * 1903
David Foster Wallace * 1962

Otfried Preußler ist tot.
Er starb starb gestern im Altern von 89 Jahren.
Gut, dass seine Bücher immer weiterleben werden.
Hier geht es zu einem kleinen Artikel aus buchmarkt.de.
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Das heutige Gedicht kommt von
Samuel Taylor Coleridge,
der es am 21.Februar 1825 geschrieben hat.

Work Withour Hope

All nature seems at work. Slugs leave their lair—
The bees are stirring—birds are on the wing—
And Winter, slumbering in the open air,
Wears on his smiling face a dream of Spring!
And I, the while, the sole unbusy thing,
Nor honey make, nor pair, nor build, nor sing.

Yet well I ken the banks where amaranths blow,
Have traced the fount whence streams of nectar flow.
Bloom, O ye amaranths! bloom for whom ye may,
For me ye bloom not! Glide, rich streams, away!
With lips unbrighten’d, wreathless brow, I stroll:
And would you learn the spells that drowse my soul?
Work without Hope draws nectar in a sieve,
And Hope without an object cannot live.

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=O9HsJmZBmpU]

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Nadia Budde: „Und außerdem sind Borsten schön
Hammer Verlag € 14,90
Bilderbuch ab 3 Jahren

Wir wären doch alle gern ein bisschen schöner! Blonder, muskulöser, um die Hüften eine Spur schlanker. Kein Grund zur Scham, mit diesen eitlen Träumen snd wir nicht allein!
Nadia Budde holt die ganze schräge Verwandtschaft – von Onkel Waldemar bis Opa Archibald – jede Menge guter Freunde und illustre Nachbarn auf die Seiten dieses Bilderbuches und wir sehen gleich, wo es hapert: „Unser Nachbar Thilo Schramm hat zu viele Kilogramm„. Der kleine Bruder Olli träumt von einem ordentlichen Bizeps, Waldemar von glattem Haar, die kleinen Jungs im Nachbarhaus wären gern wie Supermann und sind – wenn wir ehrlich sind – davon so weit entfernt wie ihre vierschrötigen Schwestern in Rosa von wahren Elfen. Und weil sie alle ganz hinreißend (und so lustig!) sind, wie sie da stehen, hadernd mit dem, was fehlt oder zuviel ist, spricht uns am Ende einer aus der Seele, den der ganze Firlefanz um die Schönheit nicht juckt. Es ist Onkel Parzival, dem ist sein Äußeres egal. Und der findet: „Eins ist wichtig, wie du bist, so bist du richtig!“ Und wenigstens kurzzeitig sind Onkel Waldemar, Thilo Schramm und unsere properen Elfen doch ziemlich erleichtert!

Nadia Budde ist einfach die Königin, wenn es um diese Nonsense-Bilderbücher geht, die so irre illustriert und einfach extrem witzig sind.
„Eins Zwei Drei Tier“, „Trauriger Tiger toastet Tomaten“, „Kurz nach sechs kommt die Echs“, „Unheimliche Begegnungen auf Quittenquart“ und „Flosse, Fell und Federbett“ sprühen so von Energie und verrückten Ideen, dass sich diese Bücher zu wirklich Klassikern entwickelten, die wir immer im Laden vorrätig haben.

Hier können Sie ins Buch schauen.
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Und weiter geht es in der „Underground New York Public Library

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„The New Rabbi“ von Stephen Fried

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„Persepolis: The Story of a Childhood“ von Marjane Satrapi

Mittwoch

Heute hat Johann Heinrich Voss Geburtstag (* 1751)
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Nun ist es endlich erschienen.
Seit Wochen veröffentliche ich hier Textschnipsel aus diesem Buch und jetzt können wir es in die Hände nehmen.

Galeano

Eduardo Galeano: „Kinder der Tage
Peter Hammer Verlag € 24,00

Eduardo Galeano ist besessen von dem Wunsch, Geschichte zu erinnern.
Und immer tut er dies auf besondere Art: In sprachlich eleganten Miniaturen,
kaum mehr als eine halbe Seite lang, erzählt er von kuriosen, empörenden,
bemerkenswerten Begebenheiten. Sie spielen auf allen Kontinenten und handeln
von allerlei Dingen. Doch immer geraten sie zu einer Anklage all derer,
die die Welt in ihrem Sinne zu lenken wussten. Und zur Bekundung tiefempfundener Solidarität mit den Unterdrückten.
Kinder der Tage ordnet seine 365 pointierten Geschichten an der Chronologie
des Kalenders vom 1. Januar bis zum 31. Dezember, wobei jede Geschichte
mit dem jeweiligen Datum in Verbindung steht. Springend durch die Jahrhunderte
und fortschreitend durch das Jahr zeigt Eduardo Galeano das immerwährende
Prinzip von Oben und Unten, Macht und Ohnmacht.
Die Leichtigkeit und der feine Humor nehmen den Geschichten nie die
Schärfe, machen sie aber zum großen Lesevergnügen.

Heute, am 20.Februar gibt es eine Geschichte aus Brasilien.
Ein Mann reist mit der Kutsche und nimmt immer eine Fahrkarte dritter Klasse. Er versteht nicht, was der Unterschied der teuren Karten der ersten und zweiten Klasse zur dritten Klasse ist. Das Gerumpele ist doch immer das gleiche.
Bis die Kutsche eines Tages im Schlamm stecken bleibt und er Kutscher ruft:
„Erste Klasse sitzen bleiben!
Zweite Klasse zu Fuß weitergehen!
Dritte Klasse, ab zu Schieben!“

Und hier noch die letzten beiden Textschnipsel, die der Verlag zur Verfügung gestellt hat:

Dezember
15
Grüner Mann

Heute wäre der Geburtstag von Chico Mendes gewesen.
Wäre gewesen.
Doch die Mörder des Amazonas-Regenwaldes töten die Bäume, die stören, und sie töten auch die Menschen, die stören.
Menschen wie Chico Mendes.
Seine Eltern, Sklaven durch Verschuldung, waren aus der weit entfernten Wüste von Ceará zu den Kautschukplantagen gekommen.
Mit vierundzwanzig Jahren lernte er lesen.
Im Amazonas-Gebiet organisierte er Gewerkschaften und brachte die Vereinzelten zusammen, die versklavten Tagelöhner, die vertriebenen Indios, gegen die Verschlinger von Ländereien und ihre bezahlten Killer, und gegen die Experten der Weltbank, die die Vergiftung der Flüsse und die Bombardierung des Regenwaldes finanzieren.
Und er wurde zum Abschuss frei gegeben.
Die Schüsse kamen durchs Fenster.

Dezember
16

Bekämpfen Sie die Armut: Frisieren Sie die Zahlen!

Über viele Jahre feierten die großen Desinformationsmedien mit Pauken und Trompeten die Siege im Krieg gegen die Armut. Jahr auf Jahr war die Armut dabei auf dem Rückzug.
Und so war es bis zum heutigen Tag im Jahre 2007. Da aktualisierten die Experten der Weltbank mit Unterstützung des Internationalen Währungsfonds und einiger Unterabteilungen der Vereinten Nationen ihre Statistiken zur Kaufkraft der Weltbevölkerung. In einem Bericht des International Comparison Program, das kaum oder gar keine Verbreitung fand, korrigierten die Experten einige Zahlen ihrer vorherigen Erhebungen. Unter anderen kleinen Fehlern entdeckten sie, dass die Armen fünfhundert Millionen mehr waren als die internationalen Statistiken bisher gezählt hatten.
Sie, die Armen, wussten es längst.
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UNYPL

“Wonder Boys“ von Michael Chabon
(gefunden bei UNYPL)
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Dienstag

Carson McCullers * 1917
und
Thomas Brasch * 1945
haben heute Geburtstag
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„Politik“ von Aristoteles

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“The Gone-Away World” von Nick Harkaway
(gefunden bei UNYPL = Underground New York Public Library)
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Müde

Der Autor des schmalen Bändchens: „MüdigkeitsgesellschaftByung-Chul Han (das ich hier auch schon vorgestellt habe) hat auf der Seite des Verlages Matthes & Seitz einen Aufsatz über das heutige Südkorea geschrieben.

Südkorea – Eine Müdigkeitsgesellschaft im Endstadium
Als die koreanische Ausgabe der „Müdigkeitsgesellschaft“ erschien, hielt ich mich in Seoul auf. So konnte ich die Reaktion der Medien auf das Buch gut beobachten. Innerhalb kürzester Zeit entwickelte sich das Buch zu einem viel diskutierten Bestseller. Die erste Auflage war schon am Tag ihres Erscheinens vergriffen. Offenbar fühlten sich die Koreaner von der Grundthese des Buches betroffen, dass die heutige Leistungsgesellschaft eine Gesellschaft freiwilliger Selbstausbeutung ist, dass die Freiheitsrufe wie „Yes we can“ oder „Ja Du kannst“ in Wirklichkeit etwas Teuflisches an sich haben, dass sie so viele selbstgenerierte Zwänge erzeugen, an denen das Leistungssubjekt zugrunde geht (Burnout).

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(Fotos I.Gresser)

Wer in Seoul in eine U-Bahn steigt, begreift schnell, dass er sich mitten in einer fortgeschrittenen Müdigkeitsgesellschaft befindet. Viele Koreaner, die einen Sitz ergattern, fallen sofort in einen kurzen Tiefschlaf. Die U-Bahn-Züge in Seoul gleichen Schlafwagen, in denen die Koreaner den fehlenden Schlaf nachzuholen scheinen. Überall und zu unterschiedlichsten Zeiten sieht man in Korea schlafende Menschen. Offenbar kämpfen die Koreaner gegen eine permanente Übermüdung an. Sehr viele Koreaner sind längst dem Burnout erlegen. Darüber hinaus sterben jährlich Hunderte Menschen aus Erschöpfung. So stürzte das Buch „Müdigkeitsgesellschaft“ die Koreaner in einen kollektiven Selbstzweifel.
Die Jahresarbeitszeit der Koreaner beträgt 2193 Stunden, ca. 500 Stunden mehr als der OECD-Durchschnitt. Ein Modewort heißt „Saladent“. Es ist zusammengesetzt aus salary (Gehalt) und student. Immer mehr Angestellte bilden sich weiter nach der getanen Arbeit, um sich auf dem sehr instabilen Arbeitsmarkt zu behaupten. Es gibt also praktisch keine Pause mehr. Gearbeitet und gelernt wird rund um die Uhr. Angst und Unsicherheit breiten sich aus. Südkorea weist inzwischen die weltweit höchste Suizidrate auf. Bereits die Schulkinder sind einem ernormen Leistungsdruck ausgesetzt. Deutschland blickt neidisch nach Asien, wenn koreanische Schüler in der PISA-Studie Spitzenwerte erringen. Aber es wird kaum zur Kenntnis genommen, dass in Korea viele Schüler Selbstmord begehen, weil sie den Leistungsdruck einfach nicht aushalten. Manche Schulkinder schlafen nicht mehr als 6 Stunden. Vor und nach der Schule nehmen sie Nachhilfekurse, um nicht aus dem Rennen um begehrte Studienplätze zu fallen. Zu Hause sind sie also praktisch nur während des Schlafes. Kürzlich hat ein Mordfall in Korea sehr viel Aufsehen erregt. Ein Schüler hat seine Mutter grausam erstochen, weil sie ihn wegen seiner schlechten Schulleistung geschlagen und permanent mit Vorwürfen überschüttet hat.
Den kompletten Beitrag können Sie hier auf der website des Verlages lesen.
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Suzanne Choffel aus Austin/Texas, die jetzt in Brooklyn lebt,
ist heute für die Lyrik-Abteilung zuständig.

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