Das Bild des Monats von Albert Cüppers.
„Epitaph“
Kulturbuchhandlung Jastram in Ulm
Unser virtuelles Schaufenster
Das Bild des Monats von Albert Cüppers.
„Epitaph“
Heute haben
Georg K.Glaser * 1910
Colm Toibin * 1955
Geburtstag
_______________________
Heute im Gedichtekalender:
Friedrich Gottlieb Klopstock
Ihr Schlummer
Sie schläft. O giess ihr, Schlummer, geflügeltes
Balsamisch Leben über ihr sanftes Herz!
Aus Edens ungetrübter Quelle
Schöpfe den lichten, krystallnen Tropfen!
Und lass ihn, wo der Wange die Röth‘ entfloh,
Dort duftig hinthaun! Und du, o bessere,
Der Tugend und der Liebe Ruhe,
Grazie deines Olymps, bedecke
Mit deinem Fittig Cidli. Wie schlummert sie,
Wie stille! Schweig, o leisere Saite selbst!
Es welket dir dein Lorbersprössling,
Wenn aus dem Schlummer du Cidli lispelst!
______________________
Unser Buchtipp:
Christoph Niemann: „Wörter„
Aus dem Amerikanischen von Kati Hertzsch
Diogenes Verlag € 22,00
Dass Christoph Niemann ein großer Meister in Wort und Bild ist, haben wir schon mehrfach festgestellt. Lange Jahre in Brooklyn lebend, wohnt der gebürtige Waiblinger in Berlin. Aber seine New Yorker Wurzeln sind nicht abgehackt. Im Moment hat er eine Ausstellung dort in einer Galerie. Sein Witz zieht sich durch all seine künstlerischen Arbeiten. Ob er mit Kaffeetassenränder experimentiert, oder mit Legos spielt, immer kommt etwas sehr Pfiffiges heraus. Nicht einmal vor Gummibären hat er Respekt.
In diesem kleinformatigen, aber dicken neuen Buch nimmt er sich jeweils zwei Wortpaare vor und interpretiert sie mit schnellen dicken, schwarzen Strichen. Nur – viele, zuletzt – geschafft, Rock – Rock. Sie fragen sich wahrscheinlich: Hä, was soll das? Aber wenn eine Dame im Rock auf der E-Gitarre fetzt, wird es schon klarer. Und wenn bei zuletzt nur noch ein Ei im Karton ist und auf der gegenüberliegenden Seite einer die Arme hochreisst, weil er sein Puzzle gerschafft hat (geschafft), dann wissen Sie, wie es so ungefähr funktioniert. Es bleiben diese Bruchteile einer Sekunde, die man braucht, aber dann: Ja, klar, super, genial.
Ich finde leider keine Abbildungen (die eventuell rechtefrei sind). Deshalb bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als in der Buchhandlung im Buch zu stöbern. Nehmen Sie sich Zeit dafür.
___________________________
G.K.Chesterton * 1874
Kerstin Hensel * 1961
Dagmar Chidolue * 1944
haben heute Geburtstag
____________________________
Hugo Ball
Frühling
So hast du in Behutsamkeit
Mit Lauben und mit Ranken
Den Garten meiner Nacht umsäumt
Jetzt lächeln die Gedanken.
Nun singen mir im Gitterwerk
Die süßen Nachtigallen
Und wo ich immer lauschen mag
Will mir ein Lied einfallen.
Die Sonne strahlt in deinem Blick
Und geht in meinem unter.
So schenkst du mir den schönen Tag
Ein mildes Sternenwunder.
So hast du meinen dunklen Traum
Durchleuchtet aller Enden
Und wo ich immer schreiten mag,
Begegne ich deinen Händen.
___________________________
Endlich entdeckt:
Wolfgang Herrndorf: „In Plüschgewittern„
Rowohlt Taschenbuch € 8,99
„Ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, hat Erika gesagt, der sich für rein gar nichts interessiert. Dann ist ja alles in Ordnung, habe ich gesagt. Und darauf Erika: Genau das meine ich.“
„Wenn man Desmond in sieben oder acht Stücke hauen würde, könnte man ein paar ordentliche Geisteswissenschaftler aus ihm gewinnen. Aber so ist er praktisch lebensunfähig.“
„Ines versteht alles, was ich sage, und ich verstehe alles, was sie sagt. Das klingt banal, aber das passiert mir nicht oft.“
So beschreibt der Protagonist des Romanes drei seiner Freunde / Freundinnen und diese Zitate geben allein schon einen guten Einblick in die Schreibweise von Wolfgang Herrndorf.
„Plüschgewitter“ erschien schon 2002 im Verlag 2001 und kam ein paar Jahre später in einer überarbeiteten Version bei Rowohlt heraus. August Diehl hat eine vom Autor gekürzte Ausgabe eingelesen. Im Moment sind die CDs jedoch nicht mehr lieferbar.
Bei der Lektüre dieses Romanes wurden mir viele Zusammenhänge zu seinen anderen Büchern bewusst. Gerade Textpassagen aus diesem, seinem ersten Roman, und seinem letzten, nicht fertiggewordenen Roman, „Bilder einer großen Liebe“ sind verblüffend. Obwohl Jahre dazwischen liegen, obwohl seine Krankheit ihm einen Strich durch sein Leben gemacht hat, tauchen ähnliche Textpassagen und gleiche Motive auf.
Herrndorf lässt seinen jungen Mann durch die Republik ziehen. Er verabschiedet eine Freundin auf einer Autobahnraststätte, er wohnt kurzfristig in seinem Elternhaus in Hamburg, das mittlerweile von seinem Bruder und seiner schwangeren Frau bewohnt wird und landet im Berliner Untergrund, zehn Jahre nach Wiedervereinigung. Er erzählt über seine gescheiterten Lieben und Episoden aus seiner Jugend und Kindheit.
Er ist auf der Suche, er wird zum zynischen Beobachter und gleichzeitig zum empathischen Chronisten dieser Zeit in der Hauptstadt.
Er ist ein Verlierer und schlägt helfende Hände aus. Er will seinen Weg alleine gehen, sein wirkliches Ich finden und kommt dabei vom Regen in die Traufe.
Herrndorfs Bücher wirken noch lange nach. So habe ich die Text-Musik-Performance zu „Bilder einer großen Liebe“ von Sandra Hüller und Band schon zehnmal gehört und auch die „Plüschgewitter“ haben sich bei mir festgesetzt und ich merke, wie stark der Roman ist, wenn ich in aktuelle Leseexemplare von bekannten deutschen Autoren hineinlese.
Leseprobe
__________________________
Hartmut Bögel radelt zur WM nach Russland und ist mittlerweile in Polen.
Hier seine Blog-Adresse: https://hardy-radelt-2018.tumblr.com/
Skizzen von Menschen … auf dem Berliner Marheinekeplatz.
Weitere Skizzen auf:
https://surrey-skizzenblog.blogspot.de/2018/05/snntagsskizzen-092018-people.html
[wpvideo a8tkSd4Q]
Heute haben
Ralph Waldo Emerson * 1803
Max von der Grün * 1926
Raymond Carver * 1938
Jamaica Kincaid * 1949
Geburtstag.
________________________
Ralph Waldo Emerson
Waves
All day the waves assailed the rock,
I heard no church-bell chime;
The sea-beat scorns the minster clock
And breaks the glass of Time.
_________________________
James Krüss: „Kori, Kora, Korinthe„
Mit Illustrationen von Sybille Hein und Martina Mair
Oetinger Taschenbuch Verlag € 7,99
Für Kinder ab fünf Jahren
Ein Taschenbuch für in die Satteltasche bei der Pfingst-Radl-Tour. Der Verlag wirbt mit den schönsten Gedichten von James Krüss. Das mag ein wenig geschummelt sein, aber wir entdecken doch das ein oder andere Gedicht, das wir schon als Kinder selbst gelesen und unseren Kinder vorgelesen haben. Jetzt sind die Enkel dran. Und für die ist es dann auch gemacht. Für ErstleserInnen in großem Druck mit vielen Illustrationen ist es ein perfekter Einstieg in die Welt des Kinderbuchdichters von Helgoland.
Die kleinen Pferde heißen Fohlen, Das dankbare Giraffenkind, Kleine Katzen, Affenschule, Ein kleiner Schwan, Kleine Hunde, Wer erzieht den kleinen Elefanten, Hundertzwei Gespensterchen, Die Maus Kathrein, Das Hexen-Rückwärts-Einmaleins, Der Zauberer Korinthe, Schneemannslos, Die Weihnachtsmaus.
Mir wird ganz schummerig bei der Maus Kathrein und dem Zauberer Korinthe, die in „Mein Urgroßvater und ich“ zu finden sind.
Heute haben
Henri Michaux * 1899
George Tabori * 1914
Joseph Brodsky * 1940
Walter Moers * 1957
Michael Chabon * 1963
Geburtsag und Bob Dylan.
_________________________
Und hier finden Sie die Setlist zum Konzert in der Ratiopharm Arena in Neu-Ulm am 12.April 2018.
Es war ein großartiges Konzert.
Gerade noch rechtzeitig erwischt, bevor er Philip Roth auf seiner Wolke etwas vorsingen kann.
Und eine Woche später ein komplettes Konzert in Salzburg.
https://www.youtube.com/watch?v=2WUOaw7ygf0
__________________________
Peter Stamm erhielt am 13.Mai den Solothurner Literaturpreis 2018.
Am 18.Mai war er in Ulm.
Peter Stamm:
Dankesrede Solothurner Literaturpreises, 13.5.2018
Liebe Leserinnen und Leser,
Wenn Menschen mir sagen, sie könnten ohne Bücher nicht leben, so kommt mir das immer wie das Eingeständnis einer Schwäche vor. Damit will ich nicht sagen, dass ich ohne Bücher leben möchte, aber vielleicht wäre es mein Ziel, dass die Bücher sich für mich immer überflüssiger machten, bis ich sie irgendwann nicht mehr brauchte und sie nur noch manchmal in ihren Regalen betrachtete als Zeugen des Weges, den ich gegangen bin. Es mag seltsam klingen, wenn ein Schriftsteller das sagt, aber mit den Jahren ist in mir die Überzeugung gewachsen, dass alles, was wirklich zählt, dass das Wesentliche sich nicht in Worte fassen lässt.
Als junger Autor notierte ich mir eine Stelle in Thomas Bernhards »Ritter, Dene, Voss«
Wir strengen uns unser ganzes Leben nur an
um zwei drei Seiten unsterblicher Schrift
mehr wollen wir nicht
aber es ist doch gleichzeitig das Höchste
So erhebend diese pathetischen Worte für einen jungen Schriftsteller waren, schien ich doch schon damals an ihnen zu zweifeln, an der Macht und der Unsterblichkeit der Literatur. Vor allem natürlich meiner Literatur. Die erste Version meines Romans »Agnes«, die ich 1993 als dreissigjähriger schrieb, endet – auch nicht ohne Pathos – mit den Worten:
»Ich habe kein Verlangen, mit meinen Büchern zu sagen: »Hier ist jemand gewesen, hier hat ein Mensch, haben Menschen gelebt.« Nur an Agnes möchte ich erinnern. Nicht, weil sie bes¬ser war als wir anderen, aber weil es der einzige Weg für mich ist, sie nicht so schnell zu vergessen, sie noch ein wenig bei mir zu behalten, bevor sie ganz in der Entfernung verschwindet.«
Seither haben immer wieder Protagonisten meiner Erzählungen und Romane an der Literatur gezweifelt, sich von ihr abgewandt. Agnes besitzt fast keine Bücher, von Kathrine in »Ungefähre Landschaft« heisst es, dass ihr Mann Thomas sich so lange über ihre Bücher lustig gemacht habe, bis sie sie irgendwann »der Bibliothek geschenkt oder einfach weggeworfen« habe. Als Andreas in »An einem Tag wie diesem« seinen Haushalt auflöst, ergeht es seiner kleinen Bibliothek nicht besser:
»Er hatte die Bücher aus dem Regal genommen und auf dem Boden zwei Stapel gemacht. Er schaute sie noch einmal durch und zog ein Buch von Jack London heraus und jenes von dem Aupairmädchen. Alle anderen warf er weg.«
Der Ich-Erzähler in »Die Verletzung«, einer Kurzgeschichte aus dem Band »Wir fliegen«, verbrennt scheinbar grundlos seine gesamte Bibliothek:
»Am nächsten Tag machte ich weiter. Ich war jetzt systematischer, stapelte meine ganzen Bücher neben dem Ofen und verbrannte eines nach dem anderen. Ich brauchte den ganzen Morgen dafür. Dann holte ich meine Notizen aus den Schubladen, meine Tagebücher, die Zeitungsartikel, die ich aufbewahrt und nie gelesen hatte. Ich verbrannte alles.«
Von der Buchhändlerin Anja in der Erzählung »Im Wald« aus der Sammlung »Seerücken« heisst es, sie hätte »mit Büchern nichts mehr am Hut. Seit sie hier draußen wohnen, erscheint ihr das Lesen als Zeitverschwendung, erst recht das Fernsehen. Nur Musik hört sie noch dann und wann.«
Thomas in »Weit über das Land« geht noch einen Schritt weiter:
»Auch das Lesen hatte er aufgegeben, nicht einmal mehr die Zeitung schaute er an. Selbst das Transistorradio, das in seinem Zimmer stand, schaltete er kaum ein, sogar Musik kam ihm nur noch vor wie eine Ablenkung vom Wesentlichen.«
Und als Christoph, der Held meines letzten Romans, das Manuskript seines Romans in einem Restaurant liegenlässt, macht er sich nicht einmal die Mühe, es wiederzubeschaffen:
»Ich überlegte, ob ich die Kneipe suchen sollte, in der ich meinen Rucksack liegengelassen hatte, aber ich bezweifelte, dass ich den Ort wiederfinden würde, ich war nicht einmal mehr sicher, ob es ihn überhaupt gab.«
Schreiben ist Nebensache. Lesen ist Nebensache. Die Literatur braucht das Leben mehr, als das Leben die Literatur. Sie ist immer weniger, manchmal sehr viel weniger, sie ist nie genug.
Ein Schriftsteller, der nicht schreibt ist kein Schriftsteller. Einer der nicht mehr schreibt, nicht mehr liest ist hingegen vorstellbar. Christoph, der Fotograf und Vortragsreisende aus meiner Erzählung »Fremdkörper«, träumt davon, seine Diavorträge über das Hölloch nur noch aus Stille und Dunkelheit bestehen zu lassen: »Wenn er sehr konzentriert wäre, wenn er es schaffte, seine Konzentration auf das Publikum zu übertragen, müsste es möglich sein, ganz auf Bilder zu verzichten und schließlich auch auf Worte und nur noch in der Dunkelheit zu sein und die Zeit vergehen zu lassen, eine Stunde, zwei Stunden.«
Das könnte das Ende dieser Rede sein oder ihr Anfang. Ich würde hier stehen, stumm, wir alle würden den Raum wahrnehmen, die anderen Menschen darin und uns selbst. Vielleicht würden wir entfernte Geräusche aus der Stadt hören, ein unterdrücktes Husten aus einer anderen Sitzreihe, die Schritte eines Gastes, der enttäuscht den Raum verlässt, das Zuschlagen der Tür. Vielleicht würden wir einen Duft wahrnehmen, der uns vorher nicht aufgefallen ist, ein Parfum, das uns an jemanden erinnert, Küchengerüche aus einem benachbarten Restaurant. Wir würden darüber nachdenken, was uns hierhergebracht hat, ob es eine gute oder eine schlechte Entscheidung gewesen sei zu kommen. Wir würden unserer Sitznachbarin, die der eigentliche Grund für unser Hiersein ist, zuflüstern, wollen wir gehen? Warte, würde sie sagen, vielleicht kommt ja noch was.
Wir wären angespannt, aufmerksam, voller Erwartung. Aber nach kurzer Zeit würde unsere Konzentration nachlassen – sowohl Ihre als auch meine – wir würden anfangen uns zu langweilen. Die ersten von Ihnen würden aufstehen und gehen, andere würden folgen, dann immer mehr, bis nur noch ein paar wenige hier sitzen würden, die ganz Ausdauernden oder die, die eingeschlafen wären. Ich frage mich, wie lange es dauern würde, bis ich ganz alleine hier stehen würde.
»Indem man schweigt, erhält man das Schweigen nicht«, sagte Peter Handke in einem Gespräch mit Herbert Gamper. »Aber indem man die Stille und das Schweigen und die Leere in eine Form fasst, erhält man die Stille und die Leere und das Schweigen.«
So wird mir das Vorrecht nicht zuteil, das meine Figuren haben: nicht mehr zu lesen, nicht mehr zu schreiben, zu verstummen, sich als fiktive Figuren der Fiktion zu verweigern und ihr so in gewissem Sinne zu entkommen. Schon seit Jahren beschäftigt mich der Gedanke, eine Geschichte ganz ohne Personen zu schreiben. Aber selbst wenn meine Figuren mich irgendwann verlassen werden und nur noch die menschenleeren Orte bleiben, werde ich weiterschreiben müssen, um ihr Verschwinden darzustellen. Vielleicht werden meine Texte dann noch ein bisschen leiser, ein bisschen kürzer, die Sprache noch ein bisschen einfacher.
Es war nie meine Absicht, schreibend Welten zu erschaffen. Es war nie meine Absicht, schreibend der Wirklichkeit zu entfliehen sondern im Gegenteil, mich ihr zu stellen. Meine Texte bezogen sich immer auf eine Welt, die ausserhalb von ihnen lag. Wegbeschreibungen durch unbekannten Landschaften, habe ich sie einmal genannt. Literatur kann die Wirklichkeit nicht ersetzen, aber sie kann – für mich als Autor und für meine Leserinnen und Leser – ein Instrument sein, ein Hilfsmittel, die Wirklichkeit klarer zu sehen. Das Sehen jedoch, kann die Literatur uns nicht abnehmen.
Und jetzt erst ergibt es einen Sinn, dass meine Figuren sich von der Literatur abwenden, dass meine Literatur sich selbst überflüssig zu machen versucht. Wenn sie ein Hilfsmittel ist, die Welt klarer zu sehen, dann müsste es unser Ziel sein, irgendwann auf dieses Hilfsmittel verzichten zu können. Dann würde der Text immer durchsichtiger, bis er endlich verschwände.
Das Verstummen eines Autors kann nur das Ende einer langen Entwicklung sein, die ohne das Lesen und das Schreiben nicht möglich gewesen wäre. Das Schweigen des jungen Mannes ist lächerlich, das Schweigen des alten ist seine Bestimmung. Ich meine kein gravitätisches Schweigen sondern ein heiteres im Sinne Wittgensteins: »Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.«
Und so schreibe ich weiter, bis ich irgendwann ganz in der Stille angekommen bin und das Verstummen zu meinem letzten Werk wird. Vielleicht versöhnt sich dann der alte Mann mit dem jungen, wie am Ende meines letzten Romans, als die beiden sich auf einem Spaziergang begegenen und es dem jungen vorkommt, »als verbinde uns etwas, was viel tiefer reicht als Worte, als würden wir eins, ein vierbeiniges Wesen, zugleich alt und jung, am Anfang und am Ende.«
»Und während ich zurück nach Hause gehe, stelle ich mir vor, so zu enden wie er, von allem befreit dem Leben zu entkommen, ohne eine Spur zu hinterlassen. Hinzufallen auf einem eisigen Weg und nicht wieder hochzukommen und mich irgendwann zu ergeben. Mein Atem wird ruhiger, die Kälte spüre ich nicht mehr. Ich denke an mein Leben, das noch gar nicht stattgefunden hat, unscharfe Bilder, Figuren im Gegenlicht, entfernte Stimmen. Seltsam ist, dass mir diese Vorstellung schon damals nicht traurig vorkam, sondern angemessen und von einer klaren Schönheit und Richtigkeit wie dieser Wintermorgen vor langer Zeit.«
Ich danke der Jury und den Stiftern für den Solothurner Literaturpreis.
Peter Stamm dokumentiert auf Facebook seine Lesereisen anhand der Hotelzimmer.
https://www.facebook.com/autorstamm/
Heute haben
Harry Graf Kessler * 1868
Max Herrmann-Neiße * 1886
Pär Lagerkvist * 1891
Annemarie Schwarzenbach * 1908
Geburtstag
_____________________
„Am weitesten entfernt von feiner Geistigkeit ist der Fanatiker, dessen ganze Seele sich um einen blendenden Begriff wie die Motten um den Leuchtturm im Kreise oder Wirbel dreht.“
Harry Graf Kessler
_____________________
Katherine Heiny: „Gemischte Gefühle„
Aus dem Amerikanischen von Marion Hertle
Hoffmann & Campe Verlag € 20,00
Im Original als Taschenbuch.
„Standard Deviation“ € 15,90
Gestern hatten wir ein humoriges Buch über ein Ehepaar (und den renitenten Vater), heute eine aktuelle Ehegeschichte. Eigentlich sind es viele Alltäglichkeiten, die uns die Autorin Katherine Heiny erzählt, aber bei ihr werden daraus Feuerwerke gespickt mit Sprachwitz. Graham hat zum zweiten Mal geheiratet und sich Audry herausgesucht, die das genaue Gegenteil seiner ersten Frau Elspeth ist. Zusammen mit ihrem Sohn Matthew, der eine Art von Asperger hat, leben sie schön und wohlhabend in Manhattan. heiny streut Dialoge ein, wie wir sie aus dem Kino kennen. Schnell, frech und immer für ein Stolpern beim Lesen gut. Hinter der lankonischen Beschreibung der Personen steckt eine große Ernsthaftigkeit und Empathie. Wir lachen und amüsieren uns über die perfekt ausgelegten Fallstricke und sehen uns in der nächsten Sekunde selber hineinfliegen.
Ein großer Spaß, ein kurzweiliges Lesevergnügen und genau das richtige Buch in der Zeit, bevor der nächste Woody Allen Film in die Kinos kommt.
Heute haben
Gérard de Nerval * 1808
Arthur Conan Doyle * 1859
Johannes R.Becher * 1891
Robert Neumann * 1987
Geburtstag
_______________________
Im Gedichtekalender zu finden:
Franz Werfel
Geistige Freude
Es ist in einer unbekannten Frühe,
Da letzter Stern anwächst zu riesigem Schein.
Gewaltige Eos kommt. Das Werk der Mühe,
Kasernen und Fabriken krachen ein.
Und Tempel, die noch nie so göttlich brannten,
Mit brüllenden Kuppeln in den Himmel stehn,
Und Menschen sieht man nur mit ausgespannten
Umarmungs-Armen, große Kreuze, wehn.
Auf den geborstenen Gräbern selbst die Toten
Am Hügel sitzen, atmend, aufgedeckt,
Wie Kinder früh am Bettrand, starr, mit rotem,
Zerbrochenem Mund, das Antlitz aufgebleckt.
Nach Nord, Süd, Ost und West vier Tuben beben.
Auf allem Munde kniet das Eine Wort.
Gott selber wirft von seinem Gnadenort
Sich uns gehüllt in Strahlenstaat ans Leben.
________________________
John Fante: „Voll im Leben„
Aus dem Amerikanischen von Doris Engelke
Maro Verlag € 18,00
Eine weitere Episode aus dem Leben des Drehbuchautors John Fante.
Erschienen ist das Buch zu Beginn der 50er Jahre und der rührige Maro Verlag aus Augsburg bringt den schmalen Roman in einer Neuausgabe heraus. In den letzten Jahren gab es eh einige Neuübersetzungen, des hier in Deutschland immer noch nicht so bekannten Autors. Alex Capus übersetzte zwei Titel von John Fante für den Blumbar Verlag.
Jetzt aber zu „Voll im Leben“, zu John Fante, seiner schwangeren Frau und seinem eigenbrötlerischen Vater.
Endlich ist etwas Geld im Hause Fante. Jeden Donnerstag gibt es einen satten Scheck für seine Drehbucharbeiten. Joyce ist schwanger und alles könnte so perfekt sein. Wenn sich die junge Frau nicht während der Schwangerschaft sehr verändern würde und sie auch noch durch den termitenvernagten Küchenfußboden krachen würde. So steht sie bis zur Hüfte versunken und klemmt mit ihrem dicken Bauch fest.
Jetzt ist Not am Mann und John Fante fällt sein Vater ein, der Maurer war und sich mit solchen Dingen bestens auskennt. Das Problem dabei ist unter anderem, dass John seine Eltern seit sechs Monaten nicht besucht hat und dass Vater und Mutter noch sehr in der italienischen Tradition verhaftet sind. John macht sich auf die Reise von Los Angeles nach San Juan und damit nimmt beginnt das große Chaos.
John Fante erzählt diese Geschichte zwischen Vater und Sohn mit großer Empathie, hintergründigem Witz und tiefsinniger Tragik. Für uns Leser ist es ein großes Vergnügen, da die Lektüre viele liebgewonnene Italien-Klischees bedient.
Ein Buch für die warmen Tage, für abends nach getaner Arbeit und für unterwegs. Aber Achtung: Nicht dauernd lachen beim Lesen, sonst meinen die Mitreisenden noch, es stimmt etwas nicht mit Ihnen.
John Fante wurde 1909 als Sohn italienischer Einwanderer in Colorado geboren und ging Ende der zwanziger Jahre nach Kalifornien. Dort begann er unter schwierigen Bedingungen eine Karriere als Autor. John Fante ist in Deutschland noch immer ein Geheimtipp. Auch in den USA wurde er erst in hohem Alter zu den großen West-Coast-Schriftstellern wie Mailer, Fitzgerald und Chandler gezählt. Seine Beachtung stieg, nachdem Charles Bukowski ihn zu seinem »Gott« erklärte: »Hier endlich war ein Mann, der keine Angst vor Emotionen hatte. Mit überwältigender Schlichtheit vermischen sich Humor und Schmerz.« Der Durchbruch gelang ihm 1938 mit dem Roman »Ich – Arturo Bandini«; seinen Lebensunterhalt verdiente er jedoch zeit seines Lebens als Drehbuchschreiber für die Filmindustrie. Weshalb Fante in seiner Schaffenszeit weitgehend unbeachtet blieb, wird heute der damaligen Verlagswelt zugeschrieben. Seine Romane »Wait until Spring, Bandini«, »Ask the Dust« und »Dago Red« blieben zunächst Insider-Tips, die von den großen Verlage ignoriert wurden. Fante musste sich als Drehbuchautor in Hollywood durchschlagen. 1978 verlor Fante aufgrund einer Diabetes seine Sehkraft; später mussten ihm beide Beine amputiert werden. Sein letztes Buch über seine ersten Tage in Los Angeles diktierte er seiner Ehefrau, bevor er 1983 in Malibu, Kalifornien, verstarb.
Dessiner Liège 2018
Die Zeichnerkollegen aus Lüttich riefen … und mehr als 250 Zeichner aus allen Teilen Europas kamen, um mit ihnen drei Tage lang die schöne Stadt Liège zu skizzieren.
Jeder erhielt zur Begrüßung ein Leporello-Skizzenbüchlein das er oder sie am abschließenden Samstag in der gemeinsamen Ausstellung auslegte.
Es hat wieder sehr viel Spaß gemacht, all die netten Zeichnerkollegen zu treffen und ein lebendiges Bild zu den Zeichnungen zu fügen, denen man oft schon lange auf elektronischem Wege folgt.
Danke Liège!!
Weitere Liège Skizzen:
http://surrey-skizzenblog.blogspot.de/2018/05/dessiner-liege-2018.html
Heute haben
Rahel Varnhagen von Ense* 1771
André Kaminski * 1923
Fritz Rudolf Fries * 1935
Otto Jägersberg * 1942
Daniel Glattauer * 1960
Jodi Picoult * 1966
Geburtstag.
_______________________
Paula Dehmel (1862-1918)
Wenn’s Pfingsten regnet
Wenn’s Pfingsten regnet
Oben aus dem Fahnenhaus
Guckt das schwarze Wettermännchen raus,
Spreizt die Beine und grinst uns an;
Schäme dich, alter Wettermann!
Am Ostersonntag, vor sieben Wochen,
Hast du dem Fritze fest versprochen,
Daß zu Pfingsten, im Monat Mai,
Das allerschönste Wetter sei.
Und nun regnets, liebe Not,
Alle hellen Blüten tot,
Sie liegen da wie nasser Schnee,
Auf den Wegen steht See an See;
Ja, wenn wir schon drinnen baden könnten,
Wie die Spatzen oder die Enten!
Wir dürfen aber garnicht raus,
Sehn so mucksch wie Maulwürfe aus;
Röch nicht der Kuchen so lecker her,
Wüßt man gar nicht, daß Feiertag wär.
Nicht mal die Pfingstkleider kriegt man an;
Schäme dich, schwarzer Wettermann!
_______________________
Unser Jugendbuchtipp:
Alex Wheatle: „Liccle Bit„
Der Kleine aus Crongton
Kunstmann Verlag € 18,00
Jugendbuch ab 14 Jahre
Liccle Bit, so wird der 14jährige Lemar Jackson von seinen Freunden genannt, ist zwar nur der Zweitkleinste in der Klasse, aber dieser Spitzname ist ihm hängengeblieben. Er lebt in einer zusammen mit seiner Mutter, Großmutter, seiner Schwetser und deren Säugling in einer kleinen Wohnung. Sein Vater lebt bei einer anderen Frau. Tagsüber ist er mit Jonah und McKay zusammen, die ihn zwar dauernd necken, aber doch ein engverschweisstes Freundestrio sind. Als Liccle Bit ein Date mit dem heissesten Mädchen der Schule hat, können sie es kaum fassen.
Das Leben in Crongton (einem Stadtteil einer großen englischen Stadt) ist nicht einfach. Die Familie bemühen sich, dass sie ihren Lebensunterhalt verdienen können. Gleichzeitig herrscht ein Bandenkrieg zweier Gangs. Der Anführer aus Liccle Bits Viertel ist gleichzeitig der Vater des Säuglings seiner Schwester. Liccle Bit berichtet selbst aus seinem Alltag und obwohl daraus ein düsterer, brutaler Jugendroman mit gut und böse werden könnte, legt der Autor seinem Helden eine lockere, freche, witzige Sprache in den Mund. (Ich habe mir sogar die Musik angehört, die Liccle Bits Schwester hört). Liccle Bit bekommt zwar von vielen Seiten Steine in den Weg gelegt, er meint, dass sich alle gegen ihn verschworen haben, seine Mutter meckert nur an ihm herum, seine Schwester zeigt ihm die kalte Schulter, und doch halten sie zusammen, wenn es darauf ankommt. Alex Wheatle trifft einen flotten, coolen, frechen Ton, der nicht anbiedernd ist.
Auch als Liccle Bit durch seine Gutmütigkeit in falsches Fahrwasser gerät, merken wir, dass er den Weg heraus schaffen wird.
Neben dieser lockeren Sprache, und dem Leben auf der Straße, erleben wir mit Liccle Bit, wie er sich Sorgen und Gedanken macht und dann wird es wirklich ergreifend schön.
„Ich merkte, wie mein Herz sich wie ein aufblasbarer Strandball im Swimmingpool wieder an die Oberfläche poppte.“
Ich freue mich schon auf den zweiten Teil, der im Spetember erscheinen solll.
Hier geht es zur Leseprobe.
_______________________________
Heute abend ab 19 Uhr im Schubart Gymanssium, Ulm.
Peter Stamm liest aus seinem neuen Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“.
„Magdalena musste sich über meine Nachricht gewundert haben. Ich hatte keine Telefonnummer und keine Adresse angegeben, nur die Zeit und den Ort und mei
nen Vornamen: Bitte kommen Sie morgen um vierzehn Uhr zum Skogskyrkogården.
Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.“