Donnerstag, 30.April

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Heute haben
Fritz von Herzmanovsky-Orlando * 1877
Jaroslav Hasek * 1883
Luise Rinser * 1911
Ulla Hahn * 1946
Geburtstag
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Thomas Dietrich
Maskenball

„Masken kommen vors Gesicht!“,
heißt die neue Bürgerpflicht.
Schützen so vor bösen Viren,
weshalb wir uns auch nicht zieren.

„Das ist neu und ungewohnt.“,
manch ein Bürger flugs betont.
„Und mit Brille macht´s Beschwerden,
wenn die Gläser neblig werden.“

Leute, hört jetzt auf zu stöhnen,
und tut einfach Euch gewöhnen.
Doch nur drinnen, rät der Richter.
Draußen zeigen wir Gesichter.

Klinisch grün muss es nicht sein.
Farbe bringt mehr Freude rein.
Bunt und lustig, schrill und laut,
sowas traget auf der Haut.

Phantasie und tolle Muster
machen auch das Hirn robuster.
Nehmt dem Trübsinn seine Kraft,
Heiterkeit mehr Mut uns schafft.

Darum greift zum schönen Tuch,
lest auch wieder mal ein Buch,
und trotz alldem bleibet heiter:
So nur geht das Leben weiter!

© Thomas Dietrich
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Dorthe Nors: „Die Sonne hat Gesellschaft“
Aus dem Dänischen von Frank Zuber
Kein & Aber Verlag € 20,00

„I would love people to be entertained, to love and to cry with these stories!“
Dorthe Nors

Dieses Zitat setzte ich 2015 (Jastram Blog Januar 2015) vor die Besprechung ihres letzten Erzählbandes. Fünf Jahre sind ins Land gezogen, im Moment ist so vieles anders – die Erzählungen von Dorthe Nors sind immer noch unglaublich gut.

„Es ist immer möglich, sich ein Stück weiter zurückzuziehen“,
steht diese Mal als Motto vor den Texten.
Gerade in den letzten Wochen haben wir im Buchladen gemerkt, wie wichtig vielen Menschen Bücher sind. Unsere Zeit wurde entschleunigt. Nicht freiwillig. Unsere abendlichen Aktivitäten wurde auf null heruntergefahren. Dieser oben erwähnte Rückzug traf voll unseren Alltag.
Dorthe Nors schreibt diesen Alltag, die Besonderheiten bestimmter Situationen auf. Wie ein „Handkantenschlag“ (so der Titel ihres letzten Buches) treffen uns diese kurzen Erzählungen, in der, in „Auf einem Hochstand“, ein Mann vor seiner Frau flieht, da er jeden Streit mit ihr verliert. Nass, verfroren und mit einem verletzten Fußgelenk sitzt er auf einem Hochstand, denk die ganze Zeit darüber nach, wie seine Frau sich Sorgen um ihn macht und wie Wölfe unter ihm lauern.
Mit „Es war nur eine Frage der Zeit“ beginnt die Erzählung und endet mit „Nebel ist aufgezogen, es wird eine kalte Nacht, und jemand hat Wölfe gesehen.“
Kleinste Episoden aus verschiedenen Biografien verpackt die Autorin zu messerscharfen Betrachtungen und komprimiert sie zu extrem guten Short Stories. In den USA erntet sie seit Jahren höchstes Lob, ihre Texte werden im New Yorker abgedruckt. Hier im deutschsprachigen Raum tut sie sich deutlich schwerer. Schade.

Mittwoch, 29.April

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Heute haben
Konstantinos Kavafis * 1863,
(der am gleichen Tag 1933 auch gestorben ist)
Egon Erwin Kisch * 1885
Walter Mehring * 1896
Walter Kempowski * 1929
Lilian Faschinger * 1950
Geburtstag
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Friedrich von Schiller
Hoffnung

Es reden und träumen die Menschen viel
von bessern künftigen Tagen;
nach einem glücklichen, goldenen Ziel
sieht man sie rennen und jagen.
Die Welt wird alt und wird wieder jung,
doch der Mensch hofft immer Verbesserung.

Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein,
sie umflattert den fröhlichen Knaben,
den Jüngling locket ihr Zauberschein,
sie wird mit dem Greis nicht begraben;
denn beschließt er im Grabe den müden Lauf,
noch am Grabe pflanzt er – die Hoffnung auf.

Es ist kein leerer, schmeichelnder Wahn,
erzeugt im Gehirne des Toren,
im Herzen kündet es laut sich an:
zu was Besserm sind wir geboren.
Und was die innere Stimme spricht,
das täuscht die hoffende Seele nicht.
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Sarah Wiltschek empfiehlt:

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Harald Welzer: „Alles könnte anders sein“

Jetzt als Fischer Taschenbuch € 12,00

Bitte lest und lesen Sie dieses Buch! Die bessere Welt, der wir alle nachtrauern, der wir misstrauen und an die wir nicht mehr glauben, steht nämlich genau vor unserer Tür. Wir müssen nur erkennen, wo die Ressourcen und die Errungenschaften unserer demokratischen Gesellschaft sind, die wir auf Teufel komm raus verteidigen sollten (sei es in Form von Gemeinplätze wie das öffentliche Schwimmbad, die Bibliothek oder die Parkanlagen), sei es das Rechtssystem, das keiner Korruption unterworfen ist oder das Gesundheitssystem, zu dem bisher noch jeder gleichermaßen Zugang hat (jedenfalls im Vergleich zu sehr vielen anderen Ländern dieser Erde). Oder auch in Sachen Umwelt- und Klimakatstrophe: Wie viel ist in den letzten Jahren schon viel besser geworden, wie viele Flüsse sind renaturiert, wie viele Wälder wieder aufgeforstet, wie viele Tierarten wieder angesiedelt worden? Der Soziologe Harald Welzer beschönigt nichts. Er fordert uns bloß dazu auf, an das gute Leben zu glauben und auch danach zu handeln. Weg von der destruktiven Untergangshysterie, die bloß denen, die auf Kosten von Mensch und Natur ihren Erfolg gründen, in die Hände spielt.
Es geht ihm um Gerechtigkeit, um Solidarität, ja ganz vereinfacht gesprochen, um Freundlichkeit und damit um mehr Autonomie und die Befreiung aus einem Ego-Shooter-Kapitalismus, der in seiner jetzigen Form keinerlei sozial- und umweltverträgliche Zukunft mehr hat, und aus einer digitalen Diktatur, der wir uns willenlos hingeben.
Was wir brauchen ist v.a. mehr Zeit, um neue, völlig andere Ideen zu entwerfen. Von uns und einer Gesellschaft, einer ganzen Welt, in der wir gerne leben und in die wir guten Gewissens unsere Kinder und Enkelkinder entlassen. Zeit, die wir außerdem mit Tätigkeiten füllen, die wir als sinnvoll erleben und nicht als Bullshitjobs.
Welzer skizziert ganz konkrete Arbeitsmodelle, die er 80/20 nennt. Also 80%, die der Lohnarbeit nachgegangen und 20%, die einer ehrenamtlichen Tätigkeit gewidmet wird. Alles subventioniert vom Staat, der ja auch heute schon darauf angewiesen ist, dass ganze Branchen zum großen Teil in ehrenamtlicher Hand sind. Allein die Flüchtlingshilfe im Sommer 2015 ist so ein Beispiel. Die Arbeitsgeber werden also nicht mehr belastet, haben vielmehr leistungsfähigere, weil nicht chronisch überarbeitete, Angestellte.
Das Grundeinkommen ist eine weitere, sehr konkrete Lösung, um ein Gleichgewicht in der Gesellschaft herzustellen, das wirklich gleiche Zugangschancen für alle eröffnet, egal aus welchem Elternhaus man kommt. Bewiesen ist, wer aus armen Verhältnisse kommt, kämpft lebenslang mit Existenzängsten, die keine akademischen Höhenflüge zulassen. Dem Argument, dass mit dieser bedingungslosen Grundsicherung keiner mehr arbeiten würde, gibt er wenig Chance, weil doch die meisten arbeiten, einen strukturierten Tag oder einfach auch mehr Geld haben wollen.
Zitat: „Und schließlich gibt es noch die, die tatsächlich nie arbeiten wollen. Na und? Was ist dabei? Wo wäre denn das normative Kriterium, diese Wahl als schlechter anzusehen als die des „Entscheiders“ bei Monsanto, der Bauern vorschreibt, welches Saatgut sie zu kaufen haben? Wer entscheidet denn, wer eine für das Gemeinwohl bessere Rolle spielt – jemand, der sein Leben lang schwimmen geht, Bücher liest, Netflixserien schaut, mit den Kindern spielt oder auch nur: sich besäuft oder ein Automanager, der die Gesellschaft brutal geschädigt hat?“
Auch das Finanzierungskonzept dazu klingt realistisch. So wie Welzer all seine Ideen mit real umsetzbaren Methoden und Herangehensweisen erklärt. Demnach geht es nicht mehr um das, was tatsächlich machbar, sondern um das, was gewollt ist.
Eine andere Idee, die, wenn man Welzer zuhört, ganz und gar machbar und ganz sicher keine spinnerte Utopie mehr ist, ist die autofreie Stadt. Spätestens nach dieser Lektüre versteht man nicht mehr, warum es tatsächlich noch Autos in modernen Städten gibt. Zu gut sind die Bilder vom Stadtraum, der den Menschen, den Fußgängern, Fahrradfahrern, den spielenden Kindern gehört! Straßen werden zu Gemeinplätzen, Parkplätze zu Baupflächen für dringend benötigten Wohnraum. Kopenhagen macht es vor, wir können es nach und noch besser machen. Mit einem kostenlosen und perfekt geregelten öffentlichen Nahverkehr, Gemeinschaftsgärten usw.
Welzer legt das nötige Zündholz, um optimistisch das zu tun, was jeder und jede in seinem kleinen oder größeren Dunstkreis tun kann. Wir müssen raus aus der lähmenden Denkstruktur: nur die ganz Großen in Politik und Wirtschaft könnten etwas ändern, wenn sie denn wollten. Dass jede und jeder die Macht hat, etwas zu ändern, das zeigt Welzer in vielen realen Beispielen. Sei es der Privatmann Lutz Beisel, der die Schreckensnachrichten aus dem Vietnamkrieg nicht mehr ertragen konnte, bei der Bundeswehr anrief und sie dazu brachte, schwerverwundete vietnamesische Kinder in deutschen Krankenhäuser zu behandeln (und schließlich „terre des hommes“ gründete) oder die gerade zu explosive Urban-Gardening-Bewegung, die wie die grüne Hoffnung einmal rund um die Welt exponierte und nach wie vor Menschen zusammen- und die Natur in die Stadt zurück bringt. Es sind oft kleine Ideen, die Großes bewirken.
Fangen wir an, jetzt und heute!

Dienstag, 28.April

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Oh! Zwei Flugzeuge am Himmel.

Heute haben
Kark Kraus * 1874
Bruno Apitz * 1900
Harper Lee * 1926
Terry Pratchett * 1948
Roberto Bolano * 1953
Ian Rankin * 1960
Geburtstag
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Karl Kraus
In diesem Land

In diesem Land wird niemand lächerlich,
als der die Wahrheit sagte. Völig wehrlos
zieht er den grinsend flachen Hohn auf sich.
Nichts macht in diesem Lande ehrlos.

In diesem Land münzt jede Schlechtigkeit,
die anderswo der Haft verfallen wäre,
das purste Gold und wirkt ein Würdenkleid
und scheffelt immer neue Ehre.

In diesem Land gehst du durch ein Spalier
von Beutelschneidern, die dich tief verachten
und mindestens nach deinem Beutel dir,
wenn nicht nach deinem Gruße trachten.

In diesem Land schließt du dich nicht aus,
fliehst du gleich ängstlich die verseuchten Räume.
Es kommt die Pest dir auch per Post ins Haus
und sie erwürgt dir deine Träume.

In diesem Land triffst du in leer Luft,
willst treffen du die ausgefeimte Bande,
und es begrinst gemütlich jeder Schuft
als Landsmann dich in diesem Lande.
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Der Astrid Lindgren Memorial Award 2020 geht an Baek Hee Na.
„Ihr Werk ist ein Tor zum Wunderbaren“
Mit Baek Heena wird eine der bekanntesten Illustratorinnen Koreas mit dem Astrid Lindgren Memorial Award ausgezeichnet. Der Preis ist der höchstdotierte und renommierste Kinderbuchpreis weltweit.

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Baek Hee Na und Kim Hyang Soo: „Wolkenbrot“
Mixtvision Verlag € 15,00
Bilderbuch ab 4 Jahren

„Wir ahnten, dass heute etwas ganz Besonderes passieren würde.“
Und das, obwohl es ein grieseliger Regentag war. Die beiden Mädchen ziehen sich ihre gelben Regenjacken an und gehen raus. Ja, irgendwas musste passieren. Und als sich eine kleine Wolke in einem Ast verfängt, backt ihre Mutter Wolkenbrötchen daraus. (Jetzt habe ich gerade im Netz gesehen, dass es jede Menge Rezepte für Wolkenbrot gibt) Diese Wolkenbrötchen schweben jedoch aus dem Backofen an die Küchendecke und die Kinder beginnen mit ihnen zu schweben, nachdem sie von ihnen gekostet haben. Das hat sein Gutes, da sie dadurch ihren Vater rechtzeitig ins Büro bringen, der festgekeilt in einem Bus zur Arbeit steckt. Wie das geschieht, erfahren Sie in diesem unglaublich besonderen Bilderbuch.
Aus handgefertigen Modellen wurde Fotos gemacht, digital zu Collagen verarbeitet und geben den Abbildungen etwas Fantastisches und doch sehr Reales. Wolf Erlbruch hätte seine wahre Freunde an dieser Arbeit.

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Der Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis (ALMA) ist der weltweit größte Preis für Kinder- und Jugendliteratur. Der Preis ist mit 5 Millionen SEK (rund 460.000 Euro) dotiert und wird jährlich an einen oder mehrere Preisträger vergeben. Für den Preis, der das Interesse an Kinder- und Jugendliteratur fördern soll, kommen Autoren, Illustratoren, mündliche Erzähler und Leseförderer in Frage. Der Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis wurde 2002 von der schwedischen Regierung ins Leben gerufen und wird vom Schwedischen Kunstrat verwaltet.

Montag, 27.April

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Heute haben
Arnold Höllriegel * 1883
Cecil Day Lewis * 1904
Zhang Jie * 1937
Aminata Sow Fall * 1941
Geburtstag
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Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau
Die Welt

Was ist die Welt und ihr berühmtes Glänzen?
Was ist die Welt und ihre ganze Pracht?
Ein schnöder Schein in kurzgefaßten Grenzen,
Ein schneller Blitz bei schwarzgewölkter Nacht,

Ein buntes Feld, da Kummerdisteln grünen,
Ein schön Spital, so voller Krankheit steckt,
Ein Sklavenhaus, da alle Menschen dienen,
Ein faules Grab, so Alabaster deckt.

Das ist der Grund, darauf wir Menschen bauen
Und was das Fleisch für einen Abgott hält.
Komm, Seele, komm und lerne weiter schauen,
Als sich erstreckt der Zirkel dieser Welt!

Streich ab von dir derselben kurzes Prangen,
Halt ihre Lust für eine schwere Last:
So wirst du leicht in diesen Port gelangen,
Da Ewigkeit und Schönheit sich umfaßt.
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Matt Aufderhorst: „Corona hat uns“
oder
Über das Leben und die Liebe in den Zeiten der Seuche

Im Griff? Besser gemacht? Verunsichert? Bestärkt?Erstaunt? Motiviert? Zusammengeschweißt? Inhaftiert? Oder gar befreit?
Wie kann man über die Corona-Krise schreiben, ohne die Idee der Liebe und die der Gemeinschaftaus den Augen zu verlieren? Welche Worte können wir finden, ohne Alarm zuschlagen? Oder unberührt wie die Nachrichten zuklingen? Oder leichtsinnig zu wirken? Oder zu schwermütig? Wie verändert das Virus unser Körperbild? Wie das Bewusstsein, das wirnvon uns und anderen Menschen haben? Wie unsere Unterhaltungen? Wie verändert Corona die Beziehungen zu Freundinnen und Freunden, zu unseren Familien und, denen wir zufällig begegnen? Wie robust sind Kultur, Marktwirtschaft, Kapitalis-mus, Gesundheitssystem tatsächlich? Matt Aufderhorst widmet sich all diesen Fragen indem Essay „Corona hat uns oder Über das Leben und die Liebe in den Zeiten der Seuche“. Die Sprache, die er dafür findet, ist poetisch und empfindsam, ist tiefgründig und, ja, auch das, amüsant. Am meisten überrascht wohl, wie sehr sich jede und jeder von uns in dem Text wiederfinden dürfte.

Die ersten zehn Abschnitte:

Für Priya

Teil Eins
Von außen

1.Jede Seuche kennt Gewinnerinnen und Gewinner. Der gesunde Menschenverstand gehört selten dazu.

2.Bleiben wir in den Zeiten der Seuche ruhig. Die Stunden sind laut genug. Gerade wenn das Lebentief Luft holt und vorübergehend verstummt.

3.Panik war, ist und bleibt Teil jeder Seuche. Wer einen vorsichtigen Schritt zurücktritt, hat bereits den ersten Richtung Vernunft getan. Wer dagegen einen unvorsichtigen Schritt nach vorne tritt, wird von den anderen zunächst eingekreist, dann überrannt und niedergetrampelt oder, Richtung Abgrund, mitfortgerissen.

4.Vorsicht ist in den Zeiten der Seuche eine gute Idee. Nachsicht noch eine bessere. Am besten steht uns jedoch die Umsicht zu Gesicht.

5.Sich stumm und still in den Zeiten der Seuche zuvergraben, schadet nicht nur uns selbst, sondern auch unseren Freundinnen und Freunden. Familie ganz zu schweigen. Die Vernunft lebt stets durch das freundschaftliche Gespräch. Außerdem: wer sich einmauert, für den werden Luft und Wasser auf Dauer zwangsläufig knapp. Auch wenn es, wenigstens anfangs, noch genug Ressourcen gibt.

6.Fair zu teilen, ist in den Zeiten der Seuche keine ästhetische, sondern eine moralische Frage.

7.Die vorbildliche Lebenskunst existiert niemals, jedenfalls nicht in höchster Vollkommenheit, in der Einsiedelei; selbst Henry David Thoreaus Waldenlag in Wahrheit um die Ecke einer kleinen Stadt, quasi in Rufweite. Wird uns der Rückzug angeraten, lohnt sich die Frage, warum das so ist und was die Ratgeberinnen und Ratgeber mit ihrem Vorschlagbeabsichtigen.

8.Im Fall der ansteckenden Krankheit empfiehlt sich dagegen, nach einer ärztlichen Konsultation, die freiwillige Absonderung – und zwar eine konsequente, ohne Schlupflöcher. Andere bewusst im Unklaren über eine mögliche Ansteckungsgefahr zulassen, gehört sich nicht. Hier hilft die Besinnung Kants Kategorischen Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetzwerde.“ Diese moralische Anleitung ist allgemein, da sie alle Menschen unter allen Bedingungen in die Pflicht nimmt. Heruntergebrochen ließe sich sagen: Ich füge anderen nichts zu, was ich nicht selbsterleben möchte.

9.Wird uns die Quarantäne im Krankheitsfall verordnet, rebellieren wir nicht. Nur Beschränkte halten sich für gesund, wenn sie krank sind und ein Risiko für andere darstellen. Ignoranz, der wir uns – warum auch immer – blauäugig verschreiben, kann sehr wohl einer temporären Leidenschaft so doch mit einer erstaunlichen Ausdauer vorgaukelt.

10.Sind wir erwiesenermaßen gesund und sollen, dank einer groben Fehleinschätzung, als einzige oder einziger in Quarantäne, während alle anderen ihre Bewegungsfreiheit behalten, machen wir uns lieber aus dem Staub, körperlich wie intellektuell. Falsche Solidarität nützt weder uns noch der Gesellschaft. Besonders nicht, wenn wir uns woanders aktiv einbringen können. Unsere Flucht ist kein Selbstzweck, sondern teleologisch.

….
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Der Bundestagspräsident zur Corona-Krise. Schäuble will dem Schutz des Lebens nicht alles unterordnen. Im Interview spricht Wolfgang Schäuble über die Suche nach dem richtigen Maß in der Corona-Krise und über das, was nach der Pandemie anders sein wird.

Zum Interview des Tagesspiegels

„Der Staat kann aber nicht auf Dauer den Umsatz ersetzen. Wir werden mit den klassischen Mitteln umso weniger anfangen können, je länger die Krise dauert. Wir werden strukturelle Veränderungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik erleben. Ich hoffe, dass wir das als Chance nutzen, um manche Übertreibungen besser zu bekämpfen.“

Woran denken Sie?

„Noch immer ist nicht nur die Pandemie das größte Problem, sondern der Klimawandel, der Verlust an Artenvielfalt, all die Schäden, die wir Menschen und vor allem wir Europäer durch Übermaß der Natur antun. Hoffentlich werden uns nicht wieder nur Abwrackprämien einfallen, die es der Industrie ermöglichen, weiter zu machen wie bisher.“

Samstag, 25.April

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Heute haben
Claude Mariac * 1914
Albert Uderzo * 1927 (gestorben am 24.3.2020)
Elfriede Czurda * 1946
Geburtstag
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Jörn-Peter Dirx
Die „Ramona-Krise“

Niesen, schwitzen, trockner Husten
und es schmerzen alle Zähne
Kopfweh, er kann kaum noch pusten
Ja, er muss in Quarantäne

Völlig klar, so wird man sagen
da braucht man nicht lange testen
Die Symptome sind erdrückend
manchmal trifft es auch die Besten

Doch geirrt, nicht die Corona
hat ihn bös in ihren Krallen
Nein, es ist der Virus Liebe
der ihn plötzlich überfallen

An der Kasse sitzt die Schöne
die den Virus ihm geschickt
Und wie gut steht ihr die Maske
über die ihr Auge blickt

Auf dem Kittel klebt ein Schildchen:
Es bedient Sie Frau Ramona
Husten Sie nicht auf die Kasse
Bitte Abstand weil Corona

Wie gern würd er sie umarmen
lieben, kosen, streicheln, küssen
Doch der Staat hat kein Erbarmen
weil sie Abstand halten müssen

Pip und pip macht’s ohne Ende
und sein Einkauf der läuft hier
einzeln brav durch ihre Hände:
Hefe, Nudeln, Klopapier …

© Jörn-Peter Dirx
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Gruener wirds nicht von Kathrin Hartmann

Kathrin Kartmann: „Grüner wird’s nicht“
Warum wir mit der ökologischen Krise völlig falsch umgehen
Blessing Verlag € 14,00

Nachdem das neue Buch von Kathrin Hartmann seit einigen Wochen auf dem Markt ist und sich mit Maja Göpels Buch „Unsere Welt neu sehen“ zu den beiden meistverkauften Bücher zu den Themen Klimakrise, Kapitalismuskritik, … entwickelt hat, stellte ich der Autorin ein paar Fragen.

Liebe Kathrin, warum so ein Buch und nicht eines mit Recherchen, wie wir es von dir gewohnt sind?

Ich war die vergangenen zwei Jahre mit dem Buch und dem Film „Die Grüne Lüge“ zu vielen Lesungen, Filmvorführungen und Diskussionsrunden eingeladen. Außerdem hab ich selbst an vielen Protesten teilgenommen, zum Beispiel im Hambacher Forst, für eine Verkehrswende und bei den Seebrücke- und Fridays for Future-Demonstrationen. Da habe ich stark gespürt, dass viele Menschen sich dringend Veränderung und Gerechtigkeit wünschen und diese immer vehementer einfordern. 2019 verging kein Tag, an dem die Klimakrise nicht Thema in den Medien war. Demgegenüber steht bis heute aber der politische Unwille, enstprechend zu agieren. Unternehmen, die sich grün und verantwortungsvoll geben, kämpfen mit aller Macht dafür, ihre Privilegien zu behalten. Aus all diesen Beobachtungen habe ich versucht, herauszukristallisieren, was in der Debatte schief läuft und warum wir mit der ökologischen und sozialen Krise falsch umgehen. Es ist also gewissermaßen ein Leitfaden, nach welchen falschen Argumenten wir die Diskussion immer wieder abklopfen müssen. Denn, und das finde ich ganz wichtig: nicht jeder Weg, das Klima schützen zu wollen, ist richtig, manches davon ist sogar richtig gefährlich, auch das beschreibe ich.

Was hat sich durch die Corona Krise an deinen Thesen im Buch geändert?

Als ich im vergangene Herbst und Winter das Buch geschrieben habe, hatte ich schon die Sorge, dass die Aufmerksamkeit für die Klimakrise wieder verschwinden könnte. Dass aber eine Pandemie mit einer solchen Wucht unser Leben verändert, damit hat wohl keiner gerechnet. Obwohl Pandemien auch eine Folge der Klimakrise sein können. An den Thesen in meinem Buch hat sich nichts geändert – im Gegenteil: nach wie vor ist das zentrale Problem, dass die ökologische gegen die soziale Frage ausgespielt wird. Also: Arbeitsplätze versus Klimschutz, bei den Diskussionen um den (viel zu späten!) Kohleausstieg ging es darum ja immer wieder. Und das erleben wir jetzt bei Corona mehr als deutlich: die Regierung und die EU haben milliardenschwere Rettungspakete geschnürt, um die Wirtschaft, wie wir sie kennen, zu erhalten, so schädlich sie auch ist. Es wird komplett ausgeblendet, dass auch die ökologische Krise, also die Folgen des Klimawandels, der Verlust der Biodiversität, die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen, unser Leben bedroht, Menschen schon heute krank macht oder umbringt. Erschreckend finde ich auch, dass die Zerstörung von Wäldern und Biodiversität Pandemien hervorbringen kann. Auch das zeigt: Zerstörung von Natur ist immer auch Zerstörung von Menschen.

Lernen wir etwas aus der Krise?

Es gab von Anfang an die Hoffnung, dass Corona dazu führe, dass die Regierung ähnlich drastische Maßnahmen verhängen würde, um uns vor den Folgen der Klimakrise zu schützen. „Geht doch!“, hieß es, als Flugzeuge am Boden und Straßen leer blieben. Aber eine Pandemie ist keine Verkehrswende, die Autos rollen wieder. An die ganzen Rettungspakete sind keine Auflagen an Klimaschutz oder Menschenrechte geknüpft. Lobbyisten kämpfen verstärkt gegen den Klimaschutz und der Wirtschaft ist es endgültig gelungen, das geplante Lieferkettengesetz vom Tisch zu fegen, dass Unternehmen dazu verpflichtet hätte, entlang ihrer Lieferkette die Menschebrechte einzuhalten. Kurz: von selber passiert da gar nichts. Denn es ist ja eine Frage von Machtverhältnissen. Und genau das müssen wir aus der Krise lernen: das gegenwärtige System ist nicht in der Lage, uns zu schützen. Es hat dazu geführt, dass das Gesundheitssystem auf den Hund gekommen ist. Diejenigen, die es am laufen halten, werden am miserabelsten bezahlt und sind am meisten gefährdet. Es wird deutlich, dass unser ganzer Alltag, gerade unsere Lebensmittelversorgung, auf Ausbeutung und Naturzerstörung beruht. Und während ein enormer Aufwand betrieben wird, um Billigstarbeiterinnen und -arbeiter aus Osteuropa (einer von ihnen ist bereits hier an Corona gestorben) hierher zur Spargelernte einzufliegen, bleiben Geflüchtete in den entsetzlichen griechischen Lagern und auf dem Mittelmeer sich selbst überlassen. Wenn wir uns nicht dagegen solidarisieren, erwartet uns ein Katastrophenkapitalsimus, der genau die Kräfte stärkt, die uns an den Abgrund führen.

Welche Möglichkeiten haben wir, der Regierung zu zeigen, wo es lang gehen soll?

Corona bringt natürlich mit sich, dass wir nicht demonstrieren können, wie gewohnt. Das ist wirklich ein Rückschlag, denn die Proteste der Fridays for Future und anderer Bewegungen sind ja so wunderbar kraftvoll geworden und gewachsen, niemand konnte sie mehr ignorieren. Aber die werden bestehen bleiben, das hoffe ich jedenfalls, online geht der Protest ja weiter. Man darf auch nicht vergessen: Bewegungen entwickeln sich, man lernt voneinander und schärft Forderungen. Das wird auch nicht verloren gehen. Großartig ist ja zum Beispiel, dass sich lange vor Corona bereits Auszubildene medizinischer Berufe und Pflegekräfte den Fridays for Future angeschlossen haben. Ein gutes Beispiel dafür, dass diese Bewegung die ökologische und soziale Frage zusammendenkt. Das ist progressiv, das macht Hoffnung!

Was kommt nach Corona? Die nächste Pandemie? Und die Klimakatastrophe?

Ich hoffe, die ökologische und soziale Transformation! Auch jetzt schon gibt es Beispiele, dass es anders geht: Mailand will jetzt die Autos aus der Stadt verbannen und mehr Platz für Fahrräder schaffen. In Dänemark bekommen Unternehmen, die Dividenden auszahlen oder in Steueroasen gemeldet sind, keine Staatshilfen. Ach, man könnte jetzt so vieles anders machen! Ganz wichtig, und darum geht es auch in meinem Buch, ist: wir fangen nicht von vorne an. Es gibt Alternativen zum System. In der Landwirtschaft, im Verkehr, bei der Energie, in der Daseinsvorsorge, in einer demokratischen Wirtschaft. Die wichtigste Frage ist: wer verhindert diese Alternativen, wie und wodurch? Wer profitiert davon, dass alles bleibt, wie es ist? Das sind die, gegen deren Interessen wir unsere erkämpfen und durchsetzen müssen. Und dafür habe ich das Buch geschrieben, dass wir wissen, wofür wir kämpfen müssen und gegen wen.

Was macht eine Wahlmüncherin ohne Biergarten?

Da fragst Du was… die fehlen wirklich sehr! Weil es so wunderbare Orte sind, an denen sich alle treffen können. Und natürlich wegen dem Bier… Noch mehr vermisse ich aber meine Familie, meine Freunde, die Berge und meine alte Heimat.

Liebe Kathrin, ich danke dir für deine Antworten.
Sie machen wütend und Mut. Venceremos. Hoffentlich.

Dazu auch noch ein Artikel von Kathrin Hartmann im Freitag vom 24.März 2020.

https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/das-kommt-nicht-von-aussen

Freitag, 24.April

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#NetzstreikFürsKlima – Jetzt online mitstreiken!

Zusammen mit Fridays For Future laut fürs Klima

Die aktuelle Virus-Pandemie zeigt uns: Um Krisen zu bewältigen ist es entscheidend, auf die Wissenschaft zu hören, solidarisch zusammenzustehen und entschlossen zu handeln. Genau dies gilt auch für die Klimakrise. Am 24.4. wären wir mit Fridays For Future zum globalen Klimastreik auf die Straßen gegangen – nun verlegen wir die Demonstration ins Netz. Beim Livestream for Future werden wir von zu Hause aus und doch alle gemeinsam laut fürs Klima! (Klick hier, um zum Stream zu gelangen)

Die Antworten der Politik auf die Krise müssen so gestaltet werden, dass sie unsere Wirtschaft und Gesellschaft langfristig gerechter, widerstandsfähiger und nachhaltiger machen. Wenn jetzt Hunderte Milliarden fließen, dann muss jedes Konjunkturpaket auch gezielt den Klimaschutz voranbringen. Wenn Du das genauso siehst, dann sei am 24. April um 12 Uhr beim großen Online-Streik von Fridays for Future dabei!

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Heute haben
Karl Leberecht Immermann * 1796
Anthony Trollope * 1815
Sue Grafton * 1940
Geburtstag
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Und heute das wunderbare zweite Gedicht von Rok:

blütenstaub

unter blühenden apfelbäumen
ein kalter atemzug
mit zitternden lippen und
taschen voller steine
gehen wir durch fremde gassen
sind das schiffe in der ferne
wo ist der hafen
der geruch von totem fisch
der hahn kräht mitten in der
nacht
weckt die schlafenden hunde
rasierklingenscharf durchschneiden
wir die einsamkeit
unserer betrunkenen sucht nach
lieben ohne schmerz

rok
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krimi

Helmut J. Bicheler: „Rache“
Kriminalinspektor Hintz und der tote Franzose
Edition Ulm-Krimi
Erhältlich bei uns in der Buchhandlung für € 10,00

Zum Buch

Der Kriminalroman beruht in Teilen auf einer wahren Ge-schichte. Das heißt: Manches ist wirklich so geschehen, man-ches hätte so geschehen können, manches wurde so kolportiert, und wiederum manches ist einfach nur der Phantasie des Autors entsprungen. Die Namen der Personen sind frei erfunden – mit Ausnahme der Personen der Zeitgeschichte.

Zum Autor

Helmut J. Bicheler ist in den 40er Jahren in der Ulmer West-stadt aufgewachsen. Als gelernter Buchhändler hat es ihn später in die Verlagsbranche gezogen, wo er bis zu seiner Rente ar-beitete. Er lebt im Allgäu und im Piemont. Dieser Kriminal-roman ist sein erstes größeres Werk.

Der Autor bedankt sich vor allem bei seinen Lektoren. Finden sich keine Fehler, ist das ihr Verdienst. Tauchen dennoch Fehler auf, so ist das einzig und allein die Schuld des Autors. Dank geht auch an Rudi Kübler, Dr. Andreas Lörcher und Karl Ulrich Scheib, ohne deren Veröffentlichungen die Idee zu diesem Buch nicht entstanden wäre, sowie an das Grafik-Büro mack&mack.

In Söflingen passiert drei Tage später ein abscheulicher Mord an zwei Jugendlichen. Wer steckt hinter dieser Tat? Und was hat der Mord mit einem toten Franzosen zu tun?
Kriminalinspektor Albert Hintz ermittelt.

Und heute kommt Teil 2:
(Vorwort und Kapitel 1 waren im gestrigen Eintrag)

2.

Er brauchte dringend etwas zu essen. In der Schlösslesgasse gab es Bäckereien. Hoffentlich waren sie nicht alle ausgebombt. Und wenn er erstmal seine Brezel hatte, dann, ja dann, ging manches wie von alleine. Er sah, wie Wümmer weiter vorne in der Weihgasse verschwand. Vielleicht war er doch nicht ganz so blöd …
Hintz lief durch die Kapellengasse, vorbei an der Wirtschaft „Zur Quelle“, wo im August vergangenen Jahres 20 Menschen ums Leben gekommen waren. Er war dabei, als die Opfer geborgen wurden. Das Jammern der Angehörigen klang ihm jetzt noch in den Ohren. Das sollte aber erst der Anfang sein. Es kam alles schlimmer, viel schlimmer.
Der Kriminalinspektor schaute nach links. Der Gemeinde-platz war der Treffpunkt der Söflinger Jugend. Ein paar Burschen standen jetzt schon zu früher Stunde an der Litfaß-säule, was sollten sie auch sonst tun? Unterricht gab es keinen, fast alle Schulen waren dem Erdboden gleich gemacht. Der Gemeindeplatz versprach Abwechslung. Hier war fast immer etwas geboten. Einer der Halbwüchsigen lehnte gegen die Säule und rauchte. Höchstens 13 war das Bürschchen, konnte der überhaupt gerade pinkeln? Hoffentlich hatte er die Hose zugebunden. Wobei: Zubinden hätte nicht viel genützt, er hatte wie die anderen kurze Hosen an.
50 Meter weiter, die Bäckerei hatte geöffnet. Als Hintz mit seiner Brezel zum Gemeindeplatz zurückkehrte, fiel ihm erst auf, dass die Straßenbahn gar nicht mehr fuhr. Klar, die Tramlinie war nach dem schweren Angriff vor etwas mehr als zwei Monaten, bei dem fast 200 Söflinger ums Leben gekom-men waren, eingestellt worden. Das hatte er völlig vergessen. Also, kein Fahrrad, keine Straßenbahn. Da blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als die drei Kilometer in die Stadt zurück-zulaufen.

3.

Schau doch mal bei den Kollegen nach, Wümmer, ob in den vergangenen zwei Tagen irgendwelche Vermisstenfälle reingekommen sind.“
Wümmer setzte sich in Bewegung. Das konnte dauern. Das war Hintz klar. Denn Vermisstenfälle gab es en masse. Immer noch lagen Bombenopfer unter den Trümmern, die Bergungs-trupps waren abgezogen. Meist stieß man eher zufällig auf Leichen, wenn Arbeiter die Grundstücke entschutteten.
Hintz stand auf und ging zum Fenster. Frischluft rein lassen, würde den grauen Zellen gut tun. Der Südtrakt des Neuen Baus, wo er unterm Dachstuhl sein Büro hatte, war nur leicht beschädigt worden, während der Nordtrakt, der Teil, der zum Münsterplatz zeigte, ein Raub der Spreng- und Brandbomben geworden war. Beim Anblick des zerstörten Fischerviertels wurde ihm wieder eng ums Herz. Nur ein Bruchteil der Häuser in der Gerber- und Schwilmengasse stand noch, eine graue Steinwüste starrte ihm entgegen. In der Fischergasse war sein Ein und Alles in der Nacht des 17. Dezember 1944 umge-kommen: Klärle, seine Frau, und sein Augenschein, die 14-jährige Tochter Paula. Ihm liefen die Tränen über die Wangen. Er stand am Fenster. Sah nichts, hörte nichts. Spürte nur einen ungeheuren Schmerz in seiner Brust.
In Russland hatte sich seine Seele mit einer Hornhaut überzogen. Das hatte er geglaubt. Das ließ ihn letztlich auch überleben, nachdem Anfang August 1942 während der Kessel-schlacht bei Kalatsch die Bombe in nächster Nähe explodiert war. Fünf Kameraden waren sofort tot, er kam mit sieben anderen ins Lazarett. Der Arm war nicht mehr zu retten, aber er hatte Glück im Unglück und wurde ausgeflogen. Als Einarmiger war er nicht mehr fronttauglich, deshalb fing er nach etwa eineinhalb Jahren, nachdem die „Sache“, wie er seinen fehlenden Arm immer bezeichnete, einigermaßen verheilt war, wieder in seinem alten Beruf als Kriminaler bei der Ulmer Polizeidirektion an. Und dann kam der 17. Dezember …
Wie lange er so am Fenster stand? Minutenlang. Bis er hinter sich ein Räuspern hörte. Er drehte sich nicht sofort um, sondern fuhr sich mit der linken Hand übers tränennasse Gesicht. Wümmer war das nicht, der hätte sich nicht so zurückhaltend geräuspert, sondern mit seiner tollpatschigen Art einen Heidenlärm veranstaltet.
„Grüß Gott, Herr Hintz.“
Hörte sich auch nicht wie einer der Kollegen an, die begrüßten ihn nicht mit seinem Nachnamen. Für die war er ganz abschätzig der „Einarmige“. Das musste Frank sein. Polizeirat Hermann Frank, der vor drei Tagen von den Amis als kommissarischer Bürgermeister eingesetzt wurde, nachdem sich OB Friedrich Foerster, Kreisleiter Wilhelm Maier und Polizei-direktor Erich Hagenmeyer einen Tag vor dem Einmarsch der US-Truppen bei Nacht und Nebel aus dem Staub gemacht hatten. Frank war zwar auch Parteigenosse, andernfalls hätte er sich nie auf diesem Posten halten können. Aber Frank hatte sich eine menschliche Art bewahrt – was Hintz zu schätzen wusste. Der Polizeirat hatte ihm zwei Mal beigestanden, als seine „Kollegen“ auf ihm herumhackten, weil er nicht in die Partei hatte eintreten wollen.
Hintz schloss das Fenster, drehte sich herum. Es war Frank.
„Grüß Gott, Herr Bürgermeister. Was verschafft mir die Ehre an einem Samstagmorgen?“
„Nicht so förmlich, den ,Bürgermeister‘ können sie sich sparen. ,Herr Frank‘ reicht. Außerdem: Meine Tage als Bürgermeister sind sowieso gezählt. Wie Sie wissen, war ich Mitglied der NSDAP. Die Amis werden mich über kurz oder lang, wahrscheinlich eher über kurz, aus dem Amt entfernen. Was ich verstehen kann.“
Die etwas längere Ausführung hatte Hintz die Möglichkeit verschafft, sich noch einmal mit dem Taschentuch übers Gesicht zu wischen. Hoffentlich wurde er von Frank nicht auf seine rotverheulten Augen angesprochen. Das würde er jetzt nicht ertragen. Der Polizeirat wusste, dass er, Hintz, vom Schicksal stark gebeutelt worden war. Und Frank schwieg. Wieder ein Pluspunkt für den Polizeirat, dachte der Kriminal-inspektor, der sich jetzt wieder einigermaßen im Griff hatte.
„Aber Sie sind doch nicht deswegen unters Dach des Neuen Baus gestiegen, um mir Ihre Aufwartung als neuer Bürger-meister zu machen?“
„Nein, sicherlich nicht. Es hängt mit dem Fall zusammen, den Ihnen der Kollege Kriminalrat Braun aufgetragen hat. Die beiden Toten in Söflingen.“
„O, das hat sich aber schnell zu Ihnen herumgesprochen.“
„In der Tat, Hintz. Die alten Seilschaften sind immer noch am Werk. Wobei: Diese Information habe ich direkt von der US-Militärregierung erhalten. Der Stadtkommandant hat mich heute Morgen in der Villa Mendler antanzen lassen. Geschmack hat er, dieser Major George Mehlmann; er hat sich eines der schönsten Gebäude am Galgenberg ausgesucht. Na ja, das nur so nebenbei. Auf jeden Fall: Die Amis wussten bereits, dass zwei Leichen auf dem Friedhof aufgetaucht sind. Und, dass das eine Opfer erschlagen, das andere erschossen wurde. Stimmt das?“
„Ja, eindeutig ein Gewaltverbrechen. Schädelbruch und Kopfschuss, würde ich nach dem ersten Augenschein sagen. Ohne mich zu weit aus dem Fenster hängen zu wollen: Mord. Tatzeit: sehr wahrscheinlich gestern Abend. Das Blut war zwar getrocknet, aber die Leichen machten, wenn ich so sagen darf, einen relativ frischen Eindruck.“
„Sie Witzbold! Sonst noch was? Namen vielleicht?“
„Wir, der Kollege Wümmer und ich, sind erst am Anfang. Wir haben uns heute Morgen die Bescherung auf dem Friedhof angesehen. Mehr kann ich noch nicht sagen. Wümmer klärt gerade ab, ob die beiden als vermisst gemeldet wurden.“
„Sie Bedauernswerter! Sie bilden mit Wümmer ein Team. Ihre Kollegen haben das ganz geschickt eingefädelt. Mit dem Wümmer wollte keiner zusammenarbeiten, also hat man Ihnen den Einfaltspinsel aufs Auge gedrückt.“
Der Kriminalinspektor musste lachen. Auch Frank lachte kurz auf, um dann auf den eigentlichen Grund seines Besuchs zu kommen.
„Hintz, Sie können sich denken: Die Amis wollen genau wissen, wer hinter dieser Tat steckt. Die wollen die Mörder. Auch weil sie vermuten, dass die SS oder irgendwelche Werwolf-Gruppen Rache geübt und die beiden gemeuchelt haben.“
„Glauben Sie das auch?“, fragte Hintz.
„Es geht nicht darum, was ich glaube. Wir müssen den Fall klären. Das heißt: Sie müssen die Täter finden. Ich vertraue Ihnen voll und ganz. Die anderen in der Direktion sind Pfeifen, die wollen im Zweifel mehr vertuschen als aufklären. Der Ansatz der Amis war ja gut gemeint: die gesamte Polizei in der Wagnerschule für zwei Tage zu internieren. Aber was sind schon zwei Tage? Um manche der Kollegen umzuerziehen, braucht es eher Jahre und Jahrzehnte. Das werden die Amis schon noch merken.“
Etwas verlegen trat Hintz von einem Bein auf das andere. Puuuh, er wusste nicht, was er sagen sollte. Was er wusste: Er steckte bis zu den Knien im Schlamassel. Dennoch nickte er Frank zu.
„Also, dann hätten wir das geklärt. Wenn einer das schafft, dann Sie. Halten Sie mich auf dem Laufenden. Viel Erfolg und ade.“

DONNERstag, 23.April

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Pralinen zum Welttag des Buches

Heute haben
William Shakespeare * 1564
Richard Huelsenbeck * 1892
Vladimir Nabokov * 1899
Haldór Laxness * 1902
Dietrich Schwanitz * 1940
Andrej Kurkow * 1961
Geburtstag
und es ist der Welttag des Buches.
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Ich freue mich riesig, ein neues Gedicht von Rok hier zu veröffentlichen.
Morgen kommt das nächste.

auf brücken schlafen

warten
auf
millionen
von
sternen
dass
sie
fallen
warten

rok
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Und nicht nur ein neues Gedicht gibt es zum Welttag des Buches, sondern auch einen neuen Ulm-Krimi, der im April 1945 spielt.

Helmut J. Bicheler: „Rache“

Zum Buch

Der Kriminalroman beruht in Teilen auf einer wahren Geschichte. Das heißt: Manches ist wirklich so geschehen, manches hätte so geschehen können, manches wurde so kolportiert, und wiederum manches ist einfach nur der Phantasie des Autors entsprungen. Die Namen der Personen sind frei erfunden – mit Ausnahme der Personen der Zeitgeschichte.

Zum Autor

Helmut J. Bicheler ist in den 40er Jahren in der Ulmer West-stadt aufgewachsen. Als gelernter Buchhändler hat es ihn später in die Verlagsbranche gezogen, wo er bis zu seiner Rente ar-beitete. Er lebt im Allgäu und im Piemont. Dieser Kriminalroman ist sein erstes größeres Werk.

Der Autor bedankt sich vor allem bei seinen Lektoren. Finden sich keine Fehler, ist das ihr Verdienst. Tauchen dennoch Fehler auf, so ist das einzig und allein die Schuld des Autors. Dank geht auch an Rudi Kübler, Dr. Andreas Lörcher und Karl Ulrich Scheib, ohne deren Veröffentlichungen die Idee zu diesem Buch nicht entstanden wäre, sowie an das Grafik-Büro mack&mack.

Copyright © Ulm 2020 by Edition Ulm-Krimi
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltung: mack&mack, ulm
Herstellung: Digitaldruck Leibi.de, www.leibi.de

Helmut J. Bicheler: „Rache“
Kriminalinspektor Hintz und der tote Franzose
Edition Ulm-Krimi
Im Moment nur in der Kulturbuchhandlung Jastram für € 10,00 erhältlich.

Die Rache ist mein.
Ich will vergelten.

(5. Mose 32)

April 1945: US-amerikanische Truppen marschieren in Ulm ein .
Der Krieg in der Donaustadt ist beendet.

In Söflingen passiert drei Tage später ein abscheulicher Mord an zwei Jugendlichen. Wer steckt hinter dieser Tat? Und was hat der Mord mit einem toten Franzosen zu tun?
Kriminalinspektor Albert Hintz ermittelt.

Prolog

Als die ersten US-Truppen in die Stadt vorrückten, war es 12 Uhr mittags. Kleine Einheiten, sechs bis acht Mann, kamen von Westen her, durchkämmten die Straßen und durchsuchten die Häuser. Eine gespenstische Stille herrschte, unterbrochen von einzelnen Schüssen. Die Menschen, die nicht aus der Stadt geflohen waren, saßen hoffend und bangend in den Bunkern, und wer dort keinen Platz gefunden hatte, hoffte und bangte in der eigenen Wohnung. Und hängte ein weißes Leintuch aus dem Fenster.

Kriminalinspektor Albert Hintz stand am Fenster seines Büros im Neuen Bau. Am Vormittag noch hatte er dumpfe Detonationen im Abstand von mehreren Minuten gehört – und dann auch riesige Staubwolken über der Donau aufgehen sehen. Hatten die Offiziere also doch die Brücken sprengen lassen! War das wirklich auch noch nötig, nach all den Bombenangriffen, die Ulm in ein Trümmerfeld verwandelt hatten? Hintz schüttelte den Kopf. Dann räumte er den Schreibtisch auf, schloss die Schubladen, legte seine Pistole neben den Dienstausweis und setzte sich auf seinen Stuhl. Sein Blick fiel auf den Abreißkalender an der Wand gegenüber, das Blatt zeigte: Dienstag, 24. April 1945. Der Inspektor fragte sich, ob er dieses Büro noch einmal sehen würde.

Drei Tage später zog Hintz wieder in sein Büro ein; die Pistole lag nicht mehr auf dem Schreibtisch. Sämtliche Waffen hatten abgegeben werden müssen; zwei lange Tage waren er und seine Kollegen in der Wagnerschule interniert – nicht wissend, was die Amerikaner mit ihnen vorhatten. Dann wurden sie entlassen, um weiterhin Dienst zu tun. Ohne Waffe, ohne Uniform. Also auch ohne Macht.

Seine erste Amtshandlung bestand darin, die Kalender-blätter vom 25. und 26. April abzureißen, zu zerknüllen und in den Papierkorb zu werfen. Und dann wartete Hintz.

1.

Hatte er nicht Tote genug gesehen in den letzten Monaten? Menschen, die nicht mehr wie Menschen aussahen. Verstümmelt. Ohne Arme. Ohne Beine. Ohne Köpfe. Manchmal war nur ein Torso übriggeblieben. Manchmal noch weniger. Ein verkohlter Haufen, aus dem ein angesengter Knochen herausragte. Teile eines Schulterblatts. Dazwischen der Bügel einer Brille, die Klinge eines Taschenmessers. Und wenn er Glück hatte – aber wer wollte angesichts dieses Infernos schon von Glück reden –, vielleicht ein Stück Stoff oder eine Gürtelschnalle. Dann war es vielleicht möglich, das Häufchen Mensch zu identifizieren.

Nicht nur nachts holten ihn die Bilder ein. Sondern auch tagsüber. So wie jetzt, da er mit seinem alten Rad nach Söflingen fuhr. Ein anonymer Anrufer hatte am späten Abend des 27. April zwei Leichen auf dem Söflinger Friedhof gemel-det. Nun waren Leichen auf dem Friedhof etwas durchaus Alltägliches, diese beiden aber eher nicht, wie ihm sein direkter Vorgesetzter Kriminalrat Braun heute Morgen bedeutet hatte. Und so trat der Kriminalinspektor in die Pedale, lenkte sein Fahrrad mit der linken Hand – die rechte war ihm zusammen mit dem Arm an der Ostfront abhandengekommen – in den Vorort im Ulmer Westen. Zwischen Ruinen hindurch, an Bombenkratern vorbei.

Schaute er nach rechts, sah er Tote. Schaute er nach links, sah er Tote. Sollte das nie aufhören? Wieder und wieder geisterten sie durch seinen Kopf, all die Menschen, die in den Kellern Zuflucht gesucht hatten und dort umgekommen waren. Sie saßen äußerlich unversehrt nebeneinander auf Stühlen, Bänken oder Apfelkisten. Die Mutter mit ihrem Kind, die alte Bäckersfrau, bei der er morgens, als das Leben noch einigermaßen normal gelaufen war, Brezeln gekauft hatte. Sie hatte ihn immer freundlich gegrüßt. Jetzt saß sie da, ein dunkles Rinnsal zwischen dem linken Mundwinkel und dem Kinn. Blut, getrocknetes Blut. Die Alte war tot, die Mutter und ihre Tochter ebenfalls.
Der Blockwart, der neulich einen Nachbarn wegen Erzählens eines Hitler-Witzes hatte anzeigen wollen, saß zusammengesunken in der Ecke. Den Helm schief auf dem Kopf. Huber hieß der Typ, an den Vornamen erinnerte er sich nicht mehr. War auch nicht wichtig. Der Widerling war tot. Im Keller nebenan lehnte der Witze-Erzähler an der Kartoffel-horde. „Wie soll der deutsche Arier sein? Blond wie Hitler, groß wie Goebbels, schlank wie Göring.“ Die Anzeige des Blockwarts hatte er zwar aufgenommen, aber dann in den Papierkorb geworfen. Der Witz war einfach nicht gut, vor allem: Er war alt. Aber deswegen hatte der Witze-Erzähler nicht sterben müssen. Ihm hatte es wie den anderen vier Menschen im Keller die Lunge zerrissen – eine Luftmine.

Wie Albert Hintz die letzten Meter hinter sich gebracht hatte? Er wusste es nicht. Wie in Trance lehnte er sein Fahrrad an die Mauer der St. Leonhards-Kapelle, ging durch das schmiedeeiserne Tor und sah von weitem den Kollegen Wümmer, der ihm Handzeichen gab. Was heißt Handzeichen: Dieser Depp! Dieser Volldepp! Wümmers rechter Arm ging nach oben. Dass er nicht noch „Heil Hitler!“ brüllte, war alles. Wümmer war dümmer, als die Polizei erlaubte. Dass der bei der Polizei gelandet war, auch noch bei der Abteilung V, der Kriminalabteilung, warf ein bezeichnendes Licht auf die Di-rektion, die ein Sammelbecken für Parteigänger darstellte. Dass Wümmer es zum Kriminalassistenten gebracht hatte, kam dennoch einem Wunder gleich. Selbst die Kollegen von der Abteilung VII, der Sanitätsdienststelle, hatten abgewinkt, als er dort nach einer Verwendung nachgefragt hatte. Wäre es nach Hintz gegangen, dann wäre Wümmer Kriminalassistenten-anwärter im Vorbereitungsdienst geblieben – auf Lebenszeit. Aber es kam anders: Jetzt hatte er diese Intelligenzbestie am Hals.

„Mensch, Wümmer, runter mit dem Arm! Aber schnell! Wenn das die Amis sehen!“
„Welche Amis? Die sind doch nicht hier in Söflingen.“
„Doch, die patrouillieren in der ganzen Stadt. Hast du nicht gehört, was Polizeirat Frank vorgestern vor den Kollegen gepredigt hat: ,ganz normal Dienst schieben, bloß nicht auffallen‘.“
„Ich kann halt auch nicht so schnell aus meiner Haut. Irgendwie geht der Arm halt automatisch nach oben nach zwölf Jahren ,Heil Hitler‘. Das kann dir nicht passieren, du hast keinen rechten Arm mehr.“
„Wümmer, reiß dich am Riemen!“

Karl Wümmer trat einen Schritt zur Seite. Jetzt war Hintz derjenige, der sich am Riemen reißen musste. Alles krampfte sich in ihm zusammen. Er schnappte nach Luft, sein Magen revoltierte. Auf einen solchen Anblick war er nicht vorbereitet. Die beiden Leichen, die vor ihm in dem Leiterwagen lagen, waren übelst zugerichtet. Das waren keine Bombenopfer, das sah er auf den ersten Blick. Hier waren brutale Totschläger am Werk gewesen; der SS hätte er ein solches Verbrechen sofort zugetraut. Was er in Russland hatte mitansehen müssen, war an Abscheulichkeit nicht zu überbieten.
Wie alt die beiden Opfer waren, konnte er nicht sagen. 18, vielleicht 20. Der Inspektor trat näher heran, der Schädel des einen war völlig zerschlagen. Eine Augenhöhle war leer, das andere Auge starrte in den Himmel. Ein Gesicht war beim besten Willen nicht mehr zu erkennen. Überall Blut, fest-getrocknetes Blut, und was der Körper sonst noch alles an Flüssigkeiten hergegeben hatte im Moment seines Ablebens. Der Kopf des anderen hatte auch Prügel abbekommen, nicht ganz so viel. Die Todesursache war klar, als Hintz den Schädel vorsichtig auf die andere Seite legte: ein Einschussloch an der Schläfe.
Hintz hätte kotzen können, am frühen Morgen, auf nüchternen Magen. Der Kriminalinspektor holte sein Notiz-buch hervor, suchte in seiner Jackentasche nach einem Bleistift. Es half ja alles nichts. Er legte das Buch auf einen Grabstein und begann loszukritzeln. Mit links. Das hatte er in den vergangenen zwei Jahren mühsam erlernen müssen.

„Wümmer, hast du ihre Taschen durchsucht?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Dachte, ich warte auf dich“, sagte er und fügte verlegen hinzu, „wollte nichts falsch machen.“
„Dann schau bitte jetzt nach!“
Wümmer verzog das Gesicht und begann widerwillig, die Hosen- und Jackentaschen zu durchsuchen. Der Versuch, sich dabei die Hände nicht schmutzig zu machen, misslang gründ-lich.
„Nichts. Und was jetzt?“, fragte Wümmer und wischte die Hände an seiner Hose ab.
Na prima, dachte Hintz und blickte angewidert auf Wüm-mers Hose. Das würde riechen. Die Leichen würden ebenfalls beginnen zu riechen, sie konnten hier nicht bleiben.

„Lauf doch mal zum Gasthaus ,Zum Schatten‘ in der Weihgasse. Der Wirt hat ein Telefon. Ruf im Neuen Bau an und sag denen Bescheid, sie sollen die beiden Toten ins Leichenschauhaus bringen. Wir sehen uns in der Direktion.“
Wümmer schlich los, der schnellsten einer war er nicht. Hoffentlich findet er den „Schatten“, dachte sich Hintz und steckte sein kleines Buch wieder ein. Der ist so blöd und läuft zum Wirtshaus „Zur Sonne“. Mehr als das Datum, die Uhrzeit und die vermutlichen Todesursachen hatte er nicht notiert: „Samstag, 28. April 1945, 8.45 Uhr, Friedhof Söflingen. Zwei Leichen: Schädelbruch, Kopfschuss.“
Der Kriminalinspektor ging zurück zur Leonhards-Kapelle – und blieb fassungslos stehen. Sein Fahrrad war weg. Gestohlen. Das gute, schwarze, alte, das seinem Vater gehört hatte. Himmel, Arsch und Zwirn. Was für ein beschissener Morgen!

…… Morgen folgt Kapitel 2.

Mittwoch, 22.April

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Ein spektakulärer Morgen

Heute haben
Henry Fielding * 1707
Ludwig Renn * 1889
Guillermo Cabrera Infante * 1929
Geburtstag
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Thomas Dietrich
Lockerungen in der Pandemie

Dankbarkeit und große Demut
sich in mir ausbreiten tut
für die vielen tollen Leute,
die die Krise stemmen heute.

Oftmals muss ich an sie denken
und ein Lächeln ihnen schenken,
wenn sie ohne großes Murren
einfach machen und nicht knurren.

Nur dank ihnen geht es weiter
und scheint sogar manchmal heiter,
auch wenn weltweit hoch der Preis
und die Stirne zeigt Angstschweiß.

Als ich war ein junger Knabe,
sowas ich erlebt schon habe.
Honkong-Grippe hieß die Plage,
deren Opfer ich beklage.

Aber ohne Internet
war ein einfach ein Kismet,
das man annahm, wie es kam,
ohne Fragen, ohne Scham.

Schule, Arbeit, halt das Leben
gingen weiter. So war’s eben.
Keine Fake News und kein Web
waren echt kein Handicap.

Heute muss man alles wissen,
und das führt zu Bitternissen.
Jeder kennt fast alles besser
und geriert sich immer kesser.

Stehen Wahlen auch bevor,
möchte keiner sein ein Tor,
sondern der, der alles weiß,
ohne Scheiß um jeden Preis.

Scheint die Lage dann im Griff,
naht sich schon das nächste Kliff.
Wie kommt man aus dieser Krise
und vermeidet noch mehr Miese?

Was ist richtig und was nicht?
Muss man dazu vor Gericht?
Ist das Gartencenter wichtig,
meine Kneipe aber nichtig?

Brauche ich das Abitur,
aber dafür nix Kultur?
Und das Gretchen fragte schon:
„Wie hältst du’s mit Religion?“

’s sagte mal ein Präsident,
dessen Namen man auch kennt:
„Die Kultur sei die Grundlage
unsres Lebens.“ Ohne Frage!

Darum, liebe Landesväter,
äußert Euch, und nicht erst später.
Was passiert mit kleinen Dingen,
die mit Abstand auch gelingen?

Bühnenkünste und Konzerte
steh’n bei uns für hohe Werte,
die gefördert werden müssen.
Warum soll die Kunst jetzt büßen?

„Life is Live“: So ist das Leben,
das wir alle woll’n erstreben.
Vor Moral kommt zwar das Fressen.
Doch die Kunst tut nicht vergessen!
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Ein später Abend

Smileys von der Enkelin.

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