Donnerstag, 16.März

Heute haben
César Vallejo * 1892
Sybille Bedford * 1911
Tiziano Scarpa * 1963
Zoe Jenny * 1974
Geburtstag
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Theodor Storm
März

Und aus der Erde schauet nur
Alleine noch Schneeglöckchen;
So kalt, so kalt ist noch die Flur,
Es friert im weißen Röckchen.
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Unser Buchtipp:

Toni Morrison: „Rezitativ
Aus dem Amerikanischen von Tanja Handels
Mit einem langen Nachwort von Zadie Smith
Rowohlt Verlag € 20,00
Random House € 14,90

1983 veröffentlichte Toni Morrison diese Erzählung. „Rezitativ“ bleibt ihre einzige in ihrem umfangreichen Werk. In deutsch steht sie uns jetzt jetzt zum ersten Mal zur Verfügung.
Wie ein Experiment mutet die Lektüre im Nachklang an. Eine Versuchanordnung, über die wir lange gemeinsam diskutieren könnten.
Twyla und Roberta trafen sich in einem Kinderheim. Ihre alleinerziehende Mütter konnten sich nicht ausreichend um die beiden Mädchen kümmern. Twylas Mutter hatte die Nächte durchgetanzt und ihr Kind allein gelassen. Robertas Mutter war ständig krank. Vier Monate lebten sie dort zusammen.
„Schlimm genug, früh am Morgen aus dem eigenen Bett geholt zu werden – aber dann noch an einem fremden Ort festzusitzen, zusammen mit einem Mädchen von ganz anderer Hautfarbe. Und Mary, so heißt meine Mutter, hatte ja recht. Von Zeit zu Zeit hörte sie nämlich gerade so lange mit dem Tanzen auf, um mir was Wichtiges zu erklären, und unter anderem hat sie mir erklärt, dass die sich nie die Haare waschen und komisch riechen.“
Eines der beiden Mädchen ist schwarz, das andere weiss. Nach diesem Zitat ist klar, wer. Aber stimmt das? Toni Morrison lässt das, ganz bewusst, offen. Bis zum Schluss, wissen wir es nicht, erahnen, verwerfen.
Dieses raffinierte Spiel mit den verschiedenen Wahrnehmungen zieht sich durch den kompletten Text. Dazu kommen noch die Fallstricke mit unseren Erinnerungen, an denen wir ein halbes Leben festhalten, obwohl es sich vielleicht/wahrscheinlich ganz anders ereignet hat. Denn Jahre später treffen sich die beiden Frauen mehrfach wieder. Irgendwie sind die Rollen, die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie leben, wie auf den Kopf gedreht, wenn wir uns an die beiden Mädchen zu Beginn der Erzählung erinnern.
Die Rassentrennung ist seit den 60er Jahren in den USA abgeschafft, aber weder 1983, noch 2023 hat die Gewalt gegen die schwarze Bevölkerung nachgelassen. Erst vor zwei Tagen haben wir das in den Texten von Mumia Abu-Jamal zu hören bekommen.

Wichtig an dieser Ausgabe ist das sehr lange Nachwort (im Original heisst es: Einführung) von Zadie Smith, das unglaublich klug, erhellend ist und uns die Erzählung nochmals aufdröselt, in das Werk der Nobelpreisträgerin einführt und die Bezüge zum täglichen Rassismus herstellt.

Eine kleine Sensation.

Leseprobe
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Montag, 13.März


Heute haben
Oskar Loerke * 1884
Hugh Walpole * 1884
Frank Thieß * 1890
Jannett Flanner * 1892
Erich Kästner * 1904
Juri Andruchowytsch * 1960
Geburtstag
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Oskar Loerke
Die Stadt verklingt

Woher die feinen Töne schweben
Wie weit verwehter Düfte Schwaden?
Sie sind vom weiten Weg beladen
Mit Mörtelmehl und Spinneweben.

Verstaubtem Öl in Schlüssellöchern
Und stickluftdunkler Korridore,
Mit Säuren, Weines rotem Flore,
Mit Anklang, eisern, hölzern, knöchern.

Und während sie dich schwer erheben,
Kommt schon der Mond mit großem Rade,
Und unter dir klingt als Ballade
Die Stadt, der Abend und dein Leben.
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Frisch ausgepackt:


Lisa Roy: „Keine gute Geschichte
Rowohlt Verlag € 22,00

Dieser Debütroman hat es in sich und wer sich darauf einlässt, kommt schlecht wieder davon los. Lisa Roy schreibt direkt, schonungslos und mit viel Humor über eine Situation, die wir im ersten Moment gut kennen.
Arielle Freytag wuchs im prekären Essener Stadtteil Katernberg auf, schaffte den Weg dort heraus und verdiente in ihrer Arbeit viel Geld, bis sie eine Depression aus der Bahn warf. Kaum ist sie wieder in ihren eigenen vier Wänden, erhält sie einen Anruf, dass es ihrer Großmutter sehr schlecht geht und ob sie sich nicht um sie sie kümmern könne. So steht sie wieder in ihrem alten Viertel, stolpert über ehemalige Freund:innen und Bekannte und findet überall Plakate von zwei Mädchen, die vermisst sind. Arielles Mutter war auch eines Tages verschwunden, ihren Vater kennt sie nicht und sie wuchs bei ihrer Großmutter auf.
Was sich in dieser Beschreibung sehr ernst und niederdrückend anhört, liest sich im Buch anders. Lisa Roy hat einen schnellen, direkten Ton, schildert das sehr einfache Leben im Stadtteil und nimmt uns mit auf eine Fahrt durch diverse Leben ohne Hoffnungen, mit Rückblicken in ihre Kindheit und einigen Hoffnungsschimmern. Und das alles hat eine gewisse Leichtigkeit im Stil und Treffsicherheit in ihren Beschreibungen, dass die 240 Seiten zu einer schnellen, nachhaltigen Lektüre werden.

Lisa Roywurde 1990 in Leipzig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Sie studierte in Dortmund und Köln und veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften und Anthologien. Für die Arbeit an ihrem ersten Roman Keine gute Geschichte erhielt sie 2021 das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln und den GWK-Förderpreis Literatur. Lisa Roy lebt mit ihrer Familie in Köln. 

Leseprobe
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Dienstag, 14.März, 19 Uhr in der Buchhandlung
Mumia Abu-Jamal: „Texte aus dem Todestrakt“
Buchpräsentation
Organisiert von amnesty international Ulm
Es liest Clemens Grote

Mumia Abu-Jamal sitzt seit über 40 Jahren im Gefängnis – zu Unrecht zum Tode verurteilt, wie seine Unterstützer sagen. Denn die ihm vorgeworfene Tat kann so, wie vor Gericht behauptet, nicht stattgefunden haben. Wurde an ihm ein Exempel statuiert? Doch Abu-Jamal lässt sich nicht zum Schweigen bringen. Seit über 30 Jahren verfasst er Beiträge für die Gefangenenplattform PRISON RADIO zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen wie der Todesstrafe, den regressiven Tendenzen der US-Strafjustiz, Rassismus, dem Trump-Mob, Kapitalismus, Krieg und Klimakrise oder der Beziehung indigener Gesellschaften zur Ökologie. Die hier versammelten Essays erscheinen zum größten Teil erstmals auf Deutsch.

Mumia Abu-Jamal (*1954 als Wesley Cook) engagierte sich schon als Teenager in der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung und bei den Black Panthers. Später fand er zu MOVE, einer radikalökologischen, anarchistischen Gruppierung um den charismatischen John Africa, die in Philadelphia wirkte und dort heftigsten Repressalien der Polizei ausgesetzt war. Auch Abu-Jamal wurde 1981 auf Grund angeblichen Mordes an einem Polizisten verhaftet und sitzt seitdem im Gefängnis. Versuche, seine Unschuld vor Gericht zu beweisen, waren bisher ebenso erfolglos wie die Bestrebungen zahlreicher Aktivisten und Ermittler, durch Aufklärung des Falles für Gerechtigkeit zu sorgen.

Mittwoch, 8.März

Heute haben
Kenneth Grahame * 1859
Heinar Kipphardt * 1922
Walter Jens * 1923
Juri Rytcheu * 1930
Jeffrey Eugenides * 1960
Geburtstag
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„Es gibt Leute, die bereit sind, die Freiheit zu schützen, bis nichts mehr von ihr übrig ist.“
Heinar Kipphardt
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Platz 1 der SWR Bestenliste März 2023


Friedrich Christian Delius: «Darling, it’s Dilius!»

Erinnerungen mit großem A
Rowohlt Verlag € 24,00

F.C.Delius war immer für eine Überraschung gut. Politisch, gesellschaftlich hat er sich mit seinen Texten eingemischt und das in seiner literarisch ruhigen, oft auch ironischen Art aufnotiert. Frühe Werkreportagen, wie bei Siemens, seine SPD Zeit mit Willy Brandt, das Erlebnis Fußball-Weltmeister zu werden und das am Sonntagnachmittag am Radio verfolgen zu können, die Flucht eines Mannes aus der DDR und seine Rückkehr, das Zittern des Papst beim Gebet in einer römischen Kirche und vieles vieles mehr, hat er in seinen (meist schmalen) Romanen veröffentlicht.
80 Jahre wäre er im Februar diesen Jahres geworden. Gestorben ist er im Frühjahr davor. Hinerlassen hat er uns eine Biographie in 300 Kapiteln, die alle mit einem Wort mit A in der Überschrift beginnen.
Von „Abbey Road“, „Abendrot“, „Adorf“, „Adorno“, „Akte“, „Aktien“, „Altkanzler“, „Abstand“, „Anstand“, „Aufstand“ bis zu „Arroganz“ und „Azzurro“ geht die Reihe und dahinter verstecken sich poetische, gedankenscharfe, sehr perönliche Erinnerungen aus seinem Leben. Rom, Berlin, New York, Kindheit, Familie, Arbeit und Mitmenschen sind u.a. Themen darin und zeigen einen sehr klugen, zurückhaltenden Menschen und Autor, der versteht, uns zu unterhalten.
Hi, Dilius, schade, dass es beim A geblieben ist. Was wäre es wohl für ein Buch geworden, wenn Sie den Buchstaben D ausgesucht hätten?
Vielen Dank für diese Lebenserinnerung und Auf Wiedersehen.

Leseprobe
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Ausstellung: „Frau, Leben, Freiheit“                                         

Illustrationen von Demonstrierenden der Revolution im Iran vom 11.3.- 21.4.2023
täglich 9-18 Uhr, Sonntag bis 16 Uhr im Haus der Begegnung

Herzlich willkommen zur Vernissage: 11. März um 18.00 Uhr im Haus der Begegnung
Bei der Vernissage wird es eine Liveschaltung zu der Künstlerin Naghmeh Jah aus Kanada geben und die Schauspielerin Jasmin Tabatabai spricht per Videobotschaft zur Situation im Iran.

Unter den politischen Slogans des Jahres 2022 dürfte jener aus dem Iran der bekannteste sein: „Frau, Leben, Freiheit“ riefen Tausende in den Straßen der Islamischen Republik. Auslöser der landesweiten Massendemonstrationen in Iran war der Tod der 22-jährigen iranischen Kurdin JînaMahsa Amini.
Mittlerweile sind es Proteste von enormem Ausmaß, angeführt von Frauen, die unter Einsatz ihres Lebens ihre Stimme erheben gegen brutale Menschenrechtsverletzungen. Es ist demographisch die jüngste Widerstandsbewegung, die auch von mutigen Männern unterstützt wird.
Mittlerweile gibt es ca. 19000 inhaftierte Demonstrierende und unzählige Ermordungen und Hinrichtungen. Die im Exil lebende iranische Künstlerin Frau Naghmeh Jah möchte diese mutigen Menschen, die entweder hingerichtet, ermordet, gefoltert oder inhaftiert wurden und werden ein unvergessliches Gesicht geben, indem sie tagesaktuell auf social Media kunstvolle Grafiken von ihnen veröffentlicht.

Veranstalter*innen:   Diakonische Bezirksstelle, Iraniansofulm, Haus der Begegnung

Samstag, 12.November


Heute haben
Oskar Panizza * 1853
Hans Werner Richter * 1908
Michael Ende * 1929
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Die Erzählung „Die Zigarrenkiste“ von Hans Werner Richter ist fertig und wir verteilen/verschenken sie schon. Wenn Sie Interesse an dieser sehr lustigen Geschichte aus Bansin an der Ostsee haben, melden Sie sich.
Wir tüten sie für Sie ein.

(„Die Zigarrenkiste“ aus Hans Werner Richter: „Geschichten aus Bansin“, Wagenbach Verlag)
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Winfried Hermann Bauer
Kriegslogik

Der Krieg hat seine eigene Logik
Weißt du
Ihr Ziel ist
Die Vernichtung der Alternative
Ihre Währung heißt Tapferkeit
Vor dem Feind
Im Zielfernrohr
Erkennst du am Ende
Vielleicht
Noch
Deinen Irrtum
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Jetzt als Taschenbuch:


Jonathan Franzen: „Crossroads„
Original € 14,90
Aus dem Amerikanischen von Bettina Babarbanell
Rowohlt Verlag € 17,00

Ein wirklich dicker Brocken und es ist der erste von drei Folgen. Es kommen also noch zwei Romane und ich bin so was von gespannt, wie es weiter geht, da Franzen geniale Cliffhanger eingebaut hat.
Kurz vor Weihnachten vor 50 Jahren, irgendwo im mittleren Westen der USA. Eine Familie mit vier Kindern. Jedes Familienmitglied bekommt jeweils ein eigenes Kapitel und wir merken schon nach wenigen Seiten, dass sich hier Gräben und Verwerfungen auftun. Zwischen den Zeilen lesen wir, dass in der Familie einiges aus dem Ruder läuft.
Franzen hält, wie schon in seinem frühen Roman „Korrekturen“, der us-amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vor. Und das macht er anhand weniger Personen.
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BERLIN taz | Von überall schallen derzeit Rufe, härter gegen die Letzte Generation vorzugehen. Dabei sind in den Berliner Gerichten bereits 174 Verfahren anhängig, in denen den Ak­ti­vis­t:in­nen der Gruppe meist Nötigung und häufig auch Widerstand vorgeworfen wird. Doch vereinzelt regt sich offenbar auch unter den Rich­te­r:in­nen Widerstand dagegen, Klimaaktivismus mit Strafen zu begegnen.

So hat ein Richter des Amtsgerichts Tiergarten einen Antrag der Staatsanwaltschaft für einen Strafbefehl abgeschmettert und sich dabei ausdrücklich auf die Klimakrise bezogen. In der Begründung des Beschlusses von Anfang Oktober, der der taz vorliegt, heißt es, die Klimakrise sei eine „objektiv dringliche Lage“ und „wissenschaftlich nicht zu bestreiten“. Bei einer Bewertung des Protestes sei das nur „mäßige politische Fortschreiten“ der Klimamaßnahmen zu berücksichtigen. Die Handlungen der Beschuldigten, die für dreieinhalb Stunden die Kreuzung am Frankfurter Tor blockiert haben soll, seien „nicht verwerflich“.

Den Vorwurf des Widerstands verwarf er, weil sich an den Asphalt zu kleben keine Gewalt darstelle. Auch sei Po­li­zis­t:in­nen das Bepinseln einer Hand zuzumuten. Auch den Vorwurf der Nötigung verwarf er. Demonstrationen seien „lästig, aber für den demokratischen Rechtsstaat unerlässlich“. Unter anderem bewertet der Richter die Blockade als „nicht verwerflich“, da keine Rettungswege blockiert wurden und an der Kreuzung regelmäßig mit Staus zu rechnen sei. Auch betreffe das Anliegen der Aktivistin „alle Menschen, also auch die durch die Blockade betroffenen Fahrzeugführer“.

Mehr auf taz.de

Dienstag, 16.August

Mit Blick aufs Meer
(Foto: Katja Rehbaum)

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Heute haben
Jean de La Bruyère * 1645
Georgette Heyer * 1902
Charles Bukowski * 1920
Reiner Kunze * 1933
Petra Oelker * 1947
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Heinrich Heine
Es schauen die Blumen alle

Es schauen die Blumen alle
Zur leuchtenden Sonne hinauf;
Es nehmen die Ströme alle
Zum leuchtenden Meere den Lauf.

Es flattern die Lieder alle
Zu meinem leuchtenden Lieb
Nehmt mit meine Tränen und Seufzer,
Ihr Lieder, wehmütig und trüb!
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Das Taschenbuch passt in jedes Fluggepäck:


Hervé Le Tellier: „Anomalie
Aus dem Französischen von Romy und Jürgen Ritte
Rowohlt Verlag € 13,00

Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt 2021

Und wieder hat es sich bewahrheitet, dass die Goncourt Preisträgerromane eine ausgezeichnete Lektüre sind. Diesmal allerdings sehr unfranzösisch. Eher schon wie ein us-amerikanischer Thriller. Wobei Tellier hier eine perfekte Mischung aus Thriller, Komödie und Roman gefunden hat.
Wenn ich jetzt mit der Inhaltsangabe beginne, denken Sie sich vielleicht: Ja geht’s noch?
Ja! und wie.
Im März 2021 fliegt eine Boeing 787 auf dem Weg von Paris nach New York durch einen elektromagnetischen Wirbelsturm. Die Turbulenzen sind heftig, doch die Landung glückt. Allerdings: Im Juni landet dieselbe Boeing mit denselben Passagieren ein zweites Mal. Im Flieger sitzen der Architekt André und seine Geliebte Lucie, der Auftragskiller Blake, der nigerianische Afro-Pop-Sänger Slimboy, der französische Schriftsteller Victor Miesel, eine amerikanische Schauspielerin.
Natürlich ist so etwas nicht möglich und die zweite Maschine wird auch deshalb auf einen Militärstützpunkt umgeleitet und landet nicht in New York. Abgeschirmt von der Aussenwelt und mit Hilfe von hochkarätigen Wissenschaftlern versuchen alle hinter dieses Phänomen zu kommen.
Wie das Tellier aufbereitet und wie er seine Figuren aus dem ersten Flug und aus dem zweiten begleitet, ist ihm perfekt gelungen.
Lassen Sie sich überraschen. Es geht nicht um die Lösung des Phänomens, sondern: Was passiert mit den Menschen? Wie reagieren sie und wie reagiert die Aussenwelt auf sie?
Eine super Lektüre.

Leseprobe

Freitag, 5.August

Heute haben
Guy de Maupassant * 1850
Per Wahlöö * 1926
Gunter Haug * 1955
David Baldacci * 1960
Georg M.Oswald * 1963
Geburtstag
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Friedrich Hölderlin
Sommer

Noch ist die Zeit des Jahrs zu sehn, und die Gefilde
Des Sommers stehn in ihrem Glanz, in ihrer Milde;
Des Feldes Grün ist prächtig ausgebreitet,
Allwo der Bach hinab mit Wellen gleitet.

So zieht der Tag hinaus durch Berg und Tale,
Mit seiner Unaufhaltsamkeit und seinem Strahle,
Und Wolken ziehn in Ruh`, in hohen Räumen,
Es scheint das Jahr mit Herrlichkeit zu säumen.
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Unser Buchtipp:


Lukas Maisel: „Tanners Erde
Rowohlt Verlag € 22,00

Es könnte alles immer so bleiben, wie es war. Bauer Tanner, in der Schweiz bei seinen Milchkühen, auf seinem Bauernhof , mit seiner Frau. Sehr bald merken wir aber, dass sich überall Haarrisse bilden, sich kleine Veränderungen auftun. Eine seiner Kühe hat eine Entzündung am Euter, mit seiner Frau lebt er kinder- und fast sprachlos zusammen. Körperkontakt findet fast nicht mehr statt.
Als er ein großes, tiefes Loch auf seinem Grundstück entdeckt, kann er das nicht zuordnen und versucht es durch Schweigen zum Verschwinden zu bringen.
„Als hätte ein Riese mit einem Bohrer hantiert. Tanner muss lachen, das kann nur ein Witz sein, jemand hat ihm einen Streich gespielt. Er schaut übers Land, ob da irgendwo ein Erdhaufen ist. Nichts.“
Dieses Ereignis bringt sein karges, einfaches Leben ins Wanken. Mit der Zeit verändert sich auch das Verhältnis seiner Nachbarn zu ihm, mit denen er sich hin und wieder im Gasthof trifft. Als er Hilfe benötigt, ist von Solidarität nicht mehr viel zu spüren.
Lukas Maisel hat in seinem schmalen Roman hinter die Kulissen einer heilen Welt voller glücklicher Küher geschaut und denkt sicher nicht nur an Bauer Tanner, sondern an uns alle, wenn er von Veränderungen schreibt, die nicht fassbar sind, aber unser Leben massiv beinträchtigen.
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Unsere Veranstaltungen finden Sie hier.

Mittwoch, 15.Juni

„Die Telefonzelle am Ende der Welt“

Heute haben
Carlo Porta * 1775
William McFee * 1881
Ramón López Velarde * 1888
Trygve Gulbranssen * 1894
Silke Scheuermann * 1973
Geburtstag
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Silke Scheuermann
Die Alpen werden geschlossen

Es schneit Jahre lang Jahrzehnte lang
Ich senke meine Kopf tief unter
den Spiegel des Mittelmeers
während die Bäume rutschend
den Breitengrad wechseln

Der Wind der sich in einen
vollkommenen Zirkel verirrt hat
flüstert daß er gerne hilft
aber nicht glaubt es würde besser

Die Alpen werden geschlossen

Wir kehren als letzte
sehr zögernd nach Hause
zurück

(aus: Jahrbuch der Lyrik 2003, Hrsg. v. Christoph Buchwald u. Lutz Seiler
C.H. Beck-Verlag, München 2002)
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Jetzt als Taschenbuch

Michael Maar: „Die Schlange im Wolfspelz
Das Geheimnis großer Literatur
Rowohlt Taschenbuch € 16,00

Bücher über Literatur, einen Kanon der besten Romane, einen Romanverführer, das alles gibt es schon. Michael Maars 50 Porträts großer AutorInnen ist jedoch so klug, präzise, witzig, schlagfertig, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen will. Eigentlich ist, während und nach der Lektüre, sofort ein Gang in die Buchhandlung, oder in die Bibliothek fällig, da fehlende Litertur sofort nachgelesen werden will. Das Inhaltsverzeichnis liest sich wie ein Who is Who der deutschen Literatur. Von Nietzsche zu Herrndorf, Eckhard Henscheid zu W.G.Sebald und Stifter zu Ulrich Becher. Und und und. Großartig.
Jaaa: Ulrich Bechers „Murmeljagd“ ist für mich eines der besten Romane überhaupt. Auch den gibt es wieder als Taschenbuch im Diogenes Verlag. Erwähnung findet die „Murmeljagd“ bei Michael Maar auf Seite 535. Und beide Taschenbücher liegen bei uns auf dem Tisch.
Aber, lieber Michael Maar, dass Albert Vigoleis Thelens: „Die Insel des zweiten Gesichts“ nicht vorkommt, ist sehr schade. Wo der Roman doch genauso frech, witzig, klug ist, wie das Sachbuch von Ihnen.

Leseprobe
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Hardy on Tour


Das ist John John -so nennt er sich selbst. Er ist Franzose und läuft mit seinem Sackkarren als Transportmittel von Schottland in die Normandie, um Völkerverständigung und Erinnerungsarbeit zu leisten. Eine schöne Begegnung.

Tag 19 
134 km von Worcester über Kidderminster und Newport bis Autlem

Ich habe mein Zelt am hiesigen Sportgelände (Cricketfeld) aufgestellt und mache mir noch ne heisse Milch. Komisch, daß ich so gern Milch trinke, wenn ich auf Radreise bin.
Hier ist es nun 22:00 Uhr (in Deutschland somit 23:00 Uhr) und es ist noch hell, dazu absolut windstill. Es war ein prächtiger Radeltag. Sonnig, aber nicht zu warm, dazu ganz ohne Pannen. 
Den Nachmittag hab ich ziemlich verbummelt. Die Route führte lang am Kanal entlang (vor bald 200 Jahren als Handelsweg erschaffen), ein wunderschöner Weg, geschottert zwar, aber gut zu beradeln. Dieser Kanal, mit den  schmalen Booten drauf, hatte es mir angetan. Ich fand es total faszinierend, wie die Boote in die Schleusen fuhren und diese dann händisch, mechanisch bedient wurden. Ich habe selber einmal mit Hand angelegt. Früher haben Pferde die Boote gezogen. Deshalb auch der Weg unmittelbar am Kanal entlang.
Tja und wer den Nachmittag über die Beine baumeln lässt, der muß dann halt am Abend länger strampeln wenn er vorwärts kommen will. So einfach ist das.


Montag, 14.März

35.000 Menschen bei der Friedensdemo in Stuttgart

Heute haben
Peter Paul Zahl * 1944
Jochen Schimmang * 1948
Christian Dithfurth * 1953
Geburtstag
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Theodor Fontane
Frühling

Nun ist er endlich kommen doch
in grünem Knospenschuh.
»Er kam, er kam ja immer noch«,
die Bäume nicken sich’s zu.

Sie konnten ihn all erwarten kaum,
nun treiben sie Schuß auf Schuß;
im Garten der alte Apfelbaum
er sträubt sich, aber er muß.

Wohl zögert auch das alte Herz
und atmet noch nicht frei,
es bangt und sorgt: »Es ist erst März,
und März ist noch nicht Mai.«

O schüttle ab den schweren Traum
und die lange Winterruh‘,
es wagt es der alte Apfelbaum,
Herze, wag’s auch du!
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Unser Bilderbuchtipp:


Miriam Zedelius: „Picknick mit Herrn Klein / Picknick mit Frau Groß
Rotfuchs Pappbilderbuch € 10,00
ab 2 Jahre

Das kleinformatige Pappbilderbuch enthält gleich zwei Geschichten. Einmal lädt Herr Klein Frau Groß zu sich ein. Aber: Das Haus ist viel zu klein und den Minikuchen macht Frau Groß auch nicht satt. Aber sie können ja zusammen auf die Wiese gehen, ein Picknick veranstalten und die Kirschen vom Baum pflücken. Gemeinsame liegen sie danach unter der Sonne und ruhen sich aus.
Danach: Einfach umdrehen!
Jetzt lädt Frau Groß Herrn Klein ein. Aber der Stuhl und der Tisch sind viel zu groß. Also nix wie raus auf die Wiese. Vom riesigen Kuchen von Frau Groß bekommen alle Vögel aus dem Park noch etwas ab und die beiden liegen unter der Sonne und ruhen sich aus.
Hier auf der Wiese, unter der Sonne, in der Mitte des Buches treffen sich nämlich die beiden und wir können das Buch wieder umdrehen und von vorne beginnen.
Eine schöne Freundschaftsgeschichte über alle Hindernisse hinweg.

Donnerstag, 3.Februar


Heute haben
Annette Kolb * 1870
Gertrude Stein * 1874
Georg Trakl * 1887
Johannes Urzidil * 1896
Simone Weil * 1909
Richard Yates * 1926
Andrzej Szczypiorski * 1928
Paul Auster * 1947
Henning Mankell * 1948
Sarah Kane * 1971
Geburtstag
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„As long as there’s one person to believe it, there’s no story that can’t be true.“
Paul Auster
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Paul Auster feiert heute seinen 75.Geburtstag.


Paul Auster: „In Flammen
Leben und Werk von Stephen Crane

Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
Rowohlt Verlag € 34,00

Es gibt wohl wenige von uns, die noch nichts von Paul Auster gelesen haben. Zu lange begleitet er uns schon auf dem deutschen Buchmarkt. Sein letzter Roman „4321“ war ein großer Erfolg, eine irre Idee und ein großer Lesespaß. Allerdings auch 1.200 Seiten stark. Danach brauchte er erst einmal eine Pause, so erzählte er ein einem Interview in der Süddeutschen Zeitung. Er widmete sich all den Büchern, die er schon lange einmal lesen wollte und wozu er während des Schreibens nicht gekommen ist.
Dabei stolperte er über den us-amerikanischen Schriftsteller Stephen Crane, der 1871 geboren und mit 29 Jahren 1900 gestorben ist. Er hat ein Werk von über 3.200 Seiten hinterlassen: Romane, Reiseerzählungen, Short Storys, journalistische Beiträge, Kriegsberichte und Gedichte.
Paul Auster war so fasziniert, dass er einen kleinen Text mit ca 150 Seiten über diesen Autoren, sein Werk und die Zeit, schreiben wollte. Daraus sind dann im Amerkanischen 800 Seiten im Deutschen 1.200 Seiten geworden.
Kann das funktionieren? Ja, und zwar in verschiedenen Möglichkeiten:
Paul Austers Roman: „In Flammen“ beginnt so stark, dass es wirklich anmacht, sofort weiterzulesen. Daneben gibt es im Pendragon Verlag zwei Ausgaben mit Erzählungen und Kurzromanen von Stephen Crane. Ein dritter folgt demnächst. Im mare Verlag gibt es eine sehr schöne Ausgabe im Schuber über seinen Schiffsbruch. Und bei Reclam gibt es einen Roman im Original zu lesen.
Diese Texte von Stephen Crane waren für mich wirklich eine Entdeckung.

So! Jetzt haben Sie die Auswahl. Viel Vergnügen damit.

Leseprobe aus „In Flammen„.


Samstag, 22.Januar

Heute haben
John Donne * 1572
Gotthold Ephraim Lessing * 1729
Lord Byron * 1788
August Strindberg * 1849
Francis Picabia * 1879
Wilhelm Genzino * 1943
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„Lese jeden Tag etwas, was sonst niemand liest. Denke jeden Tag etwas, was sonst niemand denkt. Tue jeden Tag etwas, was sonst niemand albern genug wäre, zu tun. Es ist schlecht für den Geist, andauernd Teil der Einmütigkeit zu sein.“

„Kein Mensch muß müssen! Man ist niemandem in der Welt etwas schuldig, als sich selber.“
Gotthold Ephraim Lessing
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Seit gestern als Taschenbuch auf unserem Büchertisch:


Colum McCann: „Apeirogon
Aus dem Amerikanischen von Volker Oldenburg
Rowohlt Verlag € 14,00

Rami Elhanan und Bassam Aramin haben beide ihre Töchter verloren.
Rami ist Israeli, Bassam Palästinser. Rami und Bassam gibt es wirklich. Ramis Tochter wurde 1997 im Alter von dreizehn Jahren von einem palästinensischen Selbstmordbomber vor einem Jerusalemer Buchladen getötet. Bassams Tochter starb 2007 zehnjährig mit einer Zuckerkette in der Tasche vor ihrer Schule durch die Kugel eines israelischen Grenzpolizisten.
Beide Männer wurden Freunde, reisen um die Welt, halten Vorträge und kämpfen für den Frieden in diesem Krisen/Kriegsgebiet.
Für Elke Heidenreich war dieser Roman das beste Buch des Jahres 2020. Recht hat sie. „Apeirogon“ ist ein unglaublich starker Roman, der auf den ersten Blick verstört, durch seine z.T. kürzesten Kapitel. Und doch sind Sie gefangen in diesen Seiten, auf denen McCann die ganze Welt packt. Unglaublich, welche Bezüge er herstellt, wie er immer wieder auf bestimmte Momente aus den Leben der beiden Männer zurückkommt und sie von verschiedenen Seiten beleuchtet. Was hat der Vogelflug, die John Cage Musik in Halberstadt, befreundete Zahlen, der Drahtseilartist Petit (den wir schon aus einem früheren Roman von McCann kennen) mit der Ermordung der beiden Mädchen zu tun? McCann schafft das und legt hier ein Meisterwerk vor.

Apeirogon ist ein Hybrid-Roman, in dem das meiste erfunden ist, eine Erzählung, die wie jede Erzählung Spekulation, Erinnertes, Tatsachen und Phantasie verwebt.“,
schreibt Colum McCann im Nachwort.