Dienstag, 27.April

Wir haben wieder geöffnet und fünf Einkaufskörbe für fünf KundInnen an der Eingangstür.
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Heute haben
Arnold Höllriegel * 1883
Cecil Day Lewis * 1904
Zhang Jie * 1937
Aminata Sow Fall * 1941
Geburtstag
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Andreas Gryphius
Betrachtung der Zeit

Mein sind die Jahre nicht die mir die Zeit genommen.
Mein sind die Jahre nicht / die etwa möchten kommen.
Der Augenblick ist mein / und nehm‘ ich den in acht
So ist der mein / der Jahr und Ewigkeit gemacht.
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Ganz frisch als Taschenbuch ausgepackt.
Im Moment warten wir von Johnson & Johnson nicht auf Herzklappen, sondern auf Impfampullen.
Aber dieser Roman ist wirklich ganz starker Stoff.


Valerie Fritsch: „Herzklappen von Johnson & Johnson
Suhrkamp Taschenbuch € 11,00

Das dritte Buch von Valerie Fritsch hat mich umgehauen. So ein genialer Umgang mit Sprache, das Fließen durch die Seiten, Formulierungen, die ich noch nie gelesen habe, haben die Lektüre zu einem ausgewöhnlichen Erlebnis gemacht.
Es könnte alles so banal sein.
Alma ist zu Beginn ein kleines Mädchen und ihre Eltern stehen im Mittelpunkt des ersten Teils. Darauf folgt der Groß- und danach die Großmutter. Als Alma sich in Friedrich verliebt und sie ihr Kind Emil bekommen, stehen natürlich diese beiden Männer im Mittelpunkt, bis sich der Kreis wieder zu den Großeltern schließt.
Valerie Fritsch versteht es gekonnt, die Sprachlosigkeit des Großvaters zu beschreiben, der im Krieg Opfer und Täter war und darüber nicht spricht, wenn er das überhaupt noch tut. Ganz im Gegenteil dazu seine Frau, die ketterauchend Alma immer und immer wieder Geschichten aus ihrem Leben erzählt und sich dabei öfters auf das Wohl der Verstorbenen einen genehmigt.
Der Schmerz der Sprachlosigkeit, der Schmerz des wiederholten Erzählenmüssens spiegelt sich in Almas Kind Emil, der schmerzunempfindlich ist und somit besonderer Fürsorge durch die Eltern bedarf. Nicht leicht für Alma, nach ihren langen Depression nach der Geburt.
Emil muss den Schmerz erlernen, sich aneignen, ein Etwas vortäuschen, das er nicht kennt. Er führt ein Leben zwischen Superman und oftmaligen Klinikbesuchen.
Valerie Fritsch verbindet, verknüpft, baut sich und uns ein Kammerspiel zusammen, schlägt einen großen weiten Bogen, bis sich der Kreis schließt.
Alma findet ihren Frieden. Weit weg, aber in Gemeinschaft mit ihrem Mann Friedrich und ihrem Sohn Emil.
Ein großartiges Buch. Bitte lassen Sie sich nicht von der langen Inhaltsangabe verwirren. Es ist ein schmales Buch, bei der die Sprache uns durch die Geschichten trägt, wie wenn sie „Zugvögel unter der Haut“ hätte.

Leseprobe
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Gerade eben hat sich noch eine Person zum Mitradeln angemeldet. Super. Danke.

Donnerstag, 3.Dezember


Andreas Gryphius

Der schnelle Tag ist hin / die Nacht schwingt ihre Fahn /
Und führt die Sternen auff. Der Menschen müde Scharen
Verlassen feld und werck / Wo Thier und Vögel waren
Trawert itzt die Einsamkeit. Wie ist die zeit verthan!

Der port naht mehr und mehr sich / zu der glieder Kahn.
Gleich wie diß licht verfiel / so wird in wenig Jahren
Ich / du / und was man hat / und was man siht / hinfahren.
Diß Leben kömmt mir vor alß eine renne bahn.

Laß höchster Gott mich doch nicht auff dem Lauffplatz gleiten
Laß mich nicht ach / nicht pracht / nicht lust / nicht angst verleiten.
Dein ewig heller glantz sei vor und neben mir /

Laß / wenn der müde Leib entschläfft / die Seele wachen /
Und wenn der letzte Tag wird mit mir abend machen /
So reiß mich auß dem thal der Finsterniß zu dir.
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Das dritte Rätsel wartet auf seine Auflösung.

Aus welchem Roman(zyklus) stammen diese ersten Zeilen?


Wenn Sie die Lösung wissen und Lust haben, dann auf der Kommentarfunktion die richtige Antwort eingeben.

Danke und viel Vergnügen.
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Unser Jahresrückblick:

Im März hatten wir einen ausergewöhnlichen Hörtipp.
Aber nur im ersten Moment. Danach ist es einfach schöne Musik.

0190759031025

Marie-Claude Chappuis – Au Coeur des Alpes (Volkslieder der Schweiz)
Marie-Claude Chappuis, Luca Pianca, Duilio Galfetti, Marco Frezzato, Liana Mosca, Choeur des Armaiilis de la Gruyere
SONY CD € 18,99

Musik aus den Schweizer Bergen. Da wird doch sicherlich gejodelt?
Na klar. Auch das. Und Alphörnen sind auch dabei und Hörner und Mandolinen. Marie-Claude Chappuis singt in verschiedenen Sprachen, glockhell und ergreifend schön. Wenn Sie die Mezzosopranistin live sehen wollen, dann müssen Sie schon nach London. Dort singt sie die Dido in Purcells Oper.
Chappuis wird von verschiedenen Freunden begleitet und ein handfester Männerchor darf auch nicht fehlen. So sind dies zwar Schweizer Volkslieder aus den verschiedensten Regionen, aber meilenweit entfernt von jeglicher Volkstümelei.
Die Musik tut so gut und wenn das letzte Lied (ein Gute-Nacht-Lied in deutscher Sprache) verklungen ist, fühlt man sich richtig erholt.

Freitag, 2.Oktober

Heute haben
Andreas Gryphius * 1616
Graham Greene * 1904
Helga Schütz * 1937
Anna Mitgutsch * 1948
Lisa St.Aubin de Terán * 1953
Geburtstag
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Andreas Gryphius
Morgen Sonnet

Die ewig helle schar wil nun jhr licht verschlissen/
Diane steht erblaßt; die Morgenrötte lacht
Den grawen Himmel an/ der sanffte Wind erwacht/
Vnd reitzt das Federvolck/ den newen Tag zu grüssen.
Das leben dieser welt/ eilt schon die welt zu küssen/
Vnd steckt sein Haupt empor/ man siht der Stralẽ pracht
Nun blinckern auf der See: O dreymal höchste Macht
Erleuchte den/ der sich jtzt beugt vor deinen Füssen.
Vertreib die dicke Nacht/ die meine Seel vmbgibt/
Die Schmertzen Finsternüß die Hertz vnd geist betrübt/
Erquicke mein gemüt/ vnd stärcke mein vertrawen.
Gib/ daß ich diesen Tag/ in deinem dinst allein
Zubring; vnd wenn mein End‘ vnd jener Tag bricht ein
Daß ich dich meine Sonn/ mein Licht mög ewig schawen.
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Heute erscheint die neue Kraan-Scheibe:

KRAAN: Sandglass
36music / Broken Silence
Erscheint am 2. Oktober 2020 (CD / LP / digital)

  1. SANDGLASS 4:19 (Hattler)
  2. FUNKY BLUE 2:47 (Wolbrandt)
  3. SOLITUDE 4:01 (Hattler)
  4. GLEIS 10 4:58 (Wolbrandt)
  5. PICK PEAT 5:44 (Hattler)
  6. PATH 4:35 (Hattler)
  7. SCHÖNER WIRD’S NICHT 2:20 (Fride/Wolbrandt)
  8. DAS MEER 2:39 (Wolbrandt)
  9. HALLO KANTE 4:57 (Wolbrandt)
  10. MOONSHINE ON SUNFLOWERS 3:10 (Fride/Hattler/Wolbrandt)
  11. BUDENZAUBER 4:03 (Wolbrandt)
  12. RESCUE 3:12 (Wolbrandt)
  13. HIPPIE JAM 3:12 (Hattler)

    Total playing time: 50:15 min.
    All tracks edited, mixed and mastered by Juergen Schlachter at 36music Studio, Leipheim,
    Germany

    Peter Wolbrandt: Guitars, synths, vocals
    Jan Fride: Drums, percussion
    Hellmut Hattler: Basses, vocals
    Martin Kasper: Keys on „Sandglass“, „Solitude“, „Path“ and „Hippie Jam“, supporting vocals
    on „Solitude“ and „Path“; Shirley Fischer: Flute on „Sandglass“; Joo Kraus: Horns and
    Wurlitzer Piano on „Pick Peat“; Juergen Schlachter: Tambourine on „Solitude“; Ingo Bischof:
    Keys on „Moonshine On Sunflowers“

    Front cover logo and back cover painting by Peter Wolbrandt

Solitude“ als Hörprobe.

Gibt es intelligente Töne? Kluge Melodien? Scharfsinnige Beats?

Wer KRAAN kennt und wer das neue Album „Sandglass“ mit wachen Ohren hört, wird dies bestätigen können. Drei hochmusikalische Könner ihres Fachs zelebrieren ebenso lässig wie konzise, gleichermaßen geschichts- wie selbstbewusst und souverän über die eigenen Stärken verfügend eine komplexe und doch entspannte Musik, die aus der Zeit gefallen zu sein scheint und doch tatsächlich zeitlos ist.

In Reinkultur und erneuter Verfeinerung spielen die drei Kraaniche ihre ureigene Form des melodischen Jazzrocks mit dem Markenzeichen „KRAAN-Stil“, für den es weithin keine klangliche Entsprechung gibt.

Auf dem neuen Album sind Melodiebögen von purer Schönheit, subtiler Melancholie und kompositorischer Gestaltungsfähigkeit zu bewundern. Originelle harmonische Wendungen und eine trickreiche Rhythmisierung veredeln die 13 Titel in einer Weise, die man von KRAAN zwar im Grunde schon lange kennt, die doch nun in neuer Anmutung mit erstaunlich viel Popappeal daherkommt.

Sieben der dreizehn Titel sind Songs, also mit gesungenen Texten, wobei die Gesangsstimme wie ein weiteres Instrument ins Arrangement eingebunden wird.

Auffällig im neuen KRAAN-Werk ist eine ihrer bekannten Qualitäten, die nun noch brillanter in Erscheinung tritt: Die Meister des Offbeats erzeugen mit vorgezogenen Betonungen und spannungsvollen Akzenten zwischen den Grundschlägen ein polyrhythmisches, pulsierend-vibrierendes Gewebe, das ihre Musik in einer Weise vitalisierend grooven und swingen lässt als würden drei Kraniche im Liebesrausch ihre Balztänze hüpfend auf einem Trampolin wie ein mitreißendes Leidenschafts-Ritual aufführen (wenn man mir diese etwas verwegene Metapher erlaubt).

Vor 10 Jahren erschien in gleicher Triobesetzung das letzte Studiowerk von KRAAN „Diamonds“. In den Jahren danach folgten zwei Live-Alben: „The Trio Years“ von 2018 und „The Trio Years – Zugabe“ von 2019.

Nun endlich, ein Jahrzehnt nach Veröffentlichung des letzten Studioalbums und 50 Jahre nach der KRAAN-Gründung, kommen die Welt des Pop und die KRAAN-Fans im Besonderen in den Genuss neuer, bedeutsamer KRAAN-Musik. Das Warten hat sich also gelohnt. Wird es eine Fortsetzung geben? Das Leitmotiv des Albums lässt da Zweifel aufkommen: „See the time pass – There’s a crack in the sandglass“.

Zu den Aufnahmen:
Die verstreichende Zeit, die kostbare Lebenszeit, die ja nicht vermehrbar ist, sondern höchstens im Erleben zu intensivieren, das scheint das durchgängige Leitmotiv des Albums zu sein.

Hellmut Hattler: „Die Arbeit an diesem Album ist in der Zeit des lockdowns entstanden; jeder hat den jeweils anderen Kraanichen seine Files geschickt, und da alle ans Haus gefesselt waren und Zeit hatten, ging der Ideenaustausch ziemlich flott vonstatten und alle waren froh, diesem gespenstischen Zuhause-bleiben eine auf- und anregende, ja, leicht magische Arbeit entgegenstemmen zu können.“

Hellmut Hattlers Albumtitel sind überwiegend in dieser Zeit entstanden.

Peter Wolbrandt hatte den Großteil seiner sieben neuen Stücke bereits in der Schublade liegen. Seine Titel mussten nur noch von den beiden Kraan-Freunden ergänzt und fertig gestellt werden. Er spielt seine Gitarrensoli mit dringlichem Gespür und immer mit dem Wissen um die reichen Schatzkammern der großen Gitarreros der Rockgeschichte im Hinterkopf. Zu den besonderen Soundfinessen, fantasievollen Klangräumen und attraktiven Arrangementdetails des Albums tragen auch seine ornamentale Synthesizer-Einspielungen bei.

Zum ersten Mal bei KRAAN übernimmt Hellmut Hattler die Leadstimme gleich bei drei Titeln, die er auch selbst geschrieben hat. Es sind sehr persönliche Texte, also drängt es sich geradezu auf, dass er diese, seine persönlichen Gedanken auch selbst mit seiner Stimme mitteilt – auch wenn seine Gesangsstimme sicher nicht sein bevorzugtes Ausdrucksmittel ist. Sein unverkennbarer Basston, sein virtuoses, immer melodiebetontes und ungemein intelligentes Bass-Spiel dominiert den KRAAN -Sound vor allem bei seinen fünf Eigenkompositionen des Albums.

Auch der im Januar 2019 verstorbene langjährige KRAAN-Keyboarder Ingo Bischof ist im Album präsent. Hellmut Hattler: „ich habe in meinem digitalen Schallarchiv noch ein paar Keyboard-files von Ingo gefunden, da er ja früher, bevor er krank wurde, mit seinen Klängen viele meiner Kompositionen angereichert hatte – und die Akkorde bei „Moonshine On Sunflowers“ sind nun sozusagen sein aktueller Beitrag aus dem Jenseits (vielleicht zur Abrundung unserer langjährigen KRAAN-Freundschaft oder wie immer man so einen Vorgang nennen möchte…)“.

Anspieltipps:


1. Sandglass

Schon das Titelstück startet mit einer verwirrend uneindeutigen Rhythmik im Sinne von: „Wo bitte ist die Eins?“ Das clever punktierte Riffmotiv zum Einstieg lässt die klare Taktzuordnung ebenso offen wie der später einsetzende, akkordisch gespielte Bass und das vor Offbeat-Betonungen nur so strotzende Schlagzeug. Erst mit dem Gesangseinsatz verläuft die Rhythmusstruktur im nachzählbaren Achtelmetrum. Was für ein vorzüglicher, raffiniert gebauter Auftakt des Albums!

Wie der Schlagzeuger Jan Fride im Instrumentalteil des Openers „Sandglass“ den Takt verschleiert durch unkonventionelle Schlagfolgen und verblüffende Betonungen außer der Reihe und doch in einem stimmigen pulsierenden Rhythmus-System (ab 2:23 bis 3:01), das zeugt von außergewöhnlichem Rhythmusverständnis, superber Technik und inhaltlicher Kompetenz.

3. Solitude

Zum Thema Einsamkeit würde man eher eine melancholische Ballade erwarten. Doch Hellmut Hattlers musikalische Umsetzung des Themas ist rhythmisch packend und beginnt mit einem energisch intonierten und akkordisch gesetzten Bass-Akzent. Peter Wolbrandts singendes, hoch melodisches Solo in „Solitude“ kann als Referenzbeispiel für ein absolut gelungenes, das Leitmotiv bereichernd ausdeutendes Gitarrensolo gelten. Und die fast poppige Refrainmelodie klingt eher forsch und positiv als klagend oder deprimiert. „Solitude“ beschreibt gleichermaßen die Einsamkeit eines isolierten Patienten in der Intensivstation und die coronabedingte Abgeschiedenheit in der Isolation der Quarantäne. Dennoch formuliert der Refrain fast trotzig: „Solitude can’t bring me down“.

5. Pick Peat

Großartiger Instrumentaltitel, komponiert von Hellmut Hattler mit dem Trompeter Joo Kraus, als Kreator der Horn Section.

6. Path

„Gelassenheit in Tönen“ so könnte eine Charakterisierung des Songs „Path“ lauten, in dem Hellmut Hattler sein Textmotiv aus „Sandglass“ erneut aufgreift: Die Irritation, wenn Zukunftsperspektiven ins Schwanken geraten, weil der eingeplante Weg plötzlich verbarrikadiert zu sein scheint. So klug wie der Text ist hier tatsächlich auch die Melodieführung des Songs. Die instrumentale Hauptmelodie ist wunderbar gefühlvoll geschwungen und lebt von einem tiefen Sentiment, das die Balance zwischen Melancholie und Hoffnung zu halten sucht. Auch die Gesangsmelodie orientiert sich am dynamisch rhythmisierten Sprechgesang aus „Sandglass“. Daneben gibt es noch zwei Melodievarianten oder Nebenthemen, die mal von der Gitarre, mal von den Keyboards, gespielt von Martin Kasper, getragen werden. Dieser Song „Path“, eine Komposition von Gewicht, steht exemplarisch für den Weg, den das gesamte Album im Blick hat.

7. Schöner wird’s nicht

Jan Fride erweist sich im neuen KRAAN-Album wieder als ein exzellenter Schlagzeuger, der keine mathematisch berechneten Patterns perfektioniert, sondern organisch-musikalisch, „geradezu harmonisch“ spielt (Hellmut Hattler). Seine Komposition „Schöner wird’s nicht“, gemeinsam geschrieben mit seinem Bruder Peter Wolbrandt, ist ein perkussives Lehrstück für die spielerische Wandlungsfähigkeit und tänzelnde Lebendigkeit eines weltoffenen, Stilgrenzen überschreitenden Schlagwerks. Im rein perkussiven, conga-dominierten Mittelteil (ab 1:08) lassen Afrobeat und Latinrock à la Santana freundlich grüßen.

8. Das Meer

In Peter Wolbrandts beatle-esken Song „Das Meer“ klingt im Refrain die „Mind Games“-Melodie von John Lennon an und George Harrisons Songjuwel „Something“ aus dem „Abbey Road“-Album scheint angedeutet. Und doch, trotz pophistorischer Anklänge ist dieses gravitätisch schreitende Reflektionslied „Das Meer“ eine originäre Songkomposition von Peter Wolbrandt. Es ist übrigens der einzige deutschsprachige Song des Albums („Ich starre auf das Meer und wünsch mir etwas mehr Gelassenheit in dieser öden Zeit. Möwen ziehen dahin, bin froh, dass ich hier bin am weißen Strand – und ich seh’, es tut weh, doch es ist vorbei.“)

12. Rescue
In Peter Wolbrandts Songkomposition „Rescue“ finden sich kleine Reminiszenzen an große Momente der Pophistorie: Die melodisch umspielenden Gitarrenfiguren erinnern die an typische Phrasierungen von Jimi Hendrix, wobei der Song letztlich in seiner raffinierten Harmonik und sorgfältigen, vielgestaltigen Gitarrenarbeit ganz und gar als Wolbrandt/Kraan-Original zu gelten hat.

Text von Volker Rebell.

Dienstag, 26.November

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Heute haben
Georg Forster * 1754
Franz Jung * 1888
Eugène Ionesco * 1909
und Charles M.Schulz * 1922
Geburtstag
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Andreas Gryphius
Ebenbild unseres Lebens

Auf das gewöhnliche Königs-Spiel

Der Mensch das Spiel der Zeit / spielt weil er allhie lebt.
Im Schau-Platz diser Welt; er sitzt / und doch nicht feste.
Der steigt und jener fällt / der suchte der Paläste /
Vnd der ein schlechtes Dach / der herrscht und jener webt.

Was gestern war ist hin / was itzt das Glück erhebt;
Wird morgen untergehn / die vorhin grüne Aeste
Sind numehr dürr und todt / wir Armen sind nur Gäste
Ob den ein scharffes Schwerdt an zarter Seide schwebt.

Wir sind zwar gleich am Fleisch / doch nicht von gleichem Stande
Der trägt ein Purpur-Kleid / und jener grabt im Sande /
Biß nach entraubtem Schmuck / der Tod uns gleiche macht.

Spilt denn diß ernste Spil: weil es die Zeit noch leidet /
Vnd lernt: daß wenn man von Pancket des Lebens scheidet:
Kron / Weißheit / Stärck und Gut / bleib ein geborgter Pracht.
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Katharina Hacker: „Darf ich dir das Sie anbieten?“

Minutenessays
Berenberg Verlag € 19,00

Das ist ein Buch für Leute, die gerne lesen:
es geht um Sprache.
Das ist ein Buch für Leute, die nicht gerne lesen:
die Texte sind sehr kurz.
Das ist ein Buch für Leute, die gern schreiben:
da ist genug Platz.
Das ist ein Buch für Leute, die nicht gern schreiben:
steht schon was drin.

Katharina Hackers neues Buch ist ein Notizbuch in kleinem Format. Passend für die Manteltasche, damit man es überall mitnehmen kann. Es ist ein Notizbuch von ihr, aber es birgt auch viel freien Raum für eigene Gedanken. Katharina Hacker schreibt über Alltäglichkeiten, die plötzlich kippen und aus eventuell Banalem wird ein Gedankenstrom in unserem eigenen Hirn.
Sie zitiert ihre eigenen Heiligen, wie zB. Martin Buber und Thomas von Aquin, lässt aber weiten Raum für Betrachtungen über Familie, die Kuscheliere der eigenen Kinder, über Liebe und Tod. Und halt über das Leben. Ihr Leben. Unser Leben.

Leseprobe
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Mittwoch, 27. November 2019, 19 Uhr,
Kulturbuchhandlung Jastram
Eintritt € 8,00

Wortreich

Von Auslöschern und Geistesmenschen
Eine Exkursiuon in Thomas Bernhardts Welt

Einst erregten seine Werke die Gemüter so heftig wie kaum die eines anderen deutschsprachigen Dichters nach 1945. Ihre Auslieferung wurde gerichtlich untersagt, sie lösten Skandale aus, Politiker ergingen sich in Beschimpfungen und Verdammungen des Autors. Mittlerweile ist der einst Geschmähte so etwas wie ein österreichischer Nationalheiliger. Dieses posthume Schicksal teilt er mit vielen anderen zu Lebzeiten Miss- oder Unverstandenen. Und der Reiz seiner Werke wirkt unvermindert, sie sind mittlerweile in 27 Sprachen übersetzt, die Sekundärliteratur über den Autor füllt zig Regalmeter, und an den Theatern weltweit werden längst nicht mehr nur seine Stücke gespielt, sondern auch Romane und Erzählungen für die Bühne adaptiert. Anlässlich der Inszenierung von „Alte Meister“ im Museum Ulm und der kunsthalle weishaupt begeben sich Christel Mayr, Markus Hottgenroth und Christian Katzschmann auf eine Exkursion ins Bernhardsche literarische Universum.

Donnerstag, 24.August

Heute haben
Jean Rhys * 1890
Jorge Luis Borges * 1899
AS Byatt * 1936
Joshua Sobel * 1939
Paulo Coelho * 1947
Stephen Fry * 1957
Michael Kleeberg * 1959
Geburtstag
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Andreas Gryphius
Betrachtung der Zeit

Mein sind die Jahre nicht,
Die mir die Zeit genommen;
Mein sind die Jahre nicht,
Die etwa möchten kommen;

Der Augenblick ist mein,
Und nehm ich den in acht
So ist der mein,
Der Jahr und Ewigkeit gemacht.
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Claudia Wiltschek empfiehlt:

9783455406214

Siegfried Lenz:Marvellas ganze Freude
Illustriert von Nikolaus Heidelbach
Hoffmann und Campe Verlag € 18.-
ab 5 Jahren und auch für die Großen

Marvella ist eine glückliche braune Schweizer Kuh, die in Kansas auf dem Bauernhof von Herrn Bollmann lebt. Herr Bollmann liebt seine Marvella über Alles und deswegen hat er ihr auch eine ganze Wiese nur für sie alleine geschenkt. Die Südecke ihrer schönen Wiese grenzt an die Eisenbahnschienen und morgens und abends kommt ein Güterzug. Das ist Marvellas ganze Freude, sie streckt ihren Kopf über das Gitter und wartet, manchmal zehn Minuten, manchmal eine ganze Stunde. Dann ertönt das schwache „Tu-u-ut – Tu-u ut“ aus der Ferne, Marvella holt tief Luft und antwortet: „Muu- uu -uu“.
Aber eines Tages , nach einen grossen Unwetter wartet Marvella vergeblich. Deswegen will sie abends auch nicht zum Melken in den Stall. Bauer Bollmann kann es garnicht glauben, dass seine liebevolle Kuh plötzlich so störrisch und bockig ist und zu allem Ärger auch nur ein paar Tropfen Milch hergibt. Als der nächste Tag auch keine Besserung bringt, weiss sich Bauer Bollmann keinen anderen Rat mehr, als Doktor Anderson zu rufen. Marvella nutzt einen unbeaufsichtigten Moment und stürmt raus aus dem Stall in Richtung Eisenbahnschienen. Nachdem sie entdeckt hat, dass die kleine Eisenbahnbrücke eingestürzt ist, stellt sie sich mutig auf die Schienen und verhindert so ein grosses Unglück. Marvella wird zur Heldin !

Diese liebevolle, warmherzige Kindererzählung von Siegfried Lenz war bisher noch nie veröffentlicht. Auch Heidelbach zeigt sich hier von seiner sanften Seite und die Illustrationen sind eine wunderbare Ergänzung zum Text.
Ein Spass für gross und klein. Muuuuuuh!

Samstag, 25.März

Heute gibt es keinen Buchtipp, dafür morgen (Sonntag) „Orte 2“ von Christel Müller und Silvia Trummer.

Andreas Gryphius
Morgen Sonnet

Die ewig helle Schar will nun ihr Licht verschlissen,
Diane steht erblaßt; die Morgenröthe lacht
Den grauen Himmel an, der sanfte Wind erwacht
Und reizt das Federvolk, den neuen Tag zu grüßen.

Das Leben dieser Welt eilt schon die Welt zu küssen,
Und steckt sein Haupt empor, man sieht der Strahle Pracht
Nun blinken auf der See: O dreimal höchste Macht
Erleuchte den, der sich jetzt beugt vor deinen Füßen.

Vertreib die dicke Nacht, die meine Seel‘ umgibt,
Die Schmerzen Finsternis, die Herz und Geist betrübt.
Erquicke mein Gemüth und stärke mein Vertrauen.

Gib, dass ich diesen Tag in deinem Dienst allein
Zubring‘ und wenn mein End‘ und jener Tag bricht ein,
Daß ich dich, meine Sonn, mein Licht, mög‘ ewig schauen.

Freitag

Heute haben
Andreas Gryphius * 1616
Graham Greene * 1904
Helga Schütz * 1937
Anna Mitgutsch * 1948
Lisa St.Aubin de Terán * 1953
Geburtstag

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Morgensonne

Andreas Gryphius
Morgen Sonnet

Die ewig helle schar wil nun jhr licht verschlissen/
Diane steht erblaßt; die Morgenrötte lacht
Den grawen Himmel an/ der sanffte Wind erwacht/
Vnd reitzt das Federvolck/ den newen Tag zu grüssen.
Das leben dieser welt/ eilt schon die welt zu küssen/
Vnd steckt sein Haupt empor/ man siht der Stralẽ pracht
Nun blinckern auf der See: O dreymal höchste Macht
Erleuchte den/ der sich jtzt beugt vor deinen Füssen.
Vertreib die dicke Nacht/ die meine Seel vmbgibt/
Die Schmertzen Finsternüß die Hertz vnd geist betrübt/
Erquicke mein gemüt/ vnd stärcke mein vertrawen.
Gib/ daß ich diesen Tag/ in deinem dinst allein
Zubring; vnd wenn mein End‘ vnd jener Tag bricht ein
Daß ich dich meine Sonn/ mein Licht mög ewig schawen.

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Grossstadtmond


Mitternacht

Schrecken/ vnd stille/ vnd dunckeles grausen/ finstere kälte bedecket das Land/
Jtzt schläfft was arbeit vnd schmertzen ermüdet/ diß sind der trawrigen einsamkeit stunden.
Nunmehr ist/ was durch die Lüffte sich reget/ nunmehr sind Thiere vnd Menschen verschwunden.
Ob zwar die jmmerdar schimmernde lichter/ der ewig schitternden Sternen entbrand!
Suchet ein fleißiger Sinn noch zu wachen? der durch bemühung der künstlichen hand/
Ihm die auch nach vns ankommende Seelen/ Ihm/ die an jtzt sich hier finden verbunden?
Metzet ein bluttiger Mörder die Klinge? wil er vnschuldiger Hertzen verwunden?
Sorget ein ehren-begehrende Seele/ wie zuerlangen ein höherer stand?
Sterbliche! Sterbliche! lasset diß dichten! Morgen! ach! morgen ach! muß man hin zihn!
Ach wir verschwinden gleich alß die gespenste/ die vmb die stund vnß erscheinen vnd flihn.
Wenn vnß die finstere gruben bedecket/ wird was wir wündschen vnd suchen zu nichte.
Doch wie der gläntzende Morgen eröffnet/ was weder Monde noch Fackel bescheint:
So wenn der plötzliche Tag wird anbrechen/ wird was geredet/ gewürcket/ gemeynt.
Sonder vermänteln eröffnet sich finden vor deß erschrecklichen Gottes Gerichte.
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Gestern ausgepackt und heute möchte ich Ihnen das Buch gleich vorstellen.
„Hallgatás“ ist der Erstlingsroman der Schweizer Schriftstellerin und Journalistin Ursula Pecinska. Was bisher nicht möglich schien, woran vielleicht auch niemand gedacht hat, ist nun geschehen. Ursula Pecinska hat eine Fortsetzung, einen zweiten Teil von Sandor Marais Roman „Die Glut“ geschrieben und zwar aus der Sicht der Ehefrau.
Geht das? Darf sie das? Ja, zwei mal ja. Es funktioniert.

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Ursula Pecinska:Hallgatás. Das Tagebuch der Krisztina
Bilger Verlag  € 22,90

Wir erinnern uns noch an die „Glut“, der Roman, der 1950 erstmals auf deutsch erschienen ist und zwar unter einem Titel, der dem Original sehr nahe kommt: „Die Kerzen brennen ab“. 1995 brachte der Piper Verlag eine Neuübersetzung von Christina Viragh unter dem Titel „Die Glut“ heraus. Dies wurde ein großer Erfolg und es begann eine, immer noch nicht endende Renaissance des Werkes von Sandor Marai.
Der Roman spielt im Jahr 1941 auf einem Schloss in den Karpaten. Der alte Schlossherr Henrik erwartet seinen Jugendfreund Konrád, den er seit 40 Jahren nicht gesehen hat. Die Freundschaft der beiden Männer wurde durch einen Vorfall zerstört, Konrád verlässt das gemeinsame Dach und flieht in die Tropen. Damals waren sie unzertrennlich, obwohl Henrik aus reichem Adel und Konrád der Sohn eines verarmten Barons ist. Auf der Jagd meint Henrik, dass sein Freund sein Gewehr auf ihn anlegt, jedoch nicht abdrückt. Danach ist Konrád verschwunden und die Ehe von Henrik und seiner Frau Krisztina zerbricht. Die beiden reden keinen Ton mehr miteinander. Vielmehr er verweigert jeden Kontakt mit ihr und beiden ziehen in entfernte Flügel des weitläufigen Schlosses, bis Krisztina acht Jahre danach stirbt. Nun sind also 40 Jahre vergangen. Konrád meldet sich zu einem Besuch an und wir erleben ein Gespräch der beiden alten Männer, wobei sich Konrád nur zu Beginn zu Wort meldet. Danach entwickelt sich das Gespräch zu einem Monolog von Henrik, der von seinem Freund und Gegenspieler zwei Fragen beantwortet haben will. Warum er auf ihn gezielt und ob  er ein Verhältnis mit seiner Frau hatte. Auf beide Fragen erhält er jedoch keine Antwort und das einzige Beweismittel, dasTagebuch von Krisztina, landet ungelesen im offenen Kaminfeuer.
Wir erinnern uns sicherlich an dieses Buch, das damals für großes Aufsehen gesorgt hat. Nun erfahren wir im gerade erschienen Roman „Hallgatás. Das Tagebuch der Krisztina“, was in diesem Tagebuch der Ehefrau gestanden hat. Das einzige Beweisstück, das für die Ewigkeit verschollen schien, liegt vor uns. „Hallgatás“ heisst im Ungarischen „Schweigen“ und das wird hier, zumindest von Seiten der Ehefrau aufgebrochen. Und wenn es natürlich nicht das Originaltagebuch sein kann, so ist es doch eine gelungenes Debut. Ein schöner Liebes- und Sehnsuchtsroman, der mit den Motiven gekonnt spielt. Es gilt nicht das große Geheimnis zu lüften und Antworten zu finden auf die beiden Fragen. Allein die Idee der Autorin, die sicherlich genauso fasziniert von „Der Glut“ war und ist, funktioniert und wir tauchen wieder ein in eine Zeit, die noch nicht lange her ist und uns doch sehr fremd in seinen Zwängen, Moralvorstellungen und Lebensweisen. Natürlich schreibt die Autorin aus einer weiblichen Sicht und ergänzt so den Männertext von Marai.
Krisztina schrieb täglich in ihr Buch und legte es in die Schreibtischschublade das Mannes. Immer in der Hoffnung, er möge hineinschauen und vielleicht den Fluch des Nichtmiteinanderredens zu brechen. Doch dies geschieht nicht und Krisztina stirbt, ohne mit ihrem Mann in Kontakt getreten zu sein. Es ist ein Roman mit vielen Hoffnungen einer weltoffenen, nach Neuheiten gierenden Frau, die mit ihren Bediensteten auf dem Schloss lebt und ihre wahren Träume nicht erfüllen kann. Diese Gefühle, dieses Hoffen und Bangen hat Ursula Pecinska gekonnt aufgeschrieben und jetzt veröffentlicht.

„In jener Nacht legte ich das Tagebuch in Deine Schreibtischschublade, wie wir das seit vier Jahren handhaben. In den ersten Tagen nach Deinem Auszug bin ich morgens jeweils mit klopfendem Herzen zu Deinem Schreibtisch geeilt, erfüllt von einer irrationalen Gewissheit, in unserem kleinen Buch würde ich – dieses Mal, dieses Mal ganz gewiss – die Antwort auf das Unbegreifliche Deines Auszugs, Deines Schweigens, Deiner Rückweisung finden. Und tief, abgrundtief meine Enttäuschung! Du hast es nicht geholt, nicht holen lassen!“

Dank an Ricco Bilger, in dessen Verlag das Buch erschienen ist.
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Es folgt ein weiterer Abschnitt aus „Applaus für Bronikowski“, aus dem Kai Weyand bei uns am kommenden Donnerstag ab 19 Uhr lesen wird.

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Aber dann kam eines Tages im November das Abendessen, das zwar wie immer genau neunzehn Uhr begann, aber nicht wie sonst mit leeren Tellern, gefüllten Bäuchen und mittlerer Laune endete. Nies hatte sich schon am Nachmittag gewundert, dass seine Mutter in der Küche laut mit Geschirr hantierte. Ein Römertopf stand bereit, und die ganze Küchenablage war vollgestellt mit Schüsseln, Raspeln, Gewürzen und anderen Dingen, die deutlich machten, dass dem Tag das Alltägliche genommen werden sollte. Es musste etwas Außerordentliches vorgefallen sein, wenn es nicht wie sonst Brot und Aufschnitt geben sollte.
NC hatte noch immer das Lächeln seines Vaters -deut-lich vor Augen, wie er sich voller Vorfreude an den Tisch setzte und seiner Frau verschwo-rene Blicke zuwarf, als sei er sich der Überraschung -bewusst, die es hervorrufen würde, wenn sich gleich das Geheimnis lüftete. Nies spürte ein Kribbeln im Bauch, das ihn sonst nur zu Weihnachten und Geburtstagen befiel, wenn sein Vater ebenso geheimnisvoll tat und auch seine Mutter geschäftig die Besonderheit der Tage unterstrich.
Nies und Bernd sollten raten. Nies tippte auf -einen Familienurlaub in Übersee, Bernd auf ein neues Auto.
Übersee ist nicht falsch und neues Auto ist auch nicht falsch, sagte ihr Vater, aber ganz richtig ist es auch nicht.
Nies und Bernd schauten sich fragend an. Mehr?, fragte Bernd.
Die Mutter fing an zu lachen, und der Vater hob die Schultern, als sei er ahnungslos.
Nies strahlte. Ein Haus!, rief er und schlug sich die Hände vors Gesicht, als sei er selbst erschrocken über das Ausmaß an Neuigkeiten, das sich da vor ihm auftat.
Auch nicht falsch, sagte der Vater, und die Mutter forderte ihn lachend auf, die Kinder nicht länger auf die Folter zu spannen.
Schließlich nannte der Vater sechs Zahlen, die -ihnen einen hohen fünfstelligen Gewinn bei einer Lotterie -beschert hätten. Wahnsinn, oder?, rief er erregt, einmal im Leben Glück, und grad, wenn’s passt.
So sehr sich Nies gerade noch gefreut hatte, so ratlos war er auf einmal. Einmal im Leben Glück. War sein Vater bisher unglücklich gewesen?
Das Geld reicht für einen Neuanfang, sagte der Vater. Er legte seine rechte Hand auf die seiner Frau, drückte sie, zwinkerte seinen Söhnen zu und sagte: Auch für euch.
Nies konnte das Lächeln seines Vaters nicht erwidern. Er senkte seinen Blick. Warum hatte er auch für euch gesagt und nicht für uns? Sprachen sie nicht sonst immer von wir und meinten alle vier, die ganze Familie?
Wozu brauchen wir einen Neuanfang?, fragte er. Nies ahnte plötzlich, dass seine Eltern und er die -Vergangenheit unterschiedlich wahrgenommen haben mussten. Es fiel ihm schwer, die aufkommenden Tränen zurückzuhalten.
Jeder Mensch hat einen Lebenstraum, sagte sein Vater, und wenn die Chance da ist, ihn zu leben, muss man das tun.
Genau so ist es, stimmte Bernd zu, sein Vater -lächelte, und die Mutter fuhr ihm mit der Hand zärtlich über die Wange. Nies spürte einen Stich ins Herz.
Was ist denn euer Lebenstraum?, fragte er schließlich und ärgerte sich, dass seine Stimme in die Höhe sprang, als hätte er Angst vor etwas.
Kanada, sagten seine Eltern wie aus einem Mund.
Cool. Bernd nickte anerkennend, und Nies spürte wieder, wie fremd ihm sein Bruder war. Kanada, hatte er jemals seine Eltern von Kanada sprechen hören? Er konnte sich nicht erinnern. Es dauerte eine Weile, bis Nies verstand, dass er und sein Bruder in dem Lebens-traum Kanada nicht vorkamen, das heißt, sie kamen schon vor, aber nicht in Kanada. Bernd war bereits achtzehn, hatte im Sommer die Realschule mit dem besten Jahrgangsergebnis abgeschlossen und im Herbst eine Banklehre begonnen. Die Eltern sahen in der Straightness, wie sie seine Art der Lebensführung bezeichneten, nicht nur, dass er willens und könnens war, Verant-wortung für sein Leben zu übernehmen, sondern auch das Potenzial, für seinen Bruder zu sorgen, bis der die Volljährigkeit erreicht und die Schule abgeschlossen hätte.

Timna Körber
Bildrechte: Timna Körber

Kai Weyand geb. 1968, Studium, Arbeit als Lehrer im Strafvollzug, Mitarbeiter einer Sozietät, lebt in Freiburg. Er ist mit dem 1. Preis beim open mike der LiteraturWERKstatt Berlin, dem Irseer Pegasus und dem Bolero-Literaturpreis ausgezeichnet worden.

Donnerstag

Heute haben
Andreas Gryphius * 1616
Graham Greene * 1904
Helga Schütz * 1937
Anna Mitgutsch * 1948
Lisa St.Aubin der Terain * 1953
Geburtstag.
Aber auch Mahatma Gandi * 1869
Oswalt Kolle * 1928
und Sting * 1951
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Dazu gibt es heute ein kleines Geburtstagsdurcheinander:

Abdreas Gryphius
Morgen Sonnet

Die ewig helle schar wil nun jhr licht verschlissen/
Diane steht erblaßt; die Morgenrötte lacht
Den grawen Himmel an/ der sanffte Wind erwacht/
Vnd reitzt das Federvolck/ den newen Tag zu grüssen.
Das leben dieser welt/ eilt schon die welt zu küssen/
Vnd steckt sein Haupt empor/ man siht der Stralẽ pracht
Nun blinckern auf der See: O dreymal höchste Macht
Erleuchte den/ der sich jtzt beugt vor deinen Füssen.
Vertreib die dicke Nacht/ die meine Seel vmbgibt/
Die Schmertzen Finsternüß die Hertz vnd geist betrübt/
Erquicke mein gemüt/ vnd stärcke mein vertrawen.
Gib/ daß ich diesen Tag/ in deinem dinst allein
Zubring; vnd wenn mein End‘ vnd jener Tag bricht ein
Daß ich dich meine Sonn/ mein Licht mög ewig schawen.
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[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=NrvCz8l1efQ]
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Werner Färber

UNGEREIMTHEIT DER WOCHE(KW 40 aus dem Wandkalender 2014)
 
IM BAUMARKT
 
Im Baumarkt bittet der Herr Krause
nach neuem Aufsatz für die Brause.
Darauf sehr knapp Verkäufer Strauch:
Brausekopf? Gibt’s nur mit Schlauch!“
 
Obwohl ich einen Schlauch nicht brauch?“,
erwidert Krause dem Herrn Strauch.
Sich abwendend knurrt der zu Krause:
Dann duschen Sie doch ohne Brause.“

UNGEREIMTHEIT DER WOCHE (KW 40 aus dem WOCHENKALENDER 2015 FÜR KINDER):

 DAS MASTSCHWEIN
Bis in die oberste Etage
der sturmgepeitschten Takelage
klettert es ganz ohne Bange,
um zu verharren dort recht lange.Vom Mastkorb aus warnt es vor Riffen
oder vor Piratenschiffen.Erst wenn die lange Schicht zu Ende,
verlässt es seinen Korb behände,
um zu klettern flink und munter
wieder auf das Schiffsdeck runter.
_________________Unser Tipp des Tages:Maak_978-3-446-24352-1_MR.indd

Niklas Maak: „Wohnkomplex“
Warum wir ander Häuser brauchen
Hanser Verlag € 21,90

Wohnen wir nur oder leben wir auch?

Niklas Maak, Jahrgang 1972, bei der FAZ zuständig für die Rubriken Kunst und Architektur, hat ein weiteres Buch bei Hanser Veröffentlicht. Nach seinem Buch über einen Mercedes und über Le Corbusier,  nun über unsere Art zu wohnen. Leben kann man es nicht immer nennen, so meint übertrieben Niklas Maak.
Das Buch beginnt mit einem Foto von Christian Wulf, wie er vor seinem Haus steht und den Rasen bewässert. Maak meint nun, wenn der sich nicht so ein super biederes Haus hingestellt hätte, wäre er womöglich immer noch Bundespräsident. Hätte er nur mal etwas nachgedacht und sich Pfiffigeres hinstellen lassen. Nachlesen können sie diesen frechen Einstieg in der langen Leseprobe, die ich unten verlinke.
Was bedeutet eigenlich wohnen? Wie spiegeln die Architekturzeitungen unser heutiges Wohnen, unsere Wohnungen? Und wie war das in den 50er, 60er Jahren? Warum hat IKEA das meistverkaufte Sofa? Und warum sieht das so schrecklich aus? Warum meinen wir, dass wir in einer Neubausiedlung mit all den gleichen Einfamilienhäsuern unsere Ruhe hätten? Dauernder Rasenmäherlärm, Bratwurstgrillnebelschwaden und Fussballgedudel aus dem Autoradio bei Samstagswaschen überschatten die vermeindliche Idylle? Warum gibt es nicht in der Stadt mehr erschwingliche Wohnungen für junge Familien? Bereiche, in die sich auch wieder Handwerker, wie z.B. Schreiner, ansiedeln können.
Niklas Maak schreibt anschaulich und sehr verständlich, worauf es ihm ankommt. Warum sehen viele unserer Einfamilienhäuser wie von der Stange aus? Und wer verdient daran?
Er schreibt auch über das Innere und Äußere, das Private und das Öffentliche. Auch hierfür hat er Beispiele aus der westlichen Welt und aus Japan, die verständlich machen, dass es immer verschiedene Möglichkeiten des Lebens und des Arbeitens gibt. Dass aber oft die Architektur uns einen Riegel vorschiebt. Wenn eine Person auf dem Bett lümmelnd Homeoffice betreibt und in dieser Form arbeitet und dann zum entspannen auf die Straße geht, steht dies im Gegensatz zum Arbeiten im Büro, in das ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln hinfahre und zur Entspannung daheim in den eigenen vier Wänden bin.
Niklas Maak spannt einen Bogen von der Höhle zum Eigenheim und streut immer wieder Gegenbeispiele zu den uns bekannten Wohnmodellen ein. So auch das schmale Haus auf dem Umschlag des Buches, das in Tokyo steht. Hier gibt es keine drei Stockwerke und ein schräges rotes Ziegeldach. Alles ist offen (innen und aussen) und es sind ca. 20 Ebenen in diesem Haus zu finden. Wir lesen über Wohnmodelle, in denen es keine Möbel gibt und dies alles durch schräge Ebenen und Podeste und Treppen ausgeglichen wird.
Dieses Buch, witzig, streitbar und bestens recherchiert, zeigt, dass das Bauen in Deutschland neu gedacht werden muss. Und wie man andernorts in Europa, Japan und Amerika bereits wohnt – jenseits von Vorstadteinöde und Apartmentriegel.

Leseprobe