Mittwoch, 13.März

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Heute haben
Oskar Loerke * 1884
Hugh Walpole * 1884
Frank Thieß * 1890
Jannett Flanner * 1892
Erich Kästner * 1904
Juri Andruchowytsch * 1960
Geburtstag
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Oskar Loerke
Seliges Wachstum

Verpackt in Fächern, weggehängt in Spinden,
Sang doch das Märchen seine Weltgestalt.
Verstreutem Holzmehl aus den Bohrgewinden
Entwuchs der sagenweiße Lindwurmwald.

Zigarrenkistenholz mit Klebebildern
Schwamm im Taifun, der spanisch Flüche pfiff,
Und ozean-gefüllte Augen wildern
Mit Möwenkrallen am Gespensterschiff.

Dornrosengärten rochen aus Kommoden,
Verjährter Thymian, ein Hauch Anis –
Doch eigne Ferne kam in Herz und Hoden
Vorm Spiegel, der sein Bild nicht fallen ließ:

Obwohl er alles kühn vornüberneigte,
Gab nichts dem Schwindel nach und schien bereit,
Auf schrägem Wege, den der Estrich zeigte,
Im Spitzentanz zu fliegen aus der Zeit.
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Maya Angelou: „Ich weiß, warum der gefangene Vogel singt“
Aus dem Englischen von Harry Oberländer
Suhrkamp Taschenbuch € 12,00

Wochenlang bin ich um das Taschenbuch herumgeschlichen. Der Suhrkamp Verlag hat diesen Roman neu aufgelegt. Zur rechten Zeit. Denn Maya Angelous Beschreibung ihrer Kindheit im Süden der USA hat von seiner Aktualität nichts verloren. 1928 wurde sie geboren und mit drei Jahren, zusammen mit ihrem vierjährigen Bruder, zur Großmutter (Momma) hingeschickt. In Stamps, einer kleinen Stadt, verbringt sie den Großteil ihrer Kindheit. Ein sorgloses Leben in mitten von Armut, Rassismus und religiöser Enge. Die größte Hilfe der beiden Kinder ist die Literatur. Sie verschlingen Bücher und träumen sich in die Welt von Jane Austen und Charles Dickens.
Nachdem der Lebensgefährte ihrer Mutter sie sexuell missbraucht, verstummt Maya und findet erst wieder Worte, als eine Freundin ihrer Momma ihr die Wichtigkeit von Romanen, dem gedruckten und gesprochenem Wort, vor Augen führt.
Später zieht sie wieder zu ihrer Mutter nach Kalifornien, durchlebt wilde Jahre, bis sie am Ende dieses ersten Teiles ihrer Biografie ein Kind bekommt. Die letzten Zeilen, als sie mit ihrem kleinen Sohn gemeinsam im Bett liegen, ist zum Weinen schön.
Dieses Buch verbindet Lustiges mit Brutalem, Liebeswertes mit der harten Realität und es ist mir beim Lesen klar geworden, warum dieses Buch nicht in Vergessenheit geraten ist. Ja, das auch nie werden sollte.
Maya Angelou war eine Ikone der schwarzen Bewegung gegen Rassismus. Ihre Arbeit als Journalistin, als Schriftstellerin, als Theaterfrau enstand vor diesem Hintergund. Sie war befreundet mit Martin Luther Kind und Malcom X und so ist es kein Wunder, dass auf der Rückseite des Taschenbuches u.a. James Baldwin und Barack Obama diesen Roman loben.

Leseprobe

Mittwoch, 25.Juli

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Heute haben
Max Dauthendey * 1867
Elias Canetti* 1905
Paul Watzlawick * 1921
Geburtstag.
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Max Dauthendey
Blütenleben

Lauer Schatten.
Ein blühender Birnbaum auf altem müden Gemäuer. Bronzefarbenes Moos quillt über die Kanten und Risse.
Ringsum Gras, junggrün und durchsichtig. Es neigt sich leise und schmiegsam.
Harte blaßgelbe Winterhalme zittern dazwischen, farblos und schwach, wie vergrämte greise Haare.
Aschgraues und purpurbraunes Laub, mit feinem Metallschimmer, wie tiefes gedunkeltes Silber deckt den Grund.
Hie und da ein weißes Blütenblatt mit blaßrosiger Lippe. Leicht, zart, aber müde.
Das Geäst biegt sich dicht und tief zur Erde.
Sacht zerrinnt Blüte um Blüte und gleitet weiß, zögernd nieder.
Die Zweige senken sich tief, bis zu den einsam gefallenen Blüten.
Das Alter hat den Stamm zerschürft. In der gefurchten Rinde ziehen die Ameisen eine Straße hoch hinaus zur Krone. Emsig und flink rennt es aneinander vorüber.
Und dann oben die Bienen. Sie saugen schwerfällig und lüstern von den süßen Lippen und klammern trunken an den weichen Blütenrändern.
Ein üppiges Summen ist in der Laubkrone, ein einförmig gärender Ton.
Die Blüten zittern leise, und die jungen Blattspitzen Zittern.
Der alte Baum wiegt sich und seufzt. Duft löst sich, schwebt hinaus in den blauen Sonnenschein, warmsüß und scharf herb.
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Jaaaa, das Buch zum Hochsommer.
Tauchen Sie mit einer Arschbombe in das kühle Nass dieses Buch und lassen Sie sich durch die Kulturgeschichte des künstlichen Ozeans treiben.

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The Swimming Pool in Photography
Texte von Francis Hodgson
Hatje Cantz Verlag € 40,00

Henri Cartier-Bresson, Gigi Cifali, Stuart Franklin, Harry Gruyaert, Emma Hartvig, Jacques Henri Lartigue, Joel Meyerowitz, Martin Parr, Paolo Pellegrin, Mack Sennett Alec Soth, Larry Sultan, Alex Webb, u.a. haben Bilder zu diesem Buch beigetragen. Das Bad gehört schon immer zu unserem Alltag, privat und auch als religiöser Ritus. Der Luxus eines privaten Schwimmbeckens kam erst später. Und auch heute noch hat nicht jeder ein kleines Schwimmbecken, sei es auch nur so ein aufblasbares Teil, im Garten. Hier nun sind Profis am Werk und nehmen uns mit auf eine Bäderreise. Von der Ästhetik des Architekten, durch das Auge des künstlerischen Fotografen, mit vielen alten Fotos aus den USA, mit Schnappschüssen, mit Luftbildern von Bädern auf Hochhäusern und auch verlassene, heruntergekommene Bäder – alles vereint sich in diesem Buch. Sie finden glitzerndes kühles Wasser, genauso wie Sportaufnahmen, fahrbare Swimming Pools, Rutschenparadise und Hotelpools aus der ganzen Welt. Szenen aus Filmen, in denen der Swimming Pool vorkommt sind genauso zu finden, wie all die schönen Damen, die sich in und an ihm räkeln.
Der Text ist englisch, viel Bildmaterial kommt aus den USA, aus den 50er und 60er Jahren, in den der Pool zum Kultstatus wurde. Aber es gibt auch ein Foto vom ehemaligen Stadtbad in Augsburg, das mich sehr an das Stadtbad in Ulm erinnert hat, in dem jetzt die Musikschule beheimatet ist.

Detlef Surreys Sonntagsskizze

Das neunte intenationale Treffen der Urban Sketchers fand dieses Jahr vom 18.-21.Juli in Porto, Portugal, statt. Mehr als achthundert Zeichner aus der ganzen Welt trafen sich hier, um zusammen zu zeichnen, sich auszutauschen und sich in Workshops bei erfahrenen Kollegen in deren Tricks und Techniken einweihen zu lassen.

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Porto, Escalera da Sé

Hier geht es zu seiner Website.

Donnerstag, 12.Juli

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Heute haben
Henry David Thoreau * 1817
Stefan George * 1868
Raoul Hausmann * 1886
Bruno Schulz * 1892
Günther Anders * 1902
Pablo Neruda * 1904
Adam Johnson * 1967
Johanna Moosdorf * 1971
Geburtstag
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Auf dem Gedichtekalender gefunden:

Gottfried Keller
Der Nachtschwärmer

Von heisser Lebenslust entglüht
Hab‘ ich das Sommerland durchstreift,
Darüber ist der Tag verblüht
Und zu der schönsten Nacht gereift.
Ich steige auf des Berges Rücken
Zur Kanzel von Granit empor
Und beuge mich mit trunknen Blicken
In die entschlafne Landschaft vor.

Am andern Berge drüben steht
Im Sternenschein der Liebe Haus,
Aus seinem offnen Fenster weht
Ein Vorhang in die Nacht hinaus:
Das ist fürwahr ein luftig Gitter,
Das mir das Fräulein dort verschliesst,
Nur schade, dass mir armem Ritter
Der tiefe Strom dazwischen fliesst!

So will ich ihr ein Ständchen bringen,
Das weithin durch die Lüfte schallt,
Und spiele du zu meinem Singen,
O Geist der Nacht, auf Tal und Wald!
Den Wind lass mit den Tannen kosen,
Die wie gespannte Saiten stehn,
Und mit der Wellen fernem Tosen
Der Nachtigallen Chor verwehn!

Im Osten zieht ein Wetter hin,
Das stellen wir als Helfer an,
Wie leuchtend schwingt sein Tamburin
Am Horizonte der Titan!
Die Mühlen sind die Zitherschläger
Beim Wassersturz im Felsengrund;
Im Wagen fährt mein Fackelträger
Hoch vor mir her am Himmelsrund!

Nun will ich singen überlaut
Vor allem Land, das grünt und blüht,
Es ist kein Turm so hoch gebaut,
Darüberhin mein Sang nicht zieht!
So eine kühne Brücke schlagend,
Such‘ ich zu ihrem Ohr den Weg;
Betritt im Traum das Seelchen zagend
Des wilden Lärmers schwanken Steg?
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9783630875132

Karl Ove Knausgård:Im Sommer
Mit Aquarellen von Anselm Kiefer
Aus dem Norwegischen von Paul Berf
Die Jahreszeiten-Bände (4)
Luchterhand Verlag € 24,00

„Die Zeit ist abgrundtief, die Sicht, die man als Kind hat, reicht nicht weit. Für mich war die Kindheit meiner Großeltern außer Reichweite, sie war etwas, worüber ich nichts wusste – und für meine Kinder ist die Kindheit meiner Eltern außer Reichweite! Von ihren Urgroßeltern in Westnorwegen, bei denen ich jeden Sommer verbrachte, haben sie keine Ahnung. Es nützt nichts, dass ich von ihnen erzähle, sie können das an nichts festmachen, die Menschen, die in den Geschichten auftauchen, sind tot und sind es während ihres ganzen Lebens gewesen. Der Keller mit den Steinwänden und dem oftmals feuchten Boden mit dem Abfluss, in den das Wasser rieselte, die weißen Schüsseln, mit den Bergen glänzend roter Johannisbeeren darin, die Milcheimer, der kleine Traktor und all die anderen Dinge, die in meiner Erinnerung leuchten, sagen ihnen nichts, denn die Welt wird von innen erleuchtet, von innen heraus entsteht die Bedeutung der Dinge und Orte.“

Die Jahreszeiten-Bände von Karl Ove Knausgård: „Im Sommer“ ist der vierte und letzte Teil, in der Knausgård seiner kleinen Tochter seinen Alltag, seine Umgebung, seine Familie, sein Denken, Fühlen und Tun erklären möchte.
Wird man von seinen dicken Romanen erschlagen von der Wucht der Sätze, der dicke der Bücher, so finden sich hier kleine Texte, kurze Essays, Gedanken und Reflexionen.
Knausgård schreibt über Wassersprenger und Schnecken, Rote Johannisbeeren und Tränen, über Weidenröschen, den Zirkus, Marienkäfer, das Fischen von Krabben und beginnt mit der Beschreibung, der Definition eines Campingplatzes. Passt also zum Sommer, zu den Ferien. Auch zur Auszeit im Kopf.
Dazu noch zwei lange Tagebucheinträge und ein literarischer Text.
Wir erleben hier einen anderen Knausgård, einer, der vielleicht zu sich selbst gefunden hat.

https://www.srf.ch/sendungen/kulturplatz/das-phaenomen-karl-ove-knausgaard

Mittwoch, 6.Juni

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Heute haben
Pierre Corneille * 1606
Alexander Puschkin * 1799
Thomas Mann * 1875
Joyce Carol Oates * 1938
Bernd Schroeder * 1944
Erik Fosnes Hansen * 1965
Geburtstag
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Auf dem Gedichtekalender:

Georg Trakl
Im Dunkel

Es schweigt die Seele den blauen Frühling.
Unter feuchtem Abendgezweig
Sank in Schauern die Stirne den Liebenden.

O das grünende Kreuz. In dunklem Gespräch
Erkannten sich Mann und Weib.
An kahler Mauer
Wandelt mit seinen Gestirnen der Einsame.

Über die mondbeglänzten Wege des Walds
Sank die Wildnis
Vergessener Jagden; Blick der Bläue
Aus verfallenen Felsen bricht.
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Unser Taschenbuchtipp von Claudia Wiltschek:

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Berni Mayer: „Rosalie“
DuMont Taschenbuch € 10,00

Konstantin, von seinen Freunden nur „Der Schwarze“ genannt, wächst in tiefster bayrischer Provinz im kleinen Dorf Praam auf. Schon allein durch seine, als Hard- Rock-Fan, konsequent schwarze Kleidung, passt er nicht so ganz ins traditionverhaftete dörfliche Miteinander und eckt durch seine provokative
Art nicht nur im Elternhaus mächtig an. Mit seinen Freunden, dem Bartl und dem Böhmi, macht er sich das manchmal öde „Auf dem Dorf Leben“ so spannend wie möglich . Als plötzlich Rosalie in sein Leben tritt wird alles anders. Rosalie, ist die, die aus der Stadt kommt ,äusserst selbstbewusst auftritt und das Herz von Konstatin erobert. Eine zarte Liebesgeschichte nimmt ihren Anfang und auf der Suche nach einem heimlichen Plätzchen in dem alten verfallen Schloss machen die beiden eine Entdeckung ,die das ganze ruhige Dorfleben vollkommen ins Wanken bringen wird. Eine alte, verdrängte Geschichte droht ans Licht zu kommen, da die beiden Jugendlichen alles tun, um die Wahrheit zu erfahren.
Selten hat mich die Wendung in einem Roman so positiv überrascht: Flapsig,locker und witzig taucht der Leser in die Geschichte ein, ohne zu ahnen, welche Tiefgründigkeit ihn noch erwartet. Ein tolles Sommerbuch, das bis zur letzten Seite fesselt und so ein kleines bisschen an den Herrn Bierbichler erinnert.

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Hartmut Bögels Reise mit dem Rad zur Fußball-WM in Russland.
Ein wunderbarer Erlebnisbericht, dem Sie auf seinem Blog folgen können.
https://hardy-radelt-2018.tumblr.com/

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Richtung Kiew

Noch 75 km bis Kiew; heute der erste Plattfuß der Tour und das auf der Autobahn. Ein kleiner Glassplitter hat sich durch den Mantel gebohrt und den Schlauch erwischt; glücklicherweise konnte ich mich bis zu einem Rasthaus retten und dort in Ruhe flicken. Ansonsten ist die Fahrt auf dem Seitenstreifen der voll ausgebauten Autobahn ziemlich flott, was vor allem am Schiebewind liegt und so kommt mein Kilometeranzeiger auf dem Tacho mit mir prima voran. Ab und an hupt jemand wenn er an mir vorbeifährt, aber besonders zu stören scheine ich niemand. Selbstverständlich radle ich jetzt mit Helm auf dem Kopf.

Die Autobahn geht wie eine Schneise durch ein Waldgebiet und neben dem Seitenstreifen werden, meist von Frauen, Birkenzweige, Eingemachtes, Pilze und Beeren verkauft. Die Birkenzweige braucht man für die russische/ukrainische Banja = Sauna; zum abreiben und fächern.

Tankstellen und Rastplätze gibt es mässig viele und alle sind hier auf der Autobahn vom feinsten und laden zur Kaffeepause mit Wi-Fi ein. Die Preise an der Tanke sind im übrigen ähnlich wie im Laden; also das kennen wir ja anders in Deutschland.

Hinter Kiew

Das war echt eine grenzwertige Erfahrung für Ross und Reiter diese 30 km durch die Stadt Kiew am Abend….je näher ich der Stadt kam, desto dichter wurde der Verkehr; volle Aufmerksamkeit war gefordert: da ein Bus der vor einem losfährt, dann einer der noch grade so vor einem einschert , hier eine Seitenstraße wo ein Auto abfährt, dort eine Auffahrt wo welche einbiegen, rechts ein tiefer Gulli und links von der Hitze gewölbter Asphalt und immer wieder ein tiefes Schlagloch, beissende Abgase und Gasgeruch von den vielen alten gasbetriebenen Vehikel, die unterwegs sind ….alle Sinne waren gefordert und ebenso die Rücksichtsnahme der ukrainischen LKW und PKW Fahrer – ich kam heile durch und war nach diesem Husarenritt durch Kiew und davor über die Autobahn echt so richtig platt…..doch musste ja noch ein Schlafplatz her. Hab an einem Restaurant an der Stadtautobahn angefragt ob ich nicht in einem der kleinen Holzbuden rund ums Restaurant mein Zelt aufschlagen kann und war dann selbst überrascht wie problemlos und spontan das bejaht wurde…..hab dann noch zu meinem wohlverdienten Bier Salat und Pommes gegessen und einfach den Platz, die Gastfreundschaft, die ausgesprochen bemühenden beiden Bedienungen und die schöne Musik, die zum Tanzen aufforderte, genossen….доброї ночі

Dienstag, 5.Juni

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Heute haben Geburtstag:
Federico Garcia Lorca * 1898
Otto F.Walter * 1928
Thomas Kling * 1957
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978-3-15-019116-3

Juni
Gedichte
Hrsg.: Evelyne Polt-Heinzl und Christine Schmidjell
Reclam Verlag € 5,00

„Frühling lässt sein blaues Band ….“
Von wegen. Der Mai ist vorbei, die Kulturzelte sind aufgebaut, die Theater denken an ihre Sommerpause.
Wir können uns jedoch ganz entspannt zurücklehnen, da wir wissen, dass der Reclam Verlag für jeden Monat ein Gedichtbändchen für uns und unsere Hosentaschen hat. Das Wetter könnte nicht besser sein und so hoffen wir auf keine „Düsteren Junitage“, wie die Herausgeberinnen ein Kapitel überschrieben haben.

Im bunten Wiesenstück
Blütenduft und erste Früchte
Düstere Junitage
Der Sommer ist da
Besondere Tage

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Christian Morgenstern
Butterblumengelbe Wiesen

Butterblumengelbe Wiesen,
sauerampferrot getönt –
o du überreiches Sprießen,
wie das Aug‘ dich nie gewöhnt!

Wohlgesangdurchschwellte Bäume,
wunderblütenschneebereift –
ja, fürwahr, ihr zeigt uns Träume,
wie die Brust sie kaum begreift.

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Wilhelm Runge
Blumen flattern Sommer

Blumen flattern Sommer
Duften nimmt beide roten Backen voll
Falter wiegen Wald
Goldkäfer schreien
Mücken strampeln himmelauf und ab
heiß im Arm der Fische hängt das Bächlein
Unken patscht Libellenflügel wach

Zweige lachen
tuscheln
sonnen
strömen
Vögel wogen Wiesen
liegen flach
ziehn die Ahorndolden an den Händen
böse schelten Bienen in den Bart
Zwitschern streckt die sommerschweren Glieder
taumelnd tollt des Atems Flügelschlag
und der Augen wilde Rosen springen.

Das Denken träumt
Gelächter reimt die Straßen
zum Tanz des Blutes
schläfenaufundab
die Adern blinzeln Frühling durch die Knochen
und schlürfen tief den schweren Himmel ein
Wind spielt der Augen froh geschwellte Segel
der Stirne Knoten löst vom Tode sich
weiß über Wiesen schnattern Dörfer hin
die Städte fauchen
und zankend zerrn die Pulse ihre Zügel
nur deine Seele spielt im Sternjasmin
Lieb-Brüderchen Maßloslieb-Schwesterlein

Rosen nicken aus den Junistunden
trällern Sommerblau den Matten hin
mild aus tiefstem Herzen grünt die Heimat
ihre Lippen murmeln wälderschwer
überwelthin schwingt die Sterne Zeit
Kinderwangliebkinderwanggereiht
Krieg brüllt auf
die wilden Blumen schrein
Sonne leckt Gestöhn aus allen Poren
Frieden holt den tiefen Atem ein
und der Nächte durchgewühlte Locken

schmeicheln um der Seele zitternd Knie
Angst zerreißt der Sterne Himmelglanz
und der Abend drückt die Augen blind
einsam geigt
tief hinter Blut geduckt
ewger Kindheit wildumsehntes Glück
und der Sehnsucht über die Welt
hängende Herzen
schlagen

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Klabund
Die Wirtschafterin

Drei Wochen hinter Pfingsten,
Da traf ich einen Mann,
Der nahm mich ohne den geringsten
Einwand als Wirtschafterin an.

Ich hab‘ ihm die Suppe versalzen
Und auch die Sommerzeit,
Er nannte mich süße Puppe
Und strich mir ums Unterkleid.

Ich hab‘ ihm silberne Löffel gestohlen
Und auch Bargeld nebenbei.
Ich heizte ihm statt mit Kohlen
Mit leeren Versprechungen ein.

Ich habe ihn angesch…
So kurz wie lang, so hoch wie breit.
Er hat mich hinausgeschmissen;
Es war eine wundervolle Zeit…
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Unsere nächsten Veranstaltungen:

Dienstag, 5.Juni um 19 Uhr
Die erste Seite
Wir stellen vier neue Bücher vor.
Es liest Clemens Grote.
„Voll im Leben“ von John Fante
„Die Frau, die liebte“ von Janet Lewis
„Die Tagesordnung“ von Éric Vuillard
„Bilder deiner großen Liebe“ von Wolfgang Herrndorf mit Sandra Hüller
Eintritt frei

Und dann eines meiner Lieblingsbücher des Jahres:

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100

Montag, 18.Juni um 19 Uhr
Anja Kampmann: „Wie hoch die Wasser steigen“
Auf der Shortlist zum Leipziger Buchpreis
Lesung
Eintritt € 10,00

Freitag, 19.Januar

Heute haben
Edgar Allan Poe * 1809
Patricia Highsmith * 1921
Julian Barnes * 1946
Geburtstag
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Edgar Allan Poe
A Dream Within A Dream

Take this kiss upon the brow!
And, in parting from you now,
Thus much let me avow —
You are not wrong, who deem
That my days have been a dream;
Yet if hope has flown away
In a night, or in a day,
In a vision, or in none,
Is it therefore the less gone?
All that we see or seem
Is but a dream within a dream.

I stand amid the roar
Of a surf-tormented shore,
And I hold within my hand
Grains of the golden sand —
How few! yet how they creep
Through my fingers to the deep,
While I weep — while I weep!
O God! can I not grasp
Them with a tighter clasp?
O God! can I not save
One from the pitiless wave?
Is all that we see or seem
But a dream within a dream?
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Michael Pollan:Essen Sie nichts, was Ihre Großmutter nicht
als Essen erkannt hätte

Goldene Regeln für gute Ernährung
Mit vielen Illustrationen von Maira Kalman
Aus dem Englischen von Rita Höner
Goldmann Taschenbuch  € 10,00

„Essen ist heutzutage zu einer komplizierten Angelegenheit geworden“ schreibt Michael Pollan als ersten Satz in seinem Vorwort zur Originalausgabe 2009. Ja das stimmt. Etwas später kam das Buch unter dem deutschen Titel: „64 Grundregeln Essen“ heraus und jetzt neu mit Illustrationen von Maira Kalman. Kalmans Bilder kennen wir von dem genialen Jugendbuch: „43 Gründe, warum es AUS ist“ im Hanser Verlag. Sie hatte in der MoMA eine eigene Ausstellung bekommen und zählt zu den ganz großen Namen im Kunstgeschäft. Aber nun wieder zurück zum Buch, das ich eigentlich schon ganz lange hier vorstellen wollte, weil es einzigartig gut und schön ist. Handlich und informativ sowieso.
Essen Sie nur Lebensmittel, die verderben können. Meiden Sie Nahrungsmittel, für die im Fernsehen geworben wird. Essen Sie Tiere, die selbst gut gegessen haben. Trinken Sie das Spinatwasser mit. Meiden Sie Nahrungsprodukte mit Zutaten, die ein Drittklässler nicht aussprechen kann. Essen Sie möglichst vieles, was wild wächst und lebt. Essen Sie möglichst nicht allein.
Solche Sätze hat Pollan seinen einzelnen Kapiteln vorneweggesetzt und führt uns damit durch seine Sicht für ein gesundes Leben, für eine gesunde Art, sich zu ernähren; auch mit dem Hintergedanken, woher denn unser Essen kommt. Das schöne Wort Lebens-Mittel, statt Lebensmittel ist passend für seine Aussagen und er findet insgesamt drei Sätze, die für ihn einen festen Boden unter den Füssen bedeuten.
Essen Sie Lebens-Mittel.
Nicht zu viel.
Und vorwiegend Pflanzen.
Polland ist nun aber keiner dieser Spaßverderber, sondern er liebt das Essen und Trinken. Gerade in Gemeinschaft. Und halt gerade nicht allein auf der Straße. Wir können uns einen Blumenstrauß auf den Tisch stellen und schon schmeckt das Essen besser. Und dass ein Essen mit Freunden eh lustiger ist, als allein vor der Glotze, ist jedem klar.
Essen Sie nur Lebensmittel, die verderben können.
Was für ein Satz! Aber vielleicht gar nicht so abwegig, wenn wir schauen, wie lange Essen in Packungen halten können. Somit sind wir natürlich gleich beim nächsten Schritt und genießen den Einkauf auf dem Markt, dem einem oder anderen Schwätzle und lustigem Hinundher.
Polland schreibt auch, dass wir nun nicht alle seine Punkte abhaken sollen. Nein, genau das nicht. Aber Sie können sich von seinen Thesen (die er jeweils in seinen Kapiteln genauer ausführt und wissenschaftklich belegt) inspirieren lassen und vielleicht passt die eine oder andere Regel auch für Sie.
Lieben Sie ihre Gewürze finde ich auch schön und natürlich am Ende: Brechen Sie immer wieder Regeln.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen mit der Leseprobe.

Leseprobe

Michael Pollan, 1955 auf Long Island geboren, ist preisgekrönter Journalist, Aktivist und Autor mehrerer Bücher zum Thema Ernährung, u.a. »Lebens-Mittel« und zuletzt »Das Omnivoren-Dilemma«, auf dem der erfolgreiche Dokumentarfilm »Food Inc.« basiert. Pollan ist einer der Vorreiter der kritischen Auseinandersetzung mit der Nahrungsmittelindustrie und unterrichtet als Professor für Wissenschafts- und Umweltjournalismus an der University of California in Berkeley. Mehr auf www.michaelpollan.com

Maira Kalman, 1949 in Tel Aviv geboren und mit vier Jahren nach New York übersiedelt, ist eine der bekanntesten und besten Illustratorinnen Amerikas. Sie ist Autorin und Illustratorin zahlreicher Bücher für Kinder und Erwachsene. Mehr auf www.mairakalman.com

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Donnerstag, 16.November

Heute haben
José Saramago * 1922
Anne Holt * 1958
Karen Duve * 1961
Geburtstag.
Und es ist der Todestag von Ringelnatz.
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Joachim Ringelnatz
Abschied der Seeleute

Chor der Seeleute:

Wir Fahrensleute
Lieben die See.
Die Seemannsbräute
Gelten für heute,
Sind nur für to-day.

Die Mädchen, die weinen,
Sind schwach auf den Beinen.
Was schert uns ihr Weh !
Das Weh, ach das legt sich.
Unsre Heimat bewegt sich
Und trägt uns in See,
Far-away.

Chor der Mädchen:

Wir, die Bräute
Der Fahrensleute,
Lieben und küssen,
Doch wissen, sie müssen
Zur Seefahrt zurück.

Und wenn sie ertrinken,
Dann – wissen wir – winken
Uns andre zum Glück.
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SINN UND FORM
SECHSTES HEFT
November/Dezember 2017 € 11,00

Ganz unscheinbar kommt dieses Heft daher. Seit 69 Jahren sieht es so aus und innen drin verstecken sich jedes Mal unbekannte Schätze. Unglaublich, denke ich so oft; so  auch dieses Mal.

Der russische Schriftsteller Dmitri Bakin, der Taxifahrer war, beginnt mit einer unglaublichen Erzählung: „Bleiben: verwehrt“. Ich habe noch nie etwas von ihm gehört und gelesen und möchte nach dieser Lektüre noch mehr in die Finger bekommen.
Wolfgang Hilbig schreibt über Marina Zwetajewas Gedichtzyklus „Schlaflosigkeit“.
Großartig.
Und so geht es weiter. Texte über Literatur, Gedichte reihen sich an Erzählungen.
Hans Benders Vortrag „Vom Leben, Schreiben und Herausgeben“ aus den 80er Jahren taucht hier plötzlich auf und lässt mich staunen.
Heißenbüttel schreibt über Hamsun (Leseprobe) und Gert Löschütz nimmt uns mit nach Prag. Cécile Wajsbrots „Tröstung“ ist eine wahre Perle“
Zum Schluß noch Michael Maar über Peter Sloterdijk und Hans Christoph Buch über Joseph Brodsky.
Muss ich noch mehr loben?

Donnerstag, 2.November

Heute haben
Jonathan Swift * 1667
Theodor Mommsen * 1817
Ippolito Nievo * 1831
Mark Twain * 1835
Winston Churchill * 1874
Thomas Hettche * 1964
Geburtstag
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Eintrag am 2.11.2018 im Duden Gedichtekalender

Else Lasker-Schüler
Klein Sterbelied

So still ich bin,
All Blut rinnt hin.

Wie weich umher.
Nichts weiß ich mehr.

Mein Herz noch klein;
Starb leis an Pein.

War blau und fromm!
O Himmel, komm.

Ein tiefer Schall –
Nacht überall.
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Unser heutiger Lesetipp:

Daniel Kehlmann:Tyll
Rowohlt Verlag € 22,95

„Der Tyll ist da!“

Der neue Roman von Daniel Kehlmann ist da und nach einer Woche Anlaufzeit wurde er hoch und runter besprochen. Danach gab es kein Halten mehr und mittlerweile ist er von 0 auf 2 der Spiegel Bestsellerliste gelandet. Was immer das zu bedeuten hat. Eines ist klar: Das Buch wird noch öfter bis Weihnachten verkauft und zu diesem Anlass verschenkt werden.

Tyll Ulenspiegel ist unsterblich und somit hat Kehlmann auch gar kein Problem den Schalk vom 14. ins 17.Jahrhundert zu transportieren. Die Menge schreit: „Der Tyll ist da!“ und somit ist er eingeführt in den Roman. Kehlmann benutzt ihn als roten Faden durch seinen Roman über den 30jährigen Krieg, als einen, der die Wahrheit sagt und dem die Könige nicht den Mund verbieten können. Tyll jongliert mit seinen Bällen, wie Kehlmann mit seinen Figuren. Die Geschichte wird nicht chronologisch und geschichtlich korrekt erzählt. Und genau das macht den Reiz der 500 Seiten aus. Kehlmanns Sprache ist eine heutige und hat einen humorvollen Unterton, obwohl er auch über das Grauen des Krieges, der Folter schreibt. Ein Menschenleben ist nichts wert und Könige schlafen unter freien Himmel im Dreck. Das Buch ist voller Trauer und Verlust und doch heiter und frech.
Kehlmann hat eine Sprache, die fließt, die einen dazu bringt, Seite um Seite zu verschlingen. Wenn Sie gleichzeitig in Sachbuch-Neuerscheinungen zum 30jährigen Krieg, der sich 2018 jährt, lesen, werden Sie vermutlich viele geschichtliche Ungereimt-heiten finden. Das jedoch kümmert Kehlmann nicht. Er will ein Erzähler sein. Und das gelingt ihm ausgezeichnet.
Was dies anbelangt, gibt es in diesem Herbst nicht viele Bücher, bei denen es mir so ergangen ist. Salman Rushdies „Golden House“ war so ein Werk und Mariana Lekys „Was man von hier aus sehen kann“ gehört auch dazu.
Lassen Sie sich von Tyll verführen und dass er nicht von dieser Welt ist, lässt Kehlmann immer wieder aufblitzen. Als Tyll in einem Stollen verschüttet ist, sagt er: „Ich geh jetzt. So hab ich’s immer gehalten. Wenn es eng wird, gehe ich. Ich sterbe hier nicht.“
Ganz zum Schluss hat Tyll die Chance auf ein friedvolles Lebensende bei der englischen Königin, oder dem ungewissen Leben auf der Straße. Tyll entscheidet sich jedoch für einen dritten Weg, denn er meint, dass das Beste doch sei, überhaupt nicht zu sterben.

Anstatt einer Leseprobe, hier ein paar Lesehappen:

Schuh
«Tyll Ulenspiegel über uns drehte sich, langsam und nachlässig – nicht wie einer, der in Gefahr ist, sondern wie einer, der sich neugierig umsieht. Der rechte Fuß stand längs auf dem Seil, der linke quer, die Knie waren ein wenig gebeugt und die Fäuste in die Seiten gestemmt. Und wir alle, die wir hochsahen, begriffen mit einem Mal, was Leichtigkeit war. Wir begriffen, wie das Leben sein kann für einen, der wirklich tut, was er will, und nichts glaubt und keinem gehorcht; wie es wäre, so ein Mensch zu sein, begriffen wir, und wir begriffen, dass wir nie solche Menschen sein würden.
‹Zieht eure Schuhe aus!›»

Der Krieg, der Tod
«Und ein gutes Jahr später kam der Krieg doch zu uns. (…) Die Söldner waren hungriger als üblich, und sie hatten noch mehr getrunken. Lange schon hatten sie keine Stadt betreten, die ihnen so viel bot. Die alte Luise, die tief geschlafen und diesmal keine Vorahnung gehabt hatte, starb in ihrem Bett. Der Pfarrer starb, als er sich schützend vors Kirchenportal stellte. Lise Schoch starb, als sie versuchte, Goldmünzen zu verstecken, der Bäcker und der Schmied und der alte Lembke und Moritz Blatt und die meisten anderen Männer starben, als sie versuchten, ihre Frauen zu schützen, und die Frauen starben, wie Frauen eben sterben im Krieg.
Martha starb auch. Sie sah noch, wie die Zimmerdecke über ihr sich in rote Hitze verwandelte, sie roch den Qualm, bevor er so fest nach ihr griff, dass sie nichts mehr erkannte, und sie hörte ihre Schwester um Hilfe rufen, während die Zukunft, die sie eben noch gehabt hatte, sich in nichts auflöste: der Mann, den sie nie haben, und die Kinder, die sie nicht großziehen, und die Enkel, denen sie niemals von einem berühmten Spaßmacher an einem Vormittag im Frühling erzählen würde, und die Kinder dieser Enkel, all die Menschen, die es nun doch nicht geben sollte. So schnell geht das, dachte sie, als wäre sie hinter ein großes Geheimnis gekommen.»

Claus und Tyll
«Nicht mehr lange, dann wird er die letzten Lücken geschlossen haben. Dann wird er selbst ein Buch schreiben, in dem alle Antworten stehen, und dann werden die Gelehrten in ihren Universitäten sich wundern und schämen und sich die Haare raufen.
Aber leicht wird das nicht. Seine Hände sind groß, und der dünne Federkiel zerbricht ihm immer wieder zwischen den Fingern. Er wird viel üben müssen, bevor er ein ganzes Buch mit den Spinnenzeichen aus Tinte füllen kann. Aber es muss sein, denn er kann all das, was er herausgefunden hat, nicht für immer im Gedächtnis halten. Es ist schon zu viel, es schmerzt ihn, oft ist ihm schwindlig von all dem Wissen im Kopf.
Vielleicht wird er irgendwann seinem Sohn etwas beibringen können. Er hat gemerkt, dass ihm der Junge beim Essen manchmal zuhört, wider Willen fast und bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Dünn und zu schwach ist er, aber er scheint klug zu sein. Vor kurzem hat Claus ihn dabei ertappt, wie er mit drei Steinen jongliert hat, ganz leicht und ohne Mühe – reiner Unsinn, aber doch auch ein Zeichen, dass das Kind vielleicht nicht so stumpf ist wie die anderen. Neulich hat der Junge ihn gefragt, wie viele Sterne es eigentlich gibt, und da er erst vor kurzem nachgezählt hat, hat er ihm nicht ohne Stolz eine Antwort geben können. Er hofft, dass das Kind, das Agneta trägt, wieder ein Junge wird; mit etwas Glück sogar einer, der kräftiger ist, damit er ihm besser bei der Arbeit hilft, und dem er dann auch etwas beibringen kann.»

Liz und ihr «Winterkönig»
«Auf der Bootsfahrt hatte Friedrich an der Reling gelehnt und versucht, sich die Seekrankheit nicht anmerken zu lassen. Ganz kindliche Augen hatte er gehabt, aber er hatte so aufrecht gestanden, wie nur die besten Hofmeister es einem beibringen können. Du bist sicher ein guter Fechter, hatte sie gedacht, und: Du bist nicht hässlich. Mach dir keine Sorgen, hätte sie ihm am liebsten zugeflüstert, ich bin jetzt bei dir.
Und jetzt, so viele Jahre später, konnte er noch immer perfekt dastehen. Was auch geschehen war, wie sehr man ihn erniedrigt und zum Gespött Europas gemacht hatte – aufrecht zu stehen, das vermochte er noch wie zuvor, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, das Kinn erhoben, die Arme auf dem Rücken verschränkt, und auch seine schönen Kälberaugen hatte er noch.
Sie mochte ihren armen König gern. Sie konnte gar nicht anders. All die Jahre hatte sie mit ihm verbracht, ihm mehr Kinder geboren, als sie zählen konnte. Ihn nannte man den Winterkönig, sie die Winterkönigin, ihrer beider Schicksale waren unauflöslich verbunden. Damals auf der Themse hatte sie davon nichts geahnt, da hatte sie bloß gedacht, dass sie dem armen Jungen ein paar Dinge beibringen müsse, denn wenn man miteinander vermählt war, musste man auch miteinander sprechen. Mit dem da konnte das schwierig werden, der hatte von gar nichts eine Ahnung.»

Hunderte Eimer Blut
«Vom Hradschin aus sah sie es marschieren, und mit kaltem Schrecken wurde ihr klar, dass diese blitzenden Lanzen, diese Schwerter und Hellebarden nicht einfach bloß irgendwelche glänzenden Dinge waren, sondern Klingen. Es waren Messer, geschliffen zu dem einzigen Zweck, Menschenfleisch zu schneiden, Menschenhaut zu durchstoßen und Menschenknochen zu zersplittern. Die Leute, die dort drunten so schön im Gleichschritt gingen, würden diese langen Messer anderen in die Gesichter stoßen, und selbst würden sie Messer in Bäuche und Hälse gestoßen bekommen, und so mancher von ihnen würde von gegossenen Stahlklumpen getroffen werden, die so schnell flogen, dass sie Köpfe abrissen, Glieder zerschmetterten, Bäuche durchschlugen. Und Hunderte Eimer Blut, das noch in diesen Männern floss, würde bald nicht mehr in ihnen sein, es würde verspritzen, verrinnen, schließlich versickern; was machte eigentlich die Erde mit all dem Blut, wusch der Regen es aus, oder war es ein Düngemittel, das besondere Pflanzen wachsen ließ? Ein Arzt hatte ihr gesagt, dass der letzte Samen der Sterbenden kleine Alraunenmännchen zeugte, lebendig zitternde Wurzelwesen, die wie Säuglinge schrien, wenn man sie aus dem Boden zog.»

Das Ende des Drachenzeitalter
«Im selben Jahr starb in der Holsteinischen Ebene der letzte Drache des Nordens. Er war siebzehntausend Jahre alt, und er war es müde, sich zu verstecken.
Also bettete er den Kopf ins Heidekraut, legte den Körper, der sich so vollständig seinem Untergrund anpasste, dass selbst Adler ihn nicht hätten ausmachen können, flach in die Weichheit der Gräser, seufzte und bedauerte kurz, dass es nun vorbei war mit Duft und Blumen und Wind und dass er die Wolken im Sturm nicht mehr sehen würde, nicht den Aufgang der Sonne und nicht die Kurve des Erdschattens auf dem kupferblauen Mond, der ihn immer besonders erfreut hatte.
Er schloss seine vier Augen und brummte noch leise, als er spürte, dass ein Spatz sich auf seine Nase setzte. Es war ihm alles recht, denn er hatte so viel gesehen, aber was mit einem wie ihm nach dem Tod geschehen würde, wusste er noch immer nicht. Seufzend schlief er ein. Sein Leben hatte lang gedauert. Nun war es Zeit, sich zu verwandeln.»
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Nicht vergessen:

Freitag, 3.November um 19:00 Uhr
Im Rahmen der Woche der unabhängigen Buchhandlungen

„Vom Dachzimmer zum Kurt Wolff Preis“
Ein Abend mit Benno Käsmayr und seinem Maro Verlag

Donnerstag, 17.August

Heute haben
Theodor Däubler * 1876
Ted Hughes * 1930
VS Naipaul * 1932 (Nobelpreis 2001)
Herta Müller * 1953
Jonathan Franzen * 1959
Geburtstag.
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Heute vor einem Jahr haben wir hier den Lyrikband „Nachgetragenes“ von Silvia Trummer vorgestellt und u.a. folgendes Gedicht veröffentlicht:

Suche

Manchmal taste ich mich
mit bloßen Händen
durch das Gestrüpp
wirrer Gedanken.

Ich möchte Worte finden
wie Bäume in einer Allee,
durch die das Licht fällt
am frühen Morgen.

Silvia Trummer: „Nachgetragenes„
Gedichte von 1988 bis 2005
Verlag Wolfbach € 18,00
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Gestern frisch ausgepackt:

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Leila Slimani:Dann schlaf auch du
Luchterhand Verlag € 20,00

https://www.youtube.com/watch?v=0pppZIFnmwQ

Der erste Satz des Romanes zeigt uns gleich, dass es für das Kind, für die Kinder nicht gut ausgeht. Leila Slimani braucht auch gar nicht den überraschenden Schluss, sondern nimmt uns mit auf die verschlungenen Wege, bis es zu diesem tragischen Ende kommt. Dieser zweite Roman der franko-marokkanischen Autorin wurde mit zahlreichen Auszeichnungen versehen, u.a. auch mit dem Prix Goncourt.
Myriam und Adam könnten glücklich sein. Sie leben mitten in Paris, haben zwei gesunde Kinder und Adam bringt mit seinen Musikjobs genügend Geld mit nach Hause. Als Myriam ein Angebot bekommt, wieder als Anwältin zu arbeiten, ist schnell klar, dass eine Nounou, eine Nanny, ein Kindermädchen gebraucht wird. Nach einem langen Casting entscheiden sich die jungen Eltern für die ältere Louise, die sich sehr schnell als wahre Perle entpuppt. Sie versteht es ausgezeichnet mit den Kindern, macht den Haushalt und kocht ausgezeichnet, so dass immer öfter Einladungen ausgesprochen werden, bei denen ausgiebig diniert wird.
Doch irgend etwas stimmt mit Louise nicht. Dies erfahren wir in Rückblicken, in denen uns die Autorin das kleine Leben von Louise zeigt. Ein Leben, dem sie nicht entfliehen kann, das sie geprägt hat und sozial an den Rand stellt. In dem von ihr betreuten Haushalt zeigt sie ein anderes Gesicht, keiner ahnt etwas von ihrem „anderen“ Leben und gleichzeitig möchte sie diese Arbeit auch nicht verlieren.
Leila Slimani hat hier keinen Thriller geschrieben, sondern zeigt anhand ihrer beiden Hauptfiguren Louise und Myriam, wie beide Frauen in unterschiedlichen Zwängen festsitzen und verzweifelt versuchen, ihnen zu entfliehen.
Es ist keine leichte Lektüre, aber ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen.
Die heutige BRIGITTE vergab an das Buch fünf von fünf Punkte.