Jetzt kommt sie doch noch:
Predigt am 1. Sonntag nach Ostern (Quasimodogeniti), 19.04.2020
Predigttext: Jesaja 40, 26-31
26 Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. 27 Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«? 28 Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. 29 Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. 30 Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; 31 aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.
Lieber Leserin, lieber Leser,
in der ersten Christenheit ließen sich vor allem Erwachsene taufen. Lange haben sie sich auf die Taufe vorbereitet. Dann an Ostern, dem klassischen Tauftermin, war es endlich soweit. Als Zeichen ihres neuen Lebens in Christus trugen die Neugetauften dann eine Woche lang ihre weißen Taufgewänder. Am heutigen Sonntag nach Ostern legten sie diese ab und trugen wieder ihre Alltagskleidung. Der Alltag hatte sie wieder. Ein Blick in die Welt, damals wie heute, genügt: Die österliche Freude und Hoffnung haben es unter Alltagsbedingungen schwer.
Freude und Hoffnung haben es auch schwer bei den Menschen, zu denen Jesaja spricht. In Babylon fristen diese Israeliten ein kärgliches Dasein. Dorthin wurden sie verschleppt. Jerusalem ist dem Erdboden gleich gemacht. Der Tempel, sichtbarer Ort der Gegenwart Gottes, liegt in Schutt und Asche. Offenbar sind die Götter Babylons doch stärker als der Gott Israels. Täglich sind sie den Demütigungen der Sieger ausgesetzt. Gibt es noch Hoffnung?
Da sagt eine Stimme: „Hebt eure Augen in die Höhe“.
Normalerweise blicken wir nach vorne. Wenn der Weg schwierig wird sogar nach unten. Jetzt aber ist ein anderer Blick angesagt – nach oben. „Kreist nicht länger um euer Schicksal. Blickt auf zum Himmel. Was seht Ihr dort in sternenklarer Nacht?
Ein unzähliges Meer an funkelnden Sternen. Deshalb: „Hebt eure Augen in die Höhe und seht: Wer hat dies geschaffen?“.
Der Astrophysiker Stephen Hawkins sagt: Wenn das Universum keinen datierbaren Anfang hat, dann gibt es auch keinen Schöpfer. Wer so spricht, übersieht, dass die Bibel kein naturwissenschaftliches Buch ist. Das verkennt aber nicht nur Hawkins, das verkennen auch christliche Fundamentalisten, wenn sie beweisen wollen dass Gott die Erde so geschaffen hat, wie es dem Wortlaut der Bibel entspricht. Wenn Jesaja fragt: „Wer hat das geschaffen?“, geht es nicht um den naturwissenschaftlichen Anfang des Universums. Es geht um die existentielle Grundfrage schlechthin: Warum gibt es überhaupt Leben? Warum existiert überhaupt etwas? Warum ist nicht einfach nichts?
Mit dem Blick zum Himmel bricht eine andere Dimension in unser Leben ein. Der „bestirnte Himmel über mir“ lässt etwas ahnen vom Wunder der Schöpfung. Darum geht’s Jesaja. Anders als in Babylon sind die Sterne keine Gottheiten. Sterne sind Geschöpfe wie wir. Aber der Kosmos mit Sonne, Mond und Sterne ist in seiner Großartigkeit das beeindruckende Zeugnis für Gottes Schöpfermacht – bis heute. Denn Schöpfung meint nach biblischem Verständnis nicht eine vor Urzeiten zurückliegende Schöpfertat Gottes; Schöpfung meint, dass Gott bis heute mit seiner lebensschaffenden Kraft in der Welt wirkt. Vielleicht haben Sie ja auch schon einmal die Erfahrung gemacht, wie Ihnen plötzlich neue Kraft und Stärke geschenkt wurde? Denn „Männer werde müde und matt, und Jünglinge straucheln“, sagt Jesaja. Wir sind Menschen und nicht Gott.
Wie gehe ich mit der Wahrheit um, dass menschliche Kräfte nachlassen? Nehme ich das überhaupt zur Kenntnis? Gebe ich es gar zu? Und was dann? Habe ich nur die Wahl zwischen Resignation, Zynismus oder dem täglichen Kampf gegen das schwächer-Werden und Vergehen?
Jesaja rät etwas anderem. Statt Resignation oder Aktivismus ist „harren“ angesagt: Warten also. Eine Tugend, die wir dieser Tage mühsam lernen. Passivität statt Aktivität. Entschleunigung statt Beschleunigung. Die Devise „höher, schneller, weiter“, hilft nicht zum Leben. Sie macht kaputt.
Der Pfarrer und Dichter, Albrecht Goes, schreibt einmal: „Der Beistand weiß, dass der in sechzig Lebensjahren schwer gewordene Rucksack ihm nicht erlaubt, in jedem Stück mit den Söhnen und Töchtern Schritt zu halten. Der, der den Rucksack trägt, trägt ihn heiter und nicht keuchend. Er glaubt zu wissen, dass mindestens ein Gut in diesem Rucksack steckt, das ihm und den Jungen gemeinsam nütze sein kann: Geduld“.
In Halle hat nicht nur die Leopoldina ihren Sitz, sondern auch die Franckeschen Stiftungen, eine große Diakonische Einrichtung. Über dem Eingangsportal des ehemaligen Waisenhauses von 1700 sieht man in Stein gemeißelt zwei Adler, die zur Sonne auffliegen und darunter die Worte: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sei auffahren mit Flügeln wie Adler“. Mit Bedacht hat August Herrmann Francke diese Worte über den Neubau gesetzt. Der Weg dorthin war steinig. Als Gemeindepfarrer in Halle öffnet er am Anfang sein Haus um Bedürftige mit Brot und biblischen Worten zu stärken. Unablässig sucht er Spender. Doch die Spendenbereitschaft nimmt ab. Zu Ostern 1695 steckt ihm eine Frau mehrere Taler zu. Francke beschließt, eine Schule für Arme anzufangen. Er kauft Bücher und stellt einen mittelosen Studenten an. Dieser unterrichtet die Kinder der Armen jeden Tag zwei Stunden. Doch das Kapital ist bald aufgebraucht. Francke muss viele Rückschläge erleiden. Doch er lässt sich nicht beirren. 5 Jahre später sitzen an der Mittagstafel des neugebauten Waisenhauses 200 Kinder und arme Studenten. Später kommen weitere Schul- und Wohngebäude dazu, Werkstätten und Gärten entstehen, sogar eine Apotheke. In der ehemaligen DDR mit der praktizierten Kirchenfeindlichkeit durchlebten die Frankeschen Stiftungen schwere Zeiten. Bei einer Führung sagte mir ein Mann, der in DDR-Zeiten dort gearbeitet hatte: „Diese Gebäude predigen, welche Berg versetzende Kraft einem Menschen zuwachsen, wenn er nicht aufhört auf Gott zu hoffen. Das hat uns Mut gemacht!“.
Menschliche Kraft gelangt immer wieder an ihre Grenzen. Die neue Kraft schenkt neuen Auftrieb. Sie sieht Gott in allem am Werk. Gott, dessen Kraft gerade in der Schwachheit mächtig ist, der gerade auch da mit dabei ist, wo ich ihn weder spüre, noch vermute. Für diese Kraft stehen das Kreuz am Karfreitag und das leere Grab am Ostermorgen. Doch dafür müssen wir immer wieder unsere Blickrichtung neu ausrichten, weg von uns hin auf Gott. Dann können wir vielleicht mit Albrecht Goes sagen: „Der Beistand begegnet dem Ungestüm des ‚Alles oder nichts‘ nicht mit Entrüstung. Wenn er eines gelernt hat, dann dies: er hat gelernt, mit Fragmenten zu leben, und den Glanz wahrzunehmen, der über den Bruchstücken schimmert“. Den Glanz Gottes, der es gut mit uns meint.
Amen.
Dekan Ernst-Wilhelm Gohl
(Zitate: Albrecht Goes, Tagwerk, S. 140)
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Liebe Freunde,
heute wöre unser Festival (KlangHaus / Stadthaus Ulm) mit einem großen, räume-sprengenden Abend aus Musik und Literatur so richtig losgegangen. Angeschlossen hätte sich eine Woche mit grossartigen Künstler*innen und faszinierenden Werken. Aus bekannten Gründen wird daraus nichts.
In meinem neuen #KlassikKlub am Sonntag den 19.4. werde ich deshalb ein paar der Stücke spielen, die wir in diesen Tagen erlebt hätten.
So steht die Musikfolge einmal in den Zeichen des Frühlings – aber auch in der Idee der Wahrheitssuche des #MonteVerità, unseres Festivalthemas. Erwähnen möchte ich hier die „Wassermannmusik“ von Hans Otte, welche die Sendung eröffnet sowie David Langs “Simple Song #3”, den er eigens für unser European Music Project“ neu arrangiert hat und sein „Just / after song of songs“ (beide Werke sind auch Teil der Filmscore zu Sorrentinos „Youth/Ewige Jugend“). Auch ein „Marsch um den Sieg zu verfehlen“ von Mauricio Kagel hat hier seinen Platz. Des Weiteren werde ich Musik von Rufus Wainwright, Astor Piazzolla, Antony Hegarty (Antony and the Johnsons), Maurice Ravel, Marin Marais, Hamza El Din, Claude Debussy, Hieronymus Kapsberger, Aram Chatschaturian und George Bizet, Ryan Keberle und Frank Woeste. Zwei Werke sind in Aufnahmen mit unserem Ensemble-In-Residence „European Music Project“ zu erleben.
Enjoy!
Juergen a.k.a. Simon Sarow
WDR3 Klassik-Klub
Sonntag 19.4., 16.05-17.45
nur Livestream, kein Podcast