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Noémi Kiss: „Schäbiges Schmuckkästchen „
Reisen in den Osten Europas. Bukowina – Czernowitz – Galizien – Gödöllö – Lemberg – Siebenbürgen – Vojvodina
Aus dem Ungarischen von Eva Zador
Europa Verlag € 17,99
Ein Reiseführer der anderen Art. Es kommt darauf an, wie wir Reisen definieren. Wenn wir es nicht mit Urlaubmachen in einen Topf werfen, sondern das Reisen auch mit Entdeckungsreisen zusammen sehen, dann liegen Sie hier richtig. Noémi Kiss (gesprochen: Kisch) reist meist mit dem Bus, mit öffentlichen Verkehrsmittel, mit dem Auto. Alleine, oder in einer Gruppe. Wie es sich für eine Reise gehört, liest sie vorher über die zu besuchenden Gegenden, informiert sich, hört sich um. Sie nimmt den alten blauen Baedeker Reiseführer mit. Der längst veraltet ist und genau das ist das Interessante daran. Kiss sucht das Vergangene, sie sucht, das, was überdeckt worden ist, durch die Zeitläuften des 20. und 21.Jahrhunderts. Sie sucht und findet in der Literatur, das was sie zu entdecken hofft an den Rändern des alten Habsburger Reiches. Mit Czernowitz hat sie natürlich auch eine Stadt, aus der viele Autoren stammen und sie stellt auch gleich Paul Celan an den Beginn über ihre Reise durch die Bukowina.
Es gibt keine Reise ohne Erinnerung und so schaut sie, wie sich ihre Lektüreerfahrung mit der Wirklichkeit vertragen. Dabei ist das Buch kein literarischer Führer. Kiss hüpft und springt und wir wissen nicht, was uns auf der nächsten Seite, auf der nächsten Reise erwartet. Sieben Kapitel mit sieben Schwerpunkten beinhaltet das Buch und jedes Mal staunt sie selbst über das, was sie dort erlebt, sieht, riecht und hört. Immer wieder tauchen sprachliche Schmuckkästchen auf, wenn sie eine Stadt beschreibt, in der es glitzert, leuchtet und gleichzeitig verraucht, verrust, schwarz ist. Da macht es auch überhaupt nichts aus, dass das Buch keine Fotos beinhaltet. Sie könnten der Sprache der Autorin sowieso nicht das Wasser reichen.
Kiss schreibt über Menschen, die sie trifft. Ihr fällt auf, dass in der Bukowina noch deutsch gesprochen wird. Sie findet in modernisierten Städten nichts mehr von der viel gepriesenen Vergangenheit, dem friedlichen Zusammenleben verschiedener Völker und Religionen. Sie übertritt die nahe gelegene Grenze in die Ukraine und befindet sich auf einen Schlag in einem Landstrich mit zerfallenen Bauernhöfen und verrotteten Resten der ehemaligen Sowjetunion. Dass sie dort jedoch auch nichts von der Vergangenheit mehr entdecken kann, liegt daran, dass genau zu diesem Zeitpunkt Panzer auffahren, Mobilmachung herrscht. Sie schreibt über Begegnungen mit Soldaten in der Ukraine, Erinnerungen an die eigene Großmutter und ihrer Sicht auf die Kulturpolitik der Regierung in Ungarn. Es wird getrunken und gegessen, gelacht und viel geredet. Wir sind mit Noémi Kiss mitten unter die Menschen geraten, befinden uns auf dem Stadtplatz von Lemberg, auf dem gerade ein Wochenendfest stattfindet. Der Hundestrizzi will seinen Hund auf einen Baum schicken und behauptet, dass er klettern könne. Russische Pilgergruppen besuchen die vielen Kirchen und Kiss isst in einem libanesischen Restaurant. Lemberg, die Löwenstadt, lebt. Kiss streicht durch die Läden, entdeckt Unerwartetes und Vergessenes. Sie sieht die Verwandlung der Stadt, sie lässt uns teilhaben am Umbruch in einem Gebiet, in das es westliche Touristen eher nicht hinzieht.
Gerade habe ich Joseph Roths „Radetzkymarsch“ beendet und den Niedergang der KuK Monarchie miterlebt und den Untergang der Familie Trotta. Und genau dort befinden wir uns auch hier und schürfen mit der Autorin in dem Untergegangen und entdecken Neuentstandenes.
Ein tolles Buch von einer Autorin, die uns immer wieder Staunen lässt.
Radio H2 stellt das Buch vor.
Darmstädter Jury wählt Noémi Kiss „Schäbiges Schmuckkästchen“ zum Buch des Monats Juni!
Lesung in Ulm: 12.11.2015 um 19.00 Uhr im Donauschwäbischen Zentralmuseum
Die Website der Autorin
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Am Sonntag gibt es neue Sonntagsskizzen von Detlef Surrey, der letzte Woche für ein paar Tage in Rom weilte.