Samstag

Zorngebete
Saphia Azzeddine: „Zorngebete
Aus dem Französischen von Sabine Heymann
Quartbuch bei Wagenbach € 16,90

Jbara wächst mit ihrer Familie im Maghreb auf. Als Ziegenhirten, ohne Ausbildung und Aussicht auf Veränderung, lebt sie auf der untersten Stufe der Gesellschaft. Nicht einmal Dienstmädchen ist sie. Ihre Mutter spricht nicht viel, oder betet ihre drei bekannten Suren, ihr Vater ist einem selbsternannten Iman verfallen. Jbaras einzige Lichtblicke in dieser Zeit ist der Gedanke an ein bestimmtes Fruchtjoghurt, das sie in unregelmäßigen Abständen von einem anderen Hirten bekommt, mit dem sie schnellen Sex hat. So beginnt der Roman, der 1979 in Marokko geborenen Autorin und lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Hier wird nichts beschönigt, sondern jeder Dreck unter den Fingernägeln und anderswo, der Geruch, oder besser Gestank beschrieben. Erst später entdeckt sie die Hygiene, das Zähneputzen und Waschen.
Aus diesem Rattenloch, das nur aus Erniedrigungen und Schlägen besteht, in dem sie sich wie eine Ameise fühlt, rettet sie ein rosafarbener Koffer, der aus einem der Toristenbusse gefallen ist. Diese Überlandbusse sind die einzige Abwechselung, zweimal die Woche. Und diese Touristen fotografieren sie und ihre Familie in ihrem Hirtenzelt, wie Tiere in einem Zoo. In diesem Koffer (gut, dass es Romane gibt. Im wahren Leben geschieht so etwas natürlich nie) befindet sich Geld und Wäsche. Sie beschließt abzuhauen und arbeitet in der Stadt als Putzhilfe in einem Café. Das Zimmer bezahlt sie wiederum mit sexuellen Diensten für den Besitzer.
Was wir immer mitbekommen, ist die Innenwelt dieser jungen Frau. Jbara ist durch die verschiedenen Leben hindurch aufrecht und sie bewahrt ihre unverwechselbare Eigenständigkeit. Unverblümt schlägt uns ihre Sprache mit ohnmächtiger Wut entgegenentgegen. Diese Sprache ist derb, weil das, was Jbara widerfährt, derb ist. Und sie ist zart, weil man darunter spürt, wie weh das tut.
Sie ist schwanger von diesem Ziegenhirten aus dem Dorf, sie bringt ihr Kind auf der Straße zur Welt und lässt es liegen. Was sie ihr ganzes Leben lang verfolgt. Sie zieht weiter, verdient ihr Geld mit dem, was sie gelernt hat; mit Sex. Sie wird in den Clubs erkannt, mit Küsschen begrüßt und wird von denReichsten der Reichen mitgenommen. Ihre Stelle als Hausmädchen in einem reichen Haushalt bringt ihr weitere Möglichkeiten des „Aufstiegs“. Das ersparte Geld schickt sie ihrer Familie, die sich davon Fernseher und eine Satellitenschüssel kaufen. Ein Besuch dort, lässt sie schnell erkennen, dass dies keine Welt mehr für sie ist.
Einer dieser Reichen nimmt sie zur Zweitfrau und sie kommt zum ersten Mal in diesem Buch etwas zur Ruhe.
Doch jetzt fällt der Schleier über sie. Ein Schleier hinter dem sie sich verbergen muss und kann. Hinter dem sie weint und vor Wut kocht.
„Zorngebete“ ist die Geschichte einer nordafrikanischen Frau, die sich an die Verhältnisse ebenso schmerzhaft wie wendig anzuschmiegen weiß. Es ist aber auch die Geschichte einer inneren Emanzipation, wie man sie in diesem Tonfall selten hört. Jbara nutzt Freiräume, etwa wenn sie ins Essen der Reichen spuckt, bevor sie es serviert. Vor allem aber werden ihre Zwiegespräche mit Allah zur grundlegenden, tabufreien Auseinandersetzung mit der Rolle der Frau im Islam; zur Beichte über das, was sich alles aushalten lässt – und wie.
Was ich Dich eigentlich fragen will, Allah: Kann man seinem Schicksal entgehen? Hat ein Mädchen wie ich überhaupt ein Schicksal? Kannst Du mir im Ernst zum Vorwurf machen, dass ich ein Dach überm Kopf der Straße vorgezogen habe, ein bisschen Wärme der Kälte und ein Bett dem Bordstein? Meine Entscheidungen sind absolut logisch. Und natürlich. Wer will schon Bettlerin werden?
Saphia Azzeddine hat ihrer Figur eine kräftige, vulgäre, anklagende, bisweilen sogar selbstironische Stimme verliehen – nie aber eine jammernde. Sie beschert uns ganz ohne Pathos Einblicke in verschiedene Milieus. Sie ist mit verstörender Direktheit an die Leser gerichtet, und zwar an westlich sozialisierte, für die es extra Erklärungen gibt, unter anderem auch ein Glossar mit Worterklärungen. So persönlich, so grenzwertig genau liest man selten aus einer nach außen gut abgedichteten Welt.
„Zorngebete“ habe ich an einem Abend gelesen, so gefasselt war ich von der Sprache. Diese Direktheit, dass ich fast die Gerüche in der Nase hatte. Und trotz der vielen Erniedrigungen und der Gewalt, ist dies doch ein positives Buch, einer Frau, die nicht aufgibt. Ein starkes und ein positives Buch, das mich nicht niedergeschlagen zurückgelassen hat. Im Gegenteil.
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Und hier noch ein Werbeclip aus der Welt der modernen westlichen Familie und dem Vorteil, ein iPad zu besitzen.
Oder auch nicht.
Ha! Selten so gelacht.

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