Heute hat Justinus Kerner (*1786) Geburtstag
Justinus Kerner
Der schönste Anblick
Schön ist’s, wenn zwei Sterne
Nah sich stehn am Firmament,
Schön, wenn zweier Rosen
Röte ineinander brennt.
Doch in Wahrheit! immer
Ist’s am schönsten anzusehn:
Wie zwei, so sich lieben,
Selig beieinander stehn.
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Der Bücherherbst steht in voller Pracht und unser alter Tisch mit den vielen Neuheiten ist voll beladen. Eigentlich könnten wir auch ein Erntedankfest organisieren.
Was ich in den letzten Tagen gepflückt habe, war ein außergewöhnliches Leseerlebnis, das ich kaum in Worte fassen kann.
Max Scharnigg: “ Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau„
Hoffmann & Campe Verlag € 19,99
als eBook € 15,99
Ein Einsidlerhof im Nirgendwo (ich denke mir irgendwo in Bayern) zwischen Hügeln versteckt. Dort leben drei Generationen von Männern. Mehr gibt es eigentlich nicht. Ach doch, ein alter Fisch. Aber gibt es den wirklich? Und wie alt müsste der sein und wie schwer und groß? Das alles zusammen ist Pildau. Was kann hier schon passieren, fragen sie sich sicherlich. Nicht viel. Und doch ist das ein Buch voller Geschichten dieser Menschen, die so anrührend schön, so magisch versponnen sind, dass ich vollkommen abgetaucht bin in diese Welt von Pildau (=Schilda ???).
Jasper Honigbrod ist der Jüngste der Dreien und seine Geschichte steht im Mittelpunkt. Ihn verfolgen wir, bis Großvater und Vater unter der Erde liegen. (Wobei mir beim Namen Honigbrod immer der Name Trachimbrod im Kopf herumschwirrt. Das Dorf in der Ukraine aus dem Roman: „Alles ist erleuchtet“ von Jonathan Safran Foer, der ja auch voller Magie und Verschwundenem ist).
„Spektakuläre Ereignisse und einiges über uns
Die zwei Regeln meines Vaters. Führe ein Tagebuch und sorge dich um die Hofstange. Die erste echte Erinnerung: Wie er an meinem sechsten Geburtstag ein schwarzes Büchlein auf den Tisch neben mein Bett legt, bevor er den Hocker nimmt, um mir die Gutenmorgengeschichte zu erzählen.“
So beginnt dieser Roman und hat schon alle Zutaten versammelt.
Sein Vater, ein außergewöhnlicher Vogel, hat sich von der Arbeitswelt zurückgezogen und liest tagaus tagein im Stall seine Bücher. Also: ein ehemaliger Stall, der seine Bibliothek bildet. Er nimmt manchmal Aufträge an, von denen sie gemeinsam ihren Unterhalt bestreiten, schafft es aber nicht, sein letztes großes Werk zu vollenden, bzw. überhaupt zu beginnen. Er liest Jasper keine Gutenachtgeschichten vor, sondern Gutemorgengeschichten. Dies führt dazu, dass Jasper sich sehr schnell aus dem Schlaf schälen muss, damit er die Geschichte auch mitbekommt, da der Vater nie etwas wiederholt. Das Tagebuch wird geführt, sonst gäbe es ja dieses Buch nicht. Aber was hat es mit der Hofstange auf sich? Das erinnert mich an diese bayerische Dörfe mit all ihren Maibäumen. Nur: Hier wachsen diese Hofstangen in den Himmel. Sie werden verlängert und verlängert, benötigen aufwendige Konstruktionen, damit das himmellange Ding nicht umkippt. Hier in Pildau wird diese Hoftstange einem britischen Kampfpiloten im Zweiten Weltkrieg zum Verhängnis. Er verfängt sich in dem Teil und legt eine gelungene Bruchlandung auf dem Hofgelände hin. Dass dies natürlich zu großen Veränderungen führen wird, können Sie sich ja denken. Aber dies kommt erst viel später.
Noch ist Jasper sechs Jahre alt und bemerkt, dass sein Vater eines morgens anders aussieht und hauptsächlich anders riecht. Haare und Bart sind versengt und er hat ein Findelkind mitgebracht, das nicht zu sprechen scheint. Später kommt heraus, dass er das kleine Mädchen aus einem brennden Auto gerettet hat. Die Frau ist wohl tot, der Mann verletzt. Japsers Vater nimmt das Mädchen Lada mit nach Pildau, sagt niemandem Bescheid, und somit ist die Männerwirtschaft plötzlich um eine weibliche Person erweitert. Eine weiter Frau taucht immer wieder auf und ist eine Geliebte des Vaters, der sich aber auch hier nicht wirklich entscheiden kann, einen realen Schritt zu machen.
Max Scharnigg hat mich mit seinem letzten Roman: „Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe“ schon fasziniert, aber hier legt er noch eine Schippe drauf und hat sich zum ausgewachsenen Fabulierer entwickelt. War es gestern noch eine sehr reale Geschichte um eine arme, schwarze Familie, während des Hurrikans Katrina, so sind wir hier mittendrin in einer fast zeitlosen Geschichte. Es geschieht einiges, es werden jede Menge Fehlentscheidungen getroffen und doch rappeln sich Personen immer wieder auf und zusammen. Max Scharnigg hat hier ein Buch vorgelegt, das weit weg ist von all der Massenware. Ich kann das Ding gar nicht fassen. Es ist kein Märchen, dazu ist es viel zu real. Es ist aber auch keine Familiengeschichte in der Tradition von: Ein Hof, drei Generationen, 100 Jahre deutsche Geschichte. Dazu ist er viel zu versponnen. Über allem aber hängt diese Wärme, diese Zuneigung für die Personen, für die Familie, was mir so viel Vergnügen bereitet hat. Irgendwie kommt mir dabei der Film: „Moonrise Kingdom“ in den Kopf, den ich vor ein paar Wochen hier vorgestellt habe. Auch dort eine Familie auf einer kleinen, abgelegenen Insel. Auch hier eine Liebesgeschichte zwischen zwei Kindern/Jugendlichen. Und alles erzählt und gefilmt mit einer solchen Liebe, dass es nur zu machen war, in dem der Regisseur bewusst vom Realen abgewichen ist und uns in eine schöne, freundliche Scheinwelt mitgenommen hat.
Sie merken schon, ich versuche mich dem Roman auf verschieden Richtungen zu nähern, weil ich ihn nicht in einen Satz zusammenfassen kann. Was ich aber sagen/schreiben kann und will: Schnappen Sie sich dieses Buch, wenn Sie kein Fan von blutigen Krimis und exakten Geschichtsbüchern sind. Sie werden abtauchen in eine Welt des Verschwunden, des Vergangenen und sich an einiges aus Ihrer Kindheit erinnern.
Max Scharnigg liest am 8.11. um 20 Uhr im Ehinger Buchladen.
Zu Justinus Kerner erlaube ich mir auf meinen aktuellen conlibri-Blogbeitrag hinzuweisen:
http://www.conlibri.de
Oh ja, ich hab das Buch auch gelesen – und hab es, je weiter ich kam, immer mehr geliebt!