Mittwoch

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Heute haben
Georg Forster * 1754
Franz Jung * 1888
Eugène Ionesco * 1909
Geburtstag.
Und auch Charles M.Schulz und Tina Turner.


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Szilárd Borbély: „Die Mittellosen“
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Laszlo Kronitzer
Suhrkamp Verlag € 24,95

Ich kannte den Autor Borbély nicht, hatte noch nie seinen Namen gehört. In Ungarn hat er einige Gedichtbände veröffentlicht, galt als bedeutendster Lyriker des Landes und hat viele deutsche Autoren ins Ungarische übersetzt. Dieser Roman erschien 2013 in Ungarn und war dort eine Sensation. Im Frühjahr diesen Jahres hat er sich das Leben genommen.
Borbélys Grossvater war Jude und kam in Auschwitz um und dieses Anderssein steht auch im Mittelpunkt dieses Buches. Die Mittellosen sind nicht nur ohne Geld, sondern auch ohne Ansehen und Ehre.
Erzählt wird aus der Sicht eines Jungen, der eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder hat. Der Vater verdient sein Geld als Hilfarbeiter. Viel vom Gehalt kommt nicht nach Hause, da er es in der Kneipe in Alkohol umsetzt. Die Mutter ist schwer depressiv und versucht ihre Kinder und sich am Leben zu halten, in dem sie eine kleine Landwirtschaft betreibt und im Wald nach Nahrung sucht. Damit beginnt auch dieser Roman, wie der Junge frierend und schlotternd an der warmen Hand der Mutter durch den winterlichen Wald stapft. Er träumt sich weg, wird aber immer wieder in die Wirklichkeit gezerrt. Seine Mutter redet nicht viel und er weiss oft nicht, wie sie auf seine Fragen reagieren wird. Verwunderlich auch: Dass der Junge die Eltern mit „Sie“ ansprechen muss, obwohl die Handlung ab 1970 spielt.
Der Roman ist sprachlich unglaublich stark. Die beiden Übersetzer fügen immer wieder neue Wortschöpfungen ein, die dem Jungen durch den Kopf gehen. „Pfützig, Flatschen, Zundel, testieren“ sind ein paar davon. Der Junge erträgt die häusliche Gewalt kam, er ekelt sich vor der Arbeit, die zu tun hat. Wie zum Beispiel den Hühnerstall zu säuber. Er bekommt hautnah mit, wie Tiere geschlachtet und ausgenommen werden. Er erträgt die Gerüche des Hauses, des Stalles und der Menschen kaum noch.
Im Dorf ist die Familie an den Rand gedrängt. Von einer Dorfgemeinschaft kann man kaum reden. Jeder lebt für sich und arbeitet gegen den anderen. Da der Junge einen jüdischen Grossvater hat, ist das oft geflüsterte Schímpfwort Jude natürlich auch auf ihn gemünzt. Immer wieder gibt es Anklänge an die Vertreibung der Juden durch die Nazis. So haben die Dorfbewohner das Ladengeschäft des jüdischen Händlers nach seiner Deportation geplündert ohne sich in die Augen zu sehen. Gleichzeitig sind sowohl die Familie, als auch die anderen Dorfbewohner Hinzugezogene, Umgesiedelte, und ehemalige Flüchtlinge.
Borbély erzählt nicht chronologisch. Toten sind lebendig und die Lebenden sind tot, so scheint es mir fast. Und wenn dies tatsächlich ein stark gefärberter Roman ist, wie es auch in den biografischen Texten im Anhang zu lesen ist, dann kann ich sehr gut verstehen, warum der Autor unter posttraumatischen Depressionsschüben litt, wie er selber sagte. Er meinte, er sei soweit, darüber schreiben zu können. Was wohl nicht der Fall war.
Ich denke, dass dieser Roman auch in anderen Flecken Europas spielen könnte. In den armen Ecken von irland oder Portugal, oder auch irgendwo im Niemandsland in Deutschland. Er hat viel mit der ungarischen Geschichte zu tun, aber zeigt auch die Zeit der frühen siebziger Jahre, dort wo es engstirnig, ärmlich zuging und dort wo jemand sofort zum Aussenseiter gestempelt wird, wenn er nicht in die Dorfstruktur passt.
Aussenseiter sind auch die Zigeuner. Sogar der Hund der Familie heisst so. Das Geigenspiel eines Zigeuners bestärkt den Jungen in seinem Wunsch, auch Geigespielen lernen zu dürfen. Dies ist natürlich jenseits des Vorstellbaren. So ist ihm die einzige Hilfe, sich der täglichen Hölle zu entziehen, sein Rechnen mit Primzahlen. Diese Zahlen, die sich nicht teilen lassen, die ein Ganzes sind, beruhigen ihn ungemein. So eine Einheit wünscht er sich herbei, kann sie aber nirgends finden.
Ich könnte noch ewig weiterschreiben, Zitate einfügen und würde vielleicht genau das Gegenteil bewirken. Denn aus dem Zusammenhang gerissen lesen sie sich deutlich brutaler, als sie im Roman vom Jungen erzählt werden.
„Ich sehe die Sterne und den Rücken meines Vaters, wie er sich nach vorne beugt. Vom Bett aus sehe ich, wenn er sich würgend krümmt, die Venus. Der kühle Abendwind trägt den Geruch von Erbrochenem herein.“, soll hier genügen, um die verschiedenen Ebenen des Romanes zu zeigen. Die Brutalität, die Gerüche, das Derbe, aber auch die Natur, die Sehnsucht lesen sich in einem Satz und zeigen das unglaubliche Können dieses Autoren, dem ich in dieser deutschen Übersetzung viele LeserInnen wünsche.

Leseprobe

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