Mittwoch

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Heute haben
Hans Sachs * 1494
und Hanns-Josef Ortheil * 1951
Geburtstag.
Aber auch uns Uwe Seeler.
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Ich denke, ich sollte diesem Blog einen anderen Namen geben. Vielleicht „Das literarische Netz“. Immer wieder tauchen Verknüpfungen auf und lassen mich merken, dass in der Literatur im Literaturbetrieb vieles sehr eng miteinander verwoben ist

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Gestern packte ich einen Karton mit Büchern aus dem Suhrkamp Verlag aus. Mittendrin u.a. Neuauflage von Lutz Seiler, der den Deutschen Buchpreis gewonnen hat und Jürgen Becker, dem Preisträger des diesjährigen Büchner Preises.
Ich blättere im Gedichtband „pech und blende“ und bleibe bei „doch gut war“ hängen. einem Gedicht, das Lutz Seiler Jürgen Becker widmete.

“ zu atmen, aus
& ein ging die atmung im gipsschiff

& einsam wie crusoe im schiefer,
tief
im radio schlief das radiokind …
ich sah crusoe, meinen vater;“

Wer den Gewinneroman „Kruso“ von Lutz Seiler gelesen, oder über ihn gelesen hat, dem fallen sofort die Bezüge auf. Kruso, sowieso, und auch das Radio, das dauernd in der Küche dudelte, bis es mit einer Küchenutensilie ermordert worden ist. Dazu kommt noch die Widmung für Jürgen Becker, der in seinen Aufzeichnungen „Schnee in den Ardennen“ u.a. über Ahrenshoop und eine dort ansässige Künstlerin schreibt, über die uns Herr Seidel in der Buchhandlung schon einen kurzen Vortrag gehalten hat.
„Das Netzwerk, an dem die Galeristin arbeitete, dehnte sich weit und weiter aus.“
Ahrenshoop hat natürlich wieder direkt mit Uwe Johnson, Mecklenburg, den „Jahrestage“ zu tun und Jürgen Becker schreibt einige Seiten weiter vorne auch ein Kapitel über das große Werk. Er schreibt über Johnsons Umgang mit seinen Personen. Mit Gesine und Marie. Wie er sie sich ausdachte und wie sie sich während seines Aufenthaltes in New York vermenschlichtigten und selbstständig machten.
„In Mecklenburg, sagt Jörn, finde ich eine Landschaft des Verlust, den das Gedächtnis des Schriftstellers auzuheben versucht hat.“
„Ob Gesine Cresppahl mit ihrer Tochter Marie in New York noch lebt?“, schreibt Becker und berichtet, wie Johnson seiner Gesine in der 42.Straße über den Weg gelaufen ist und er sie in seinen Roman gepackt hat. Als dies geschehen war, ließen sie ihn nicht mehr los und er musste wissen, wie es ihnen nach den 1.700 Seiten ging.
„- Hello?
– Please, ähm, I’m speaking with gesine Cresspahl?
– Who are you?
– My name ist Winter, Jörn Winter, coming from Germany, and …
– What do you what?
…“
So stellt sich Jürgen Beckers Figur (Jörn Winter) ein erstes Gespräch mit Gesine vor, wenn er sie denn suchen und finden würde in ihrem Appartment im Riverside Drive. So könnte er die Biographie der beiden Damen fortschreiben, die zur Zeit des Romanes von Jürgen Becker siebzig, bzw. Mitte vierzig sein müssten.
So sind wir also mitten in den Jahrestagen, aus denen wir Ende August von 19.00 bis 1.00 in der Nacht vorgelesen haben. Und am Rednerpult hing eine Fotografie des großen Hauses, in denen die Cresspahls wohnten, das ich gemacht hatte, als ich sie in New York besuchen wollte, mich aber nicht bis zum Klingelbrett vorgewagt hatte.
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Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, sagt einst Sepp Herberger. Und nach einer schönen, vollen „Ersten Seite“ in unserer Buchhandlung, möchte ich Ihnen in den nächsten Tagen immer wieder Texte von Karen Köhler zeigen, die am Freitag, den 14.11. ab
19 Uhr aus ihrem Buch „Wir haben Raketen geangelt“ bei uns lesen wird.
Diesen Text hat sie exklusiv für die Ulmer Südwestpresse geschrieben, nachdem sie, wegen einer Krankheit, die Teilnahme am Ingeborg Bachmann-Wettbewerb absagen musste.

„Ich puller mich ein“

Protokoll eines Zweifels: Die Autorin Karen Köhler liest beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb

1
Ich habe diese Angewohnheit, mir immer das Schlimmste vorzustellen, mir mein privates Worst-Case-Scenario auszumalen, um irgendwie aufs Leben vorbereitet zu sein. Als ich eine Mail mit dem Betreff „Winkels“ von meinem Verlag erhalte, denke ich zum Beispiel, dass sich darin eine wohlformulierte höfliche Absage verbergen wird und lasse die Mail erstmal ungeöffnet in meinem Postfach liegen.

Ich kenne Hubert Winkels aus dem Fernsehen. Er ist einer der Juroren, die in Klagenfurt bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur über Texte urteilen, sie auseinandernehmen, interpretieren, analysieren, sie bei Bedarf auch verreißen oder loben, um am Ende, nach drei Tagen dann einige Preisträger zu bestimmen. Und das alles eben auch noch live im Fernsehen. Seit ein paar Jahren verfolge ich das Ingeborg-Bachmann-Wettlesen über Livestream und Twitter. Sieben Juroren laden jeweils zwei Autoren mit einem Text ein. Mein Verlag hat Winkels zwei Texte von mir geschickt.

2
Klick. Mail geöffnet. Da steht, dass Hubert Winkels mich mit einem Text einladen wird. Klagenfurt. Ingeborg-Bachmann-Preis. Wettlesen. Das, das sind die anderen, die richtigen, die echten Literaten. Das sind die Katja Petrowskajas und die Benjamin Maacks. Das bin doch nicht ich. Das muss ein Irrtum sein. Ein Scherz. Ein Missverständnis vielleicht. Kurt Felix, kannst rauskommen. Nicht lustig.

3
Vielleicht überlegt Hubert Winkels sich’s noch mal. Oder: Vielleicht kommt in den nächsten Tagen eine Mail, in der drinsteht, dass es sich um ein furchtbares Missverständnis handle, man habe die Texte verwechselt und eingeladen werden sollte eigentlich jemand anderes. Ich warte ab. Es kommt eine weitere Mail mit dem Betreff „Winkels“. Klick. Meine Agentur gratuliert mir. Ich fürchte: Spätestens in Klagenfurt wird dann rauskommen, dass ich gar nicht schreiben kann.

4
Ein paar Wochen später: Mein Telefon klingelt. Hubert Winkels ist dran. Es scheint zu stimmen. Er lädt mich zum Wettlesen ein. Ich wurde nicht vertauscht.

Holy shit. Die Worstcase-Turbine in meinem Kopf läuft: Wer sind die anderen Autoren? (Hoffentlich MitleserInnen mit Humor. Damit lässt sich vieles überstehen. Wenn schon scheitern, dann wenigstens umgeben von Intelligenz.) Was, wenn ich die Startnummer 1 ziehe und als Erste lesen muss? Wer leiht mir seine Elefantenhaut? Was, wenn ich mich einpullere, live? Oder was, wenn ich einen Migräneanfall habe? Oder Lippenherpes? Zack. Oder schlimme Schweißflecken unter den Armen? Oder Nasenbluten? Oder einen endlosen Hustenanfall? So einen hatte ich schon mal im Theater. Es war furchtbar. Oder was, wenn ich mich ständig verhasple? Wie überlebt man das? Soll man sich die Jury nackt vorstellen? Überhaupt: Was ziehe ich an? Kann man die Socken auch sehen? Wie laut soll man lesen? Muss man sein Manuskript selber mitbringen? Soll man das Wasserglas ansehen, es berühren, daraus trinken? Es exen? (Antworten bitte an @KareninaKoehler twittern)

5
Mein Vater sagt, das ist wie bei einer Olympiade: Dabeisein ist alles. Klar. An die Preise wage ich ja auch gar nicht zu denken. Die sind für die echten, richtigen Literaten. Ich will das nur überleben, will da in Würde irgendwie durch gelangen.

6
Die ersten Mails vom ORF und 3 Sat trudeln ein. Organisatorisches. Die Texte müssen in der Endfassung abgegeben werden. Porträtfilme sollen gedreht werden. In mir ist großes Widerstreben, irgendwie auf diese Art vermarktet zu werden. Ich will nicht vor der Kamera an repräsentativen Orten meiner Stadt vor einer bewegten Menschenmenge stehen. Mir Notizen machen. Oder auf meinem Sofa sitzen und über mich sprechen. Das geht niemanden was an, wie mein Sofa aussieht. Ich entscheide also: Ich will in meinem Porträtfilm gar nicht vorkommen, und bastle aus Raumfahrtarchivmaterial der 60er Jahre etwas zusammen, unterlege es mit einem Miniaturtext von mir, und hoffe, dass mir niemand dafür den Kopf abreißt.

7
Zum Glück habe ich bis kurz vor dem Wettbewerb noch einen Mount-Everest-Arbeitsberg zu erklimmen, da bleibt wenig Zeit für weitere Zweifel. (Dachte ich.) Aber sie tauchen immer wieder auf: Mein Text ist zu punk, zu wenig Literatur, zu dick zu dünn, zu dies zu das. . .

8
Die Teilnehmerliste wird veröffentlicht. Tatsächlich. Ich bin dabei. Da stehen die Namen der anderen Autoren und meiner mittendrin. Auf einige freue ich mich. Manche sagen mir nichts, so wie auch ich manchen wohl gar nichts sagen werde. Ein Bekannter fragt mich, ob ich jetzt lesen übe. Und dass die anderen Autoren jetzt meine Feinde seien. Quatsch, sage ich.

9
Auf einmal denke ich, dass meine Arbeit ja schon gemacht ist: Der Text ist ja bereits geschrieben. Er wurde ausgewählt, nun muss ich ihn nur noch vorlesen. Wer dann was dazu sagt, und wie wer das findet, das hat mit mir und meiner Arbeit nichts mehr zu tun. Das ist die Metaebene, auf der die anderen tanzen. Vielleicht gefällt er nicht, vielleicht fällt er durch, vielleicht mag ihn jemand, aber das alles kann ich nicht mehr beeinflussen, das ist Show, das ist Politik, das ist der Literaturbetrieb. Da kann ich nur zusehen, an die Heisenbergsche Unschärferelation in der Kunst denken und daran, dass die messenden Instrumente das Messergebnis bereits beeinflussen.

10
Ich rede mir ein: Toll: Österreich, Wörthersee, Schwimmen, Sonne, Kasnudeln, Ferien. . . Mein Po ist trotzdem auf Eis.

(Alle Rechte bei der SWP, Ulm und der Autorin)

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