Heute haben
Wilhelm Müller * 1794
Georg Hermann * 1871
Thomas Kennelly * 1933
Jesús Díaz * 1941
Geburtstag
Wilhelm Müller
Der Leiermann
Drüben hinterm Dorfe
Steht ein Leiermann,
Und mit starren Fingern
Dreht er, was er kann.
Barfuß auf dem Eise
Schwankt er hin und her;
Und sein kleiner Teller
Bleibt ihm immer leer.
Keiner mag ihn hören,
Keiner sieht ihn an;
Und die Hunde brummen
Um den alten Mann.
Und er läßt es gehen
Alles, wie es will,
Dreht, und seine Leier
Steht ihm nimmer still.
Wunderlicher Alter,
Soll ich mit dir gehn?
Willst zu meinen Liedern
Deine Leier drehn?
Die Menschen, die nach Ruhe suchen…
Die Menschen, die nach Ruhe suchen,
die finden Ruhe nimmermehr,
weil sie die Ruhe, die sie suchen,
in Eile jagen vor sich her.
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Katharina Hacker: „Skip„
S.Fischer Verlag € 21,99
als E-Book € 18,99
Der Umschlag des neuen Romanes von Katharina Hacker fällt ins Auge. Schwarz mit weißem Blitz. Dazu noch der kurze Titel „Skip“. Rätselhaft ist es schon immer in den Büchern von ihr. Auch ihre letzte, schmale Veröffentlichung „Eine Dorfgeschichte“ sah zwar idyllisch aus, hatte doch so seine Haken und Ösen. Mit „Die Habenichtse“ erhielt sie 2006 den Deutschen Buchpreis und las kurz vorher bei uns in der Buchhandlung. Lang ist es her und ich habe ihr Werk seidem den nicht mehr aus den Augen verloren, nicht alles kapiert und auch mal ein Buch weggelegt. Das hier interessierte mich allein wegen des Klappentextes. Skip ist der Name eines israelischen Architekten aus Tel Aviv. Somit kommt Katharina Hacker wieder zu ihren Ursprüngen zurück. Denn mit Skizzen aus dieser Stadt trat sie zum ersten Mal ins literarische Licht. Skip ist auch so ein Habenichts, einer, dem der feste Boden unter den Füßen fehlt. Wir haben hier also beide Hauptthemen aus Hackers Werk in einem Roman verbunden. Israel, bzw. das jüdischen Leben und die dazugehörende Vergangenheit und Menschen auf der Suche nach sich selbst.
Skip ist Architekt, der bekommt aber keine Aufträge für neue Häuser, sondern er darf nur renovieren. Er leidet unter seiner Familie, hat einen jüdischen Vater, aber eine nichtjüdische Mutter. Er selbst ist Vater zweier Kinder, hat sie aber nicht mit seiner Frau gezeugt, da er wohl unfruchtbar ist. Seine Frau stirbt an Krebs und er hat, während sie in der Klinik liegt, eine Affäre mit einer anderen jüngeren Frau. Katharina Hacker stellt diesen Skip in den Mittelpunkt ihres Romanes und wenn wir to skip aus dem Englischen übersetzen, heisst das soviel wie überspringen. Dieser Name nervt ihn selbst, seit er denken kann. Er weiss nicht, warum ihm seine Eltern einen solchen gegeben haben. Als Konstrukt und Teil eines Ganzen wird klar, warum die Autorin genau diesen Vornamen gewählt hat. Skip geht nicht geradlinig seinen Weg, hat keine genaue Biografie vor Augen. Skip ist hin und her gerissen zwischen seinen Zweifeln und auf der Suche nach sich, seiner Vergangenheit und auch seiner Zukunft. Er setzt seine Ehe aufs Spiel, seinen Beruf und alles, was ihm lieb ist.
Skip zieht es urplötzlich weg weit. Eine innere Stimme ruft ihn und er setzt sich in ein Flugzeug nach Paris. Nicht, um sich mit seinen Eltern zu treffen, die dort in der Nähe wohnen. Er weiss es selbst nicht, was er hier soll. Bis er mitbekommt, dass es ein großes Bahnunglück gegeben hat, mit vielen Toten. Das Gleiche passiert ihm mit einem Flugzeugabsturz in Amsterdam. Er wird an Orte gerufen, an denen großes Leid geschehen ist.
Katharina Hacker schickt diesen zerissenen Menschen auf verschiedene Reisen. Reale und fiktive im Kopf. Sie schreibt über die israelische Geschichte, jüdische Traditionen und Lehre, kommt ins Mythische, springt in den Handlungen. Skip bleibt uns immer etwas fern. Wir hoffen mit ihm, lesen aber, wie er von einem Unglück ins andere stolpert.
Katharina Hacker geht mit „Skip“ ein großes Wagnis ein, hat aber einen hochaktuellen Roman über uns Habenichtse und die Zerissenheit unserer Welt geschrieben, in dem ich nicht alles verstanden, ihn jedoch sehr gerne gelesen habe.
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Nachdem gestern abend bei uns in der Buchhandlung Tini Prüfert vom Theater Ulm ihr Knef-Lied a capella gesungen hatte, da das mit dem Playback nicht geklappt hat, versuchen wir es übermorgen mit Kai Weyand noch einmal live.
Er liest am Donnerstag ab 19 Uhr aus seinem Roman: „Applaus für Bronikowski“.
Hier ein weiterer Textauschnitt:
Jetzt gibt’s erst mal Nachtisch. Die Mutter stand auf, ging zum Kühlschrank, und bevor sie die Tür öffnete, drehte sie sich um und strich Nies übers Haar. Dann holte sie ein Tiramisu und stellte es auf den Tisch.
Der Vater stupste Nies an den Arm: Ich hätte was drum gegeben, in deinem Alter alleine wohnen zu dürfen.
Er lachte. Nies nicht. Er nahm das Schälchen mit Tiramisu und warf es aus dem gegenüberliegenden Fenster. Dann rannte er in sein Zimmer, schloss die Tür hinter sich, schmiss sich aufs Bett und ließ seinen Tränen freien Lauf. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so fremd und einsam gefühlt. Warum konnte er nicht einfach gut finden, was alle um ihn herum gut fanden? Hinter der Tür hörte er die Stimme seines Vaters.
Er wird sich beruhigen, wenn er erst die Vorteile sieht.
Es klang, als müsste Nies nur eine Rechenaufgabe lösen und eins und eins zusammenzählen. Aber wenn er das tat, eins und eins zusammenzählte, dann ergaben sich keine lustvollen Bilder eines jugendlichen Lebens ohne Eltern, sondern Vorstellungen, die er als qualvoll empfand: Kein Mittagessen, wenn er aus der Schule kam, keine saubere Wäsche, wenn er sie brauchte, dafür einen Bruder, der darauf bestand, dass er die Toilette öfter zu putzen hatte, weil er sie naturgemäß öfter benutzen würde als sein Bruder, der erst am frühen Abend von der Arbeit nach Hause kam und dementsprechend die Toilette prozentual weniger verschmutzte. Mathematisch konnte Nies seinem Bruder nicht das Wasser reichen, und da Bernd Gerechtigkeitsfragen zu Problemen mathematischer Verhältnismäßigkeiten erklärte, konnte Nies es sich sparen, darauf hinzuweisen, dass es gerecht wäre, einfach abwechselnd zu putzen.
Wer mehr isst, bezahlt mehr, wer mehr pisst oder scheißt, putzt mehr. Man konnte diese Sicht verachten, aber es war schwer, ihr etwas zu entgegnen. Bernd sah die Welt als etwas, das sich ausrechnen ließ. Jedes Ereignis ließ sich in Zahlen ausdrücken, und Gefühle waren für ihn Ausdruck von Unsicherheit, die sich leicht beheben ließ, wenn man die zugrunde liegenden Faktoren genau betrachtete. Gefühle, Meinungen waren keine Ergebnisse von Empfindungen, sondern Rechenleistungen. Wenn das Essen nicht schmeckte, rechnete Bernd nach, ob es ihm nicht doch schmecken müsste, weil es einem super Preis-Leistungs-Verhältnis entsprach. Deswegen war er vollkommen einverstanden mit der Entscheidung seiner Eltern, nach Kanada auszuwandern. Er sah den Lottogewinn als ertragreiche Geldanlage und die Auswanderung als Investment in Lebensoptimierung.