Freitag

Heute haben Marie von Ebner-Eschenbach * 1830
Sherwood Anderson * 1876
J.B.Priestley * 1894
Geburtstag
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Die Neuübersetzung von Sherwood Anderson: „Winesburg, Ohio“ von Eike Schönfeld bekam vor ein par Tagen den Christoph Martin Wieland-Übersetzerpreis.
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Wie versprochen gibt es ab heute kleine Lesehappen aus dem Buch:
„Restaurant Dalmatia“ von Jagoda Marinic, die am Do., den 26.9. bei uns in der Buchhandlung daraus vorlesen wird.

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POLAROID Berlin
28. Januar 1985

Sie schleicht ins Schlafzimmer ihrer Eltern, zur Kommode an Mutters Bettseite, macht die oberste Schublade auf und wieder zu. Die Polaroid, die darin liegt, packt sie schnell in ihren Kinderrucksack, den sie letzte Nacht noch leerräumte. Ein Blick nach links, ein Blick nach rechts, und ab über die große Kreuzung vor ihrem Haus. Eis. Überall Eis. Sie setzt die Schritte in die Asphaltlücken. Mal kleine Schritte. Mal Ausfallschritte. Kurz sicher. Dann holprig. Ein riesiger Eisberg aus Altschnee, zur Pyramide gefroren, kreuzt ihren Weg. Sie holt die Polaroid aus dem Rucksack, wählt den Ausschnitt, den sie haben will und drückt ab. Das erste Bild fährt aus dem Schlitz. Ihre linke Hand öffnet sich. Schattierungen zeichnen sich ab, erste Formen. Sie fächert das Foto durch die Luft, genau so, wie es vor ein paar Nächten noch ihre Mutter getan hat. Nein, das hier ist keine Ohrfeige wert, denkt sie, als es entwickelt ist, geht weiter, die rechte Hand in der Schlaufe, die linke fest ums Gehäuse. Das erste Mal auf Berliner Straßen, ohne dass einer wüsste, wo sie ist, wohin sie will oder wann sie zurück sein wird. Ein Horn bläst. In ihrem Kopf? Sie beeilt sich, biegt um die Ecke, dorthin, wo sie das Horn, das eben noch in ihrem Kopf nachklang, vermutet. Es zittert unter ihr. Der Boden zittert, denkt sie. Sie fällt. Nach wenigen Sekunden kommt sie zu sich, vergewissert sich der Kamera, die sie mit der rechten Hand fest gegen den Bauch gepresst hält. Das zweite Bild noch, denkt sie, das zweite Bild! Sie fokussiert die Stelle, an der eben noch, hinter der Mauer, der Kirchturm umgefallen ist. Und drückt ab. Das Bild gleitet aus der Polaroid. Diesmal fächert sie es gleich durch die Luft, hastig, kann nicht lange warten. Eilt nach Hause, bevor sie es sich in Ruhe ansieht. In der Wohnung ist noch niemand. Die Polaroid verschwindet wieder in der Schublade, die Tür zum Schlafzimmer bleibt einen kleinen Spalt offen. Alles, wie es war. Nur das Bild liegt nun in einem ihrer Bücher.
Ihr Vater sitzt auf dem Sessel im Wohnzimmer und wartet wie jeden Abend auf die 20-Uhr-Nachrichten. Sie hockt vor ihm auf dem Boden, den Rücken an seine Beine gelehnt, den Kopf in der Lücke zwischen seinen Knien. Da! ruft sie, den Zeigefinger schon auf den Bildschirm gerichtet. Sie verschluckt den restlichen Satz gerade noch rechtzeitig, als ihr Vater ihre Hand aus seinem Sichtfeld schiebt. Die Versöhnungskirche sei gesprengt worden. Das Mädchen sieht die Kirche, all die Bilder bis zu jenem Moment, an dem sie um die Ecke bog. Sie wendet den Blick vom Bildschirm ab, liest im Gesicht ihres Vaters, der gebannt verfolgt, wie die Kirche in der Bernauer Straße in sich zusammenfällt. Was er da sieht, gefällt ihm nicht, glaubt sie. Im Gesicht ihres Vaters ist schwer zu lesen. Er zieht an seiner Zigarette. Das sicher. Der Rauch löst sich nur langsam über ihrem Kopf auf.
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Auf dem Filmfestival in Venedig wurde der Film „Sacro GRA“ über einen Autobahnring in Rom mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.
Ich bin gespannt, ob er den Weg nach Ulm findet.

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Nach Rom, der alten Sehnsuchtsstadt, jetzt ein Buch über eine Sehnsuchtsstadt des 20.Jahrhunderts.

NY

Susanne Lehmann-Reupert:Von New York lernen
Mit Stuhl, Tisch und Sonnenschirm
Vorwort von Andres Lepik
Text von Susanne Lehmann-Reupert
Fotografien von Susanne Lehmann-Reupert
Gestaltung von Hannes Aechter
Hatje Cantz Verlag € 16,80

New York als Vorbild einer nachhaltigen Stadtentwicklung.
Der alternative Reiseführer in die Weltstadt.
Das Ganze kommt als broschürtes Taschenbuch daher. Wer also einen Bildband in der Art des Verlages Hatje Cantz erwartet hat, wird enttäuscht sein. Wer jedoch ein Buch über Veränderungen in einer großen Stadt lesen will, über Veränderungen zum Wohle der Menschen dort, der wird hier bestens bedient.
Ich habe mir das Buch vor Wochen vorbestellt, weil ich einen Reiseführer der anderen Art vorgestellt habe. Was ich dann aber zum Lesen bekommen habe, hat mich wirklich umgehauen. Immer wieder musste ich an Ulm denken, die Stadt, in der ich seit 30 Jahren arbeite. Mir fallen Veränderungen auf, die so ganz anders hätten verlaufen können, wenn ich an das Modell New York denke. Sie werde sagen, naja New York hat auch ein paar Einwohner mehr. Ja, das stimmt und deshalb stellt Susanne Lehmann-Reupert hinter jedes Kapitel den Satz: „Aber wie können wir denn von New York City lernen, wenn wir nicht New York City sind“ und führt dann spezielle Dinge aus, die sehr wohl auch in Ulm umsetzbar sind.
Die Architektin Susanne Lehmann-Reupert geht auf ihren Streifzügen, etwa von Dumbo über Brooklyn Bridge Park nach Red Hook und von der High Line bis zum Bryant Park, den Veränderungen im öffentlichen Raum nach. Sie entdeckt neue Erholungsflächen an Hudson und East River oder Dachgärten und Stadtfarmen und erkennt hinter den sichtbaren Qualitätsverbesserungen eine klare Strategie der Rückbesinnung auf die Tradition des bürgerschaftlichen Engagements. Gerade diese Verbindung von Privatem und Städtischem macht den Erfolg aus. So bekamen zwei Personen aus New York City einen Preis für ihr gemeinsames Engagemant zur Verbesserung der Stadt. Eine städtische Angestellte und eine Person aus einer Initiative. Ich denke, dass so etwas Neues, Gutes entstehen kann.
Wie schafft es New York City zum Beispiel hunderte von Kilomter von Redwegen hervorzubringen und wir hier in Ulm bekommen plötzlich weiße Striefen auf die Straße gemalt, die einen neuen Radweg anzeigen und einfach nur die Autowege verschmälern? Es wird aber nicht daran gedacht, dass Autos auf dieser Fahrbahn automatisch auf diese Radwege kommen und Radler so kanpp an parkenden Autos vorbeifahren müssen und jede aufgehende Autotür als Absprungschanze erleben.
Wie wird zum Beispiel aus dem Bryant Park, der vor Jahren noch von kriminellen berherrschat worden ist, ein Kleinod, wie ich es selten erlebt habe? Es sind ein paar wenige Tricks, die die Autorin anführt, die so klar auf der Hand liegen und aus dem Park wird eine Begegnungsstätte, auf der sich täglich tausende Menschen treffen und sich ausruhen.
Das, was wir mittlerweile urban gardening nennen, nimmt einen großen Teil des Buches ein. Sie schildert den Beginn der Stadtgarten-Bewegung, sie stellt ein paar Dachgärten vor. Wobei hier wirkliche Farmen, Bauerhöfen gemeint sind, die Flächen so große wie Fußballfelder haben und ihre Produkte professionell verkaufen. Greenmarkets, also unsere Wochenmärkte, schießen aus dem Boden und auch hier nennt sie ein schönes Beispiel: Verkauft werden hier Produkte, die nicht von weiter als 110 km herkommen. Somit werden die Anbauer aus der Region gefördert und wir bekommen eine wirkliche Alternative zu den Supermärkten.
Susanne geht auf’s Wasser und schreibt, dass dies zum sechsten Stadtteil der Stadt ernannt worden ist. Welche positiven Veränderungen damit einhergehen erfahren wir in einem extra Kapitel. Und über allem steht diese Verbindung zwischen persönlichem, privatem Engagement und der Stadtverwaltung. Ich denke, anders ist es auch nicht möglich, Veränderungen durchzusetzen, die dann auch in der Bevölkerung ankommen. Wie soll es sonst vorstelltbar sein, dass jeder Bürger in NYC innerhalb von 10 Minuten einen Park vorfinden soll. Es sind oft ganz einfache Dinge, die als Vorgaben dienen und die bei mir ein großes „Ja, genau! Wie schlau!“ hervorgerufen haben. So dürfen Bürokomplexe,oder Banken eine bestimmte Länge an der Straße nicht überschreiten und müssen durch kleine Läden, Bars, … unterbrochen werden. Worum? Es dient der Sicherheit, wenn wir nachts durch die Straßen gehen und alles ist dunkel. Wenn jedoch Lichter brennen, Menschen sich noch bewegen, ist einiges gewonnen.
Schön wäre es, wenn die entscheidenten Personen in der Stadtverwaltung dieses Buch in Händen halten würden und es auch lesen würden. So viele tolle Beispiel sind hier aufgeführt, dass ich noch seitenlang darüber schreiben könnte. Und wie einfach es gehen kann, zeigt schon allein der Untertitel: „Mit Stuhl, Tisch und Sonnenschirm“.            Kommen Sie einfach in den Laden und schauen Sie es sich an.

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