Heute hat
Grazia Deledda * 1871
Geburtstag.
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Johann Wolfgang von Goethe
Der Herbst ist immer unsere beste Zeit
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Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019 ist heraus. Am Montag, den 14.Oktober wird das Siegerbuch bekannt gegeben. Und wir veranstalten am kommenden Dienstag, den 1.Oktober ab 19 Uhr unser traditionelles Shortlist-Lesen.
Clemens Grote liest aus jedem nominierten Buch und danach stimmen wir ab.
Das Ergebnis leiten wir an die Jury weiter, damit die dort wissen, wo in Ulm der Hammer hängt.
Wenn Sie keine Zeit zum Kommen haben, dann stimmen Sie doch per Mail (info@jastram-buecher.de) oder hier über die Kommentarfunktion ab.
Ihr Votum zählen wir dann zu unserem Ergebnis dazu.
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Hier kommen die sechs Bücher:
Raphaela Edelbauer: „Das flüssige Land“
Der Unfalltod ihrer Eltern führt die Physikerin Ruth nach Groß-Einland – ein geheimnisvoller Ort, unter dem sich ein riesiger Hohlraum erstreckt. Das Loch scheint das Leben der Bewohner auf merkwürdige Weise zu bestimmen, doch keiner will darüber sprechen. Nicht einmal, als klar ist, dass die Statik des gesamten Ortes bedroht ist. Wird das Schweigen von der Gräfin der Gemeinde gesteuert? Welche Rolle spielt Ruths eigene Familiengeschichte? Ruth ahnt bald, dass die Strukturen im Ort ohne die Geschichte des Loches nicht zu entschlüsseln sind.
Kommentar der Jury:
„Das flüssige Land“ ist ein ebenso eindrückliches wie fantastisches Debüt – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Dieser Roman führt in eine kafkaeske Topografie, in einen Ort namens Groß-Einland, der auf keiner Karte verzeichnet ist und aus dem keine Straße herausführt. Er wird von einem gigantischen, sich ständig ausdehnenden Abgrund unterhöhlt – was dazu führt, dass in dieser Welt alles ins Rutschen gerät: Gebäude, Menschen, aber auch jedes Raum- und Zeitbewusstsein. Raphaela Edelbauer schafft eine Art Super-Metapher, die auf virtuose Weise die physikalische, die psychische, die historische und auch die sprachliche Welt in ihren Abgründigkeiten verbindet. Das ist unheimlich, das ist spannend, das ist aberwitzig und kaum zu fassen – eben einfach fantastische Literatur.
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Miku Sophie Kühmel: „Kintsugi“
Es ist Wochenende. Ein Haus an einem spätwinterlichen See, das Licht ist hart, die Luft ist schneidend kalt, der gefrorene Boden knirscht unter den Füßen. Reik und Max feiern hier ihre Liebe, die nun zwanzig ist. Eingeladen sind nur ihr ältester Freund Tonio und seine Tochter Pega, so alt wie die Beziehung von Max und Reik. Sie planen ein ruhiges Wochenende. Doch ruhig bleibt nur der See.
Kommentar der Jury:
„Kintsugi“ ist ein psychologisches Kammerstück, ein Ensembleroman auf märkischem Sand. Vier Menschen, drei Männer und eine junge Frau kommen für ein Wochenende auf einem Landhaus zusammen. Und sie erzählen jeweils mit eigener Stimme und Perspektive. Das Liebespaar Max und Reik, der bisexuelle Tonio und Pega verhalten sich zueinander wie jene Porzellanscherben, die durch die japanische Kunsthandwerkstechnik Kintsugi mit Gold in ihren Zusammenhalt gekittet werden: belebende Risse und Schönheit des Makels. Ein äußerst gegenwärtiger Roman von hohem Lesevergnügen, der nach heutigen Liebes- und Lebenskonzepten fragt, nach Elternschaft, Sexualität, Erfolg, Karriere und Bindungen.
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Tonio Schachinger: „Nicht wie ihr“
Ivo wusste immer schon, dass er besonders ist. Besonders cool, besonders talentiert, besonders attraktiv. Jetzt ist er einer der bestbezahlten Fußballer der Welt. Er fährt einen Bugatti, hat eine Ehefrau und zwei Kinder, die er über alles liebt. Doch als seine Jugendliebe Mirna ins Spiel kommt, gerät das sichere Gerüst ins Wanken. Wie koordiniert man eine Affäre, wenn man keine Freizeit hat? Lässt Ivos Leistung auf dem Spielfeld nach? Und was macht eigentlich seine Frau, während er nicht da ist?
Kommentar der Jury:
Das einzige, das Ivo immer gut konnte, war Fußballspielen und nun spielt er, der in Wien immer nur einer der vielen „Jugos“ war, in Everton, verdient 100.000 Euro die Woche, ist mit einer schönen Frau verheiratet, hat zwei entzückende Kinder und teilt mit uns seine Sicht auf die Welt: liebenswert und überheblich, naiv und berechnend, charmant und bitterböse. Doch „Nicht wie ihr“ ist viel mehr als ein Roman über die Welt des Spitzensports: Zugehörigkeit, Migration, die ständige Angst vor dem Abstieg, Männlichkeitsideale und nicht zuletzt Liebe werden hier zwischen Fußballrasen, Umkleidekabinen, Luxushäusern und teuren Autos völlig unverkrampft verhandelt. Begeisternd ist zudem die Boxkraft des Tons und die Stilsicherheit des Autors, sein Gespür für Milieus, Jargons, Stimmungen, Tragikomik.
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Norbert Scheuer: „Winterbienen“
Die Eifel im Januar 1944: Egidius Arimond, ein frühzeitig aus dem Schuldienst entlassener Latein- und Geschichtslehrer, schwebt wegen seiner Frauengeschichten, seiner Epilepsie, aber vor allem wegen seiner waghalsigen Versuche, Juden in präparierten Bienenstöcken ins besetzte Belgien zu retten, in höchster Gefahr. Seine Situation wird nahezu ausweglos, als er keine Medikamente mehr bekommt, er ein Verhältnis mit der Frau des Kreisleiters beginnt und schließlich bei der Gestapo denunziert wird.
Kommentar der Jury:
Der Handlung liegen fiktive Tagebuchaufzeichnungen aus den Kriegsjahren 1944/45 zugrunde, die angeblich Egidius Arimond, ehemaliger Lehrer, Bienenzüchter, Frauenheld und Epileptiker, hinterlassen hat. Präzise und spannend entwickelt Norbert Scheuer die Geschichte seines Antihelden, der Juden in Bienenkörben über die belgische Grenze schmuggelt, um damit Geld für seine Medikamente zu verdienen, und also nicht aus hehren Gründen, aber auf seine Art dem Regime die Stirn bietet. Egidius wird Zeitzeuge und Chronist einer durch Bombenangriffe versehrten Landschaft und der damit verbundenen Zerstörung natürlicher und menschlicher Ordnung. Und das geschieht auf eine fast verhaltene Weise, die den introvertierten Egidius dann doch zu einem „Helden“ werden lässt, der sich seinem Schicksal nicht entziehen kann.
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Saša Staniši: „Herkunft“
Über den Zufall, irgendwo geboren zu werden, und was danach kommt. Der Sommer, als der Junge fast ertrank. Der Sommer, in dem Angela Merkel die Grenzen öffnen ließ und der dem Sommer ähnlich war, als der Jugendliche über viele Grenzen nach Deutschland floh. Ein Flößer, ein Bremser, ein bosnischer Polizist, der gern bestochen werden möchte. Eine Grundschule für drei Schüler. Ein Nationalismus. Ein Yugo. Ein Tito. Ein Eichendorff. Ein Saša Stanišić.
Kommentar der Jury:
Ein autobiographischer Roman über die Frage unserer Zeit, eine Selbstbefragung in Fragmenten und Arabesken: über Geschenk und Bürde der Herkunft, über das Finden einer neuen Sprache, mit einem Kern, „hart wie der einer Pflaume“, und über das Werden eines Schriftstellers. Auf verschlungenen Wegen führt Herkunft uns nach Višegrad, Bosnien, in das Dorf der Großeltern und nach Heidelberg, wo der Halbwüchsige als Kriegsflüchtling landete. Verschmitzt und behände bleibt der Erzähler stets auf der Hut vor sich selber, mit Klugheit, Humor und Sprachwitz, ohne „Zugehörigkeitskitsch“ und Opferpathos. Sein berückendes Vergnügen am Erzählen macht die bleischweren Themen federleicht – Wundbehandlung mit den Mitteln der Literatur.
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Jackie Thomae: „Brüder“
Sie sind Kinder desselben Vaters, den sie nicht kennen. Mick lebt frei von Verbindlichkeiten. Dass die Welt sich ändert, registriert er so zerstreut wie einen neuen Tag, wenn er blinzelnd aus dem Club stolpert. Gabriel ist erfolgreicher Architekt, eingefleischter Londoner und Familienvater. Doch dann verliert er in einer banalen Situation die Nerven und steht als Aggressor da. Die Fragen, die sich den beiden Männern stellen, sind dieselben. Ihre Leben könnten nicht unterschiedlicher sein.
Kommentar der Jury:
„Brüder“ ist ein groß angelegter Roman, den man in einer amerikanischen Erzähltradition verorten kann, der aber mit seinem ungewöhnlichen Plot über zwei sehr konträre Brüder eines afrikanischen Vaters von deren Kindheit in der DDR in die weite Welt bis nach London, Paris und Südamerika führt. Völlig unaufgeregt werden Themen wie Hautfarbe, Erfolg, Liebe, die Frage nach dem richtigen Leben und vor allen Dingen die Bedeutung von Schicksal, Herkunft und Prägung verhandelt. Man liest in „Brüder“ eine sehr spannende Geschichte, aber Jackie Thomae gelingt es mit Leichtigkeit, geradezu nebenher existenzielle Fragen und Themen einzuflechten.