Donnerstag 4.Februar

Heute haben
Pierre Marivaux * 1688
Friedrich Glauser * 1896
Jacques Prévert * 1900
Dietrich Bonhoeffer * 1906
Alfred Andersch * 1914
Betty Friedan * 1921
Werner Schwab * 1958
Stewart O’Nan * 1961
Geburtstag
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Das Allerschwerste dünkt mich immer, einen ganz fremden Standpunkt gelten zu lassen.
Friedrich Glauser
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Sarah Wiltschek empfiehlt:


Christina Hesselholdt: „Vivian
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Hanser Berlin € 21,00

Der Roman von Christina Hesselholdt begibt sich auf die Spurensuche nach einer Frau, die mittlerweile mit bekannten Fotografien, vornehmlich mit dokumentarischen Straßenszenen und Portraits, in Verbindung gebracht wird. Was keinesfalls selbstverständlich ist, da Vivian Maier (1926-2009) zeitlebens nur im Privaten fotografierte und nie damit in die Öffentlichkeit ging. Ein Großteil ihrer später entdeckten Filmrollen wurde nie von ihr entwickelt. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Romans waren gerade mal zwei Drittel ihrer etwa 200.000 Bilder gesichtet worden.
Anhand nur wenig vorhandenem biografischen Material versucht die Autorin die fotografische Obsession und das Leben Vivian Maiers zu erfassen. Dabei konzentriert sie sich größtenteils auf ihr erwachsenes Leben und Arbeiten als Kindermädchen. In diesem Setting macht Hesselholdt eine Frau sichtbar, die sich nur sich selbst verpflichtet sieht, vollkommen unabhängig jedweder Konvention agiert, zeitlebens alleinstehend, getrieben von einem unbändigen Schaffensdrang durch die Straßen eilt, die Kamera um den Hals, das ihr anvertraute Kind im Schlepptau.
Ein Schreckensmoment für die Gast-Familie stellt sich ein, als Vivians, sonst verschlossene, Zimmertür eines Tages offensteht und den Blick freigibt auf ein hehres Chaos aus alten Zeitungen und zusammengetragenen Fundstücken, das gerade noch Platz zum Schlafen ausspart. Im Laufe ihres Lebens wird Vivian Maier Garagen und Depots anmieten, um die schier irre Masse an gesammeltem „Schrott“ irgendwo unterzubringen.
Die Autorin hält sich zurück mit Interpretationen und psychologischen Deutungen und überlässt das Erzählen den verschiedenen Protagonisten aus Vivians Maiers Leben, die dabei vor allem mit ihrem eigenen Leben beschäftigt sind. Und Vivian selbst, deren Namen sich ändert, je nachdem wie sie sich gerade fühlt, wo sie sich aufhält, was das Ziel ihrer Unternehmung ist. Von Viv, über Vivien, bis Mrs. Maier. Dies ist vermutlich biografisch belegt und zeigt wie sich ein Mensch hinter Namen verstecken, sich sogar negieren kann. Die Einsamkeit scheint Maier eine ewige Begleiterin gewesen zu sein. In all ihrer Ambivalenz.
Ein schöner Kunstgriff ist da die Rolle des Erzählers, der sich immer wieder einklinkt und die Spurensuche der Autorin reflektiert. Dadurch nehmen wir einerseits teil an den biografischen Ausgrabungen der Autorin und erleben wie sich, auf dem Hintergrund einer zutiefst zerrütteten und sozial abgehängten amerikanischen Einwanderfamilie, eine solche Persönlichkeit herausgebildet haben könnte. Gleichsam aber wird klar, dass biografisches Erzählen immer nur eine Annäherung sein kann und immer Fiktion bleiben wird.
Der Roman erzählt Vivian Maier als einen Menschen, der eigentlich nirgends hineinpasst. So skurril, anstößig und nahezu empathielos, dass es fast schon verwundert, wie sie doch die Sympathien ihrer Mitmenschen erhält, die sie versuchen zu schützen und ihr beizustehen. Am Ende werden sich ehemalige Ziehkinder um die verarmte Vivian Maier kümmern und ihr eine sichere Bleibe besorgen.

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