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Geburtstag
und es ist der Welttag des Buches.
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Ich freue mich riesig, ein neues Gedicht von Rok hier zu veröffentlichen.
Morgen kommt das nächste.
auf brücken schlafen
warten
auf
millionen
von
sternen
dass
sie
fallen
warten
rok
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Und nicht nur ein neues Gedicht gibt es zum Welttag des Buches, sondern auch einen neuen Ulm-Krimi, der im April 1945 spielt.
Helmut J. Bicheler: „Rache“
Zum Buch
Der Kriminalroman beruht in Teilen auf einer wahren Geschichte. Das heißt: Manches ist wirklich so geschehen, manches hätte so geschehen können, manches wurde so kolportiert, und wiederum manches ist einfach nur der Phantasie des Autors entsprungen. Die Namen der Personen sind frei erfunden – mit Ausnahme der Personen der Zeitgeschichte.
Zum Autor
Helmut J. Bicheler ist in den 40er Jahren in der Ulmer West-stadt aufgewachsen. Als gelernter Buchhändler hat es ihn später in die Verlagsbranche gezogen, wo er bis zu seiner Rente ar-beitete. Er lebt im Allgäu und im Piemont. Dieser Kriminalroman ist sein erstes größeres Werk.
Der Autor bedankt sich vor allem bei seinen Lektoren. Finden sich keine Fehler, ist das ihr Verdienst. Tauchen dennoch Fehler auf, so ist das einzig und allein die Schuld des Autors. Dank geht auch an Rudi Kübler, Dr. Andreas Lörcher und Karl Ulrich Scheib, ohne deren Veröffentlichungen die Idee zu diesem Buch nicht entstanden wäre, sowie an das Grafik-Büro mack&mack.
Copyright © Ulm 2020 by Edition Ulm-Krimi
Alle Rechte vorbehalten
Gestaltung: mack&mack, ulm
Herstellung: Digitaldruck Leibi.de, www.leibi.de
Helmut J. Bicheler: „Rache“
Kriminalinspektor Hintz und der tote Franzose
Edition Ulm-Krimi
Im Moment nur in der Kulturbuchhandlung Jastram für € 10,00 erhältlich.
Die Rache ist mein.
Ich will vergelten.
(5. Mose 32)
April 1945: US-amerikanische Truppen marschieren in Ulm ein .
Der Krieg in der Donaustadt ist beendet.
In Söflingen passiert drei Tage später ein abscheulicher Mord an zwei Jugendlichen. Wer steckt hinter dieser Tat? Und was hat der Mord mit einem toten Franzosen zu tun?
Kriminalinspektor Albert Hintz ermittelt.
Prolog
Als die ersten US-Truppen in die Stadt vorrückten, war es 12 Uhr mittags. Kleine Einheiten, sechs bis acht Mann, kamen von Westen her, durchkämmten die Straßen und durchsuchten die Häuser. Eine gespenstische Stille herrschte, unterbrochen von einzelnen Schüssen. Die Menschen, die nicht aus der Stadt geflohen waren, saßen hoffend und bangend in den Bunkern, und wer dort keinen Platz gefunden hatte, hoffte und bangte in der eigenen Wohnung. Und hängte ein weißes Leintuch aus dem Fenster.
Kriminalinspektor Albert Hintz stand am Fenster seines Büros im Neuen Bau. Am Vormittag noch hatte er dumpfe Detonationen im Abstand von mehreren Minuten gehört – und dann auch riesige Staubwolken über der Donau aufgehen sehen. Hatten die Offiziere also doch die Brücken sprengen lassen! War das wirklich auch noch nötig, nach all den Bombenangriffen, die Ulm in ein Trümmerfeld verwandelt hatten? Hintz schüttelte den Kopf. Dann räumte er den Schreibtisch auf, schloss die Schubladen, legte seine Pistole neben den Dienstausweis und setzte sich auf seinen Stuhl. Sein Blick fiel auf den Abreißkalender an der Wand gegenüber, das Blatt zeigte: Dienstag, 24. April 1945. Der Inspektor fragte sich, ob er dieses Büro noch einmal sehen würde.
Drei Tage später zog Hintz wieder in sein Büro ein; die Pistole lag nicht mehr auf dem Schreibtisch. Sämtliche Waffen hatten abgegeben werden müssen; zwei lange Tage waren er und seine Kollegen in der Wagnerschule interniert – nicht wissend, was die Amerikaner mit ihnen vorhatten. Dann wurden sie entlassen, um weiterhin Dienst zu tun. Ohne Waffe, ohne Uniform. Also auch ohne Macht.
Seine erste Amtshandlung bestand darin, die Kalender-blätter vom 25. und 26. April abzureißen, zu zerknüllen und in den Papierkorb zu werfen. Und dann wartete Hintz.
1.
Hatte er nicht Tote genug gesehen in den letzten Monaten? Menschen, die nicht mehr wie Menschen aussahen. Verstümmelt. Ohne Arme. Ohne Beine. Ohne Köpfe. Manchmal war nur ein Torso übriggeblieben. Manchmal noch weniger. Ein verkohlter Haufen, aus dem ein angesengter Knochen herausragte. Teile eines Schulterblatts. Dazwischen der Bügel einer Brille, die Klinge eines Taschenmessers. Und wenn er Glück hatte – aber wer wollte angesichts dieses Infernos schon von Glück reden –, vielleicht ein Stück Stoff oder eine Gürtelschnalle. Dann war es vielleicht möglich, das Häufchen Mensch zu identifizieren.
Nicht nur nachts holten ihn die Bilder ein. Sondern auch tagsüber. So wie jetzt, da er mit seinem alten Rad nach Söflingen fuhr. Ein anonymer Anrufer hatte am späten Abend des 27. April zwei Leichen auf dem Söflinger Friedhof gemel-det. Nun waren Leichen auf dem Friedhof etwas durchaus Alltägliches, diese beiden aber eher nicht, wie ihm sein direkter Vorgesetzter Kriminalrat Braun heute Morgen bedeutet hatte. Und so trat der Kriminalinspektor in die Pedale, lenkte sein Fahrrad mit der linken Hand – die rechte war ihm zusammen mit dem Arm an der Ostfront abhandengekommen – in den Vorort im Ulmer Westen. Zwischen Ruinen hindurch, an Bombenkratern vorbei.
Schaute er nach rechts, sah er Tote. Schaute er nach links, sah er Tote. Sollte das nie aufhören? Wieder und wieder geisterten sie durch seinen Kopf, all die Menschen, die in den Kellern Zuflucht gesucht hatten und dort umgekommen waren. Sie saßen äußerlich unversehrt nebeneinander auf Stühlen, Bänken oder Apfelkisten. Die Mutter mit ihrem Kind, die alte Bäckersfrau, bei der er morgens, als das Leben noch einigermaßen normal gelaufen war, Brezeln gekauft hatte. Sie hatte ihn immer freundlich gegrüßt. Jetzt saß sie da, ein dunkles Rinnsal zwischen dem linken Mundwinkel und dem Kinn. Blut, getrocknetes Blut. Die Alte war tot, die Mutter und ihre Tochter ebenfalls.
Der Blockwart, der neulich einen Nachbarn wegen Erzählens eines Hitler-Witzes hatte anzeigen wollen, saß zusammengesunken in der Ecke. Den Helm schief auf dem Kopf. Huber hieß der Typ, an den Vornamen erinnerte er sich nicht mehr. War auch nicht wichtig. Der Widerling war tot. Im Keller nebenan lehnte der Witze-Erzähler an der Kartoffel-horde. „Wie soll der deutsche Arier sein? Blond wie Hitler, groß wie Goebbels, schlank wie Göring.“ Die Anzeige des Blockwarts hatte er zwar aufgenommen, aber dann in den Papierkorb geworfen. Der Witz war einfach nicht gut, vor allem: Er war alt. Aber deswegen hatte der Witze-Erzähler nicht sterben müssen. Ihm hatte es wie den anderen vier Menschen im Keller die Lunge zerrissen – eine Luftmine.
Wie Albert Hintz die letzten Meter hinter sich gebracht hatte? Er wusste es nicht. Wie in Trance lehnte er sein Fahrrad an die Mauer der St. Leonhards-Kapelle, ging durch das schmiedeeiserne Tor und sah von weitem den Kollegen Wümmer, der ihm Handzeichen gab. Was heißt Handzeichen: Dieser Depp! Dieser Volldepp! Wümmers rechter Arm ging nach oben. Dass er nicht noch „Heil Hitler!“ brüllte, war alles. Wümmer war dümmer, als die Polizei erlaubte. Dass der bei der Polizei gelandet war, auch noch bei der Abteilung V, der Kriminalabteilung, warf ein bezeichnendes Licht auf die Di-rektion, die ein Sammelbecken für Parteigänger darstellte. Dass Wümmer es zum Kriminalassistenten gebracht hatte, kam dennoch einem Wunder gleich. Selbst die Kollegen von der Abteilung VII, der Sanitätsdienststelle, hatten abgewinkt, als er dort nach einer Verwendung nachgefragt hatte. Wäre es nach Hintz gegangen, dann wäre Wümmer Kriminalassistenten-anwärter im Vorbereitungsdienst geblieben – auf Lebenszeit. Aber es kam anders: Jetzt hatte er diese Intelligenzbestie am Hals.
„Mensch, Wümmer, runter mit dem Arm! Aber schnell! Wenn das die Amis sehen!“
„Welche Amis? Die sind doch nicht hier in Söflingen.“
„Doch, die patrouillieren in der ganzen Stadt. Hast du nicht gehört, was Polizeirat Frank vorgestern vor den Kollegen gepredigt hat: ,ganz normal Dienst schieben, bloß nicht auffallen‘.“
„Ich kann halt auch nicht so schnell aus meiner Haut. Irgendwie geht der Arm halt automatisch nach oben nach zwölf Jahren ,Heil Hitler‘. Das kann dir nicht passieren, du hast keinen rechten Arm mehr.“
„Wümmer, reiß dich am Riemen!“
Karl Wümmer trat einen Schritt zur Seite. Jetzt war Hintz derjenige, der sich am Riemen reißen musste. Alles krampfte sich in ihm zusammen. Er schnappte nach Luft, sein Magen revoltierte. Auf einen solchen Anblick war er nicht vorbereitet. Die beiden Leichen, die vor ihm in dem Leiterwagen lagen, waren übelst zugerichtet. Das waren keine Bombenopfer, das sah er auf den ersten Blick. Hier waren brutale Totschläger am Werk gewesen; der SS hätte er ein solches Verbrechen sofort zugetraut. Was er in Russland hatte mitansehen müssen, war an Abscheulichkeit nicht zu überbieten.
Wie alt die beiden Opfer waren, konnte er nicht sagen. 18, vielleicht 20. Der Inspektor trat näher heran, der Schädel des einen war völlig zerschlagen. Eine Augenhöhle war leer, das andere Auge starrte in den Himmel. Ein Gesicht war beim besten Willen nicht mehr zu erkennen. Überall Blut, fest-getrocknetes Blut, und was der Körper sonst noch alles an Flüssigkeiten hergegeben hatte im Moment seines Ablebens. Der Kopf des anderen hatte auch Prügel abbekommen, nicht ganz so viel. Die Todesursache war klar, als Hintz den Schädel vorsichtig auf die andere Seite legte: ein Einschussloch an der Schläfe.
Hintz hätte kotzen können, am frühen Morgen, auf nüchternen Magen. Der Kriminalinspektor holte sein Notiz-buch hervor, suchte in seiner Jackentasche nach einem Bleistift. Es half ja alles nichts. Er legte das Buch auf einen Grabstein und begann loszukritzeln. Mit links. Das hatte er in den vergangenen zwei Jahren mühsam erlernen müssen.
„Wümmer, hast du ihre Taschen durchsucht?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Dachte, ich warte auf dich“, sagte er und fügte verlegen hinzu, „wollte nichts falsch machen.“
„Dann schau bitte jetzt nach!“
Wümmer verzog das Gesicht und begann widerwillig, die Hosen- und Jackentaschen zu durchsuchen. Der Versuch, sich dabei die Hände nicht schmutzig zu machen, misslang gründ-lich.
„Nichts. Und was jetzt?“, fragte Wümmer und wischte die Hände an seiner Hose ab.
Na prima, dachte Hintz und blickte angewidert auf Wüm-mers Hose. Das würde riechen. Die Leichen würden ebenfalls beginnen zu riechen, sie konnten hier nicht bleiben.
„Lauf doch mal zum Gasthaus ,Zum Schatten‘ in der Weihgasse. Der Wirt hat ein Telefon. Ruf im Neuen Bau an und sag denen Bescheid, sie sollen die beiden Toten ins Leichenschauhaus bringen. Wir sehen uns in der Direktion.“
Wümmer schlich los, der schnellsten einer war er nicht. Hoffentlich findet er den „Schatten“, dachte sich Hintz und steckte sein kleines Buch wieder ein. Der ist so blöd und läuft zum Wirtshaus „Zur Sonne“. Mehr als das Datum, die Uhrzeit und die vermutlichen Todesursachen hatte er nicht notiert: „Samstag, 28. April 1945, 8.45 Uhr, Friedhof Söflingen. Zwei Leichen: Schädelbruch, Kopfschuss.“
Der Kriminalinspektor ging zurück zur Leonhards-Kapelle – und blieb fassungslos stehen. Sein Fahrrad war weg. Gestohlen. Das gute, schwarze, alte, das seinem Vater gehört hatte. Himmel, Arsch und Zwirn. Was für ein beschissener Morgen!
…… Morgen folgt Kapitel 2.