Gestern im Duden Lyrikkalender gefunden:
Joachim Ringelnatz
Überall
Überall ist Wunderland.
Überall ist Leben.
Bei meiner Tante im Strumpfenband
Wie irgendwo daneben.
Überall ist Dunkelheit.
Kinder werden Väter.
Fünf Minuten später
Stirbt sich was für einige Zeit.
Überall ist Ewigkeit.
Wenn du einen Schneck behauchst,
Schrumpft er ins Gehäuse.
Wenn du ihn in Kognak tauchst,
Sieht er weiße Mäuse.
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Fatma Aydemir: „Ellbogen„
Hanser Verlag € 20,00
Dieser erste Roman der Journalistin Fatma Aydemir ist wirklich bemerkenswert. Die Autorin schafft den Spagat zwischen schnoddrigem Berliner Türkenslang und existentiellen Problemen und Sorgen, die die 18jährige Hazal umtreiben.
Hazal ist zu Beginn des Buch kurz vor ihrem 18.Geburtstag und wird beim Klauen eines Mascaras erwischt. Der Detektiv nimmt ihr die 100 € ab, die sie für ihre Geburtstagsfete mit ihren drei Freundinnen vorgesehen hat. Pleite und zu tiefst erniedrigt kehrt sie nach Hause zurück. Dort wo ihre Mutter stumpf im Fernseher türkische Serien anschaut, in denen nichts mehr passiert, seid Erdogan Erotik verboten hat. Wir tauchen mit Hazal und ihren Freundinnen in den Alltag ein, der voller Zwänge und Ausbruchsversuchen ist. Einerseits angepasst daheim, unter Druck, ohne Freiheit, immer in Furcht, vom Vater geschlagen werden, der selbst unzufrieden ist mit seinem Leben als Taxifahrer und dem lauten, halblegalen Freundinnenleben, das gespickt ist mit Musik, Drogen, Schminken, „krassen“ Sprüchen und Gewalt. Dies schreibt die Autorin aber alles in einem flotten frechen Stil auf, so daß wir immer wieder an Jugendromane wie „tschick“, oder „Mädchenmeute“ erinnert werden. Daß allerdings auszu viel Frust und Erniedrigung gefährliche Gewalt enstehen kann, zeigt der Geburtstagabend, als die vier Mädels nicht in den Club dürfen, den sie angesteuert haben. Schwer alkoholisiert und frustiert gehen sie Richtung U 6 und treffen dort um 4 Uhr morgen auf einen jungen Studenten, der seinerseits zu tief ins Glas geschaut hat. Ein Wort gibt das andere. Es wird geschubst und gestoßen. Danach getreten, bis der junge Mann auf den U-Bahnschienen liegt.
Dort endet der Berliner Teil des Romanes und wir befinden uns in Istanbul. Dort kommt Hazal bei einem Facebook-Bekannten unter. Hier erfährt sie auch, daß die Situation auf dem U-Bahn-Perron gefilmt worden ist und ihre Freundinnen in U-Haft sitzen.
Das so ganz andere Leben, in dem sich Hazal zurechtfinden muß, die Sorgen, die Gedanken der jungen Frauen stehen jetzt im Mittelpunkt und das Buch endet mit dem Putschversuch, bei dem Panzer in Istanbul auftauchen, Hubschrauber in der Luft kreisen und Schüsse fallen.
Ein Buch, das zurecht den Titel „Ellbogen“ trägt, denn der trifft uns Leser hart in die Magengrube. Zwar benutzt Fatma Aydemir viele Slangausdrücke und läßt den Roman auf den ersten Blick flapsig daherkommt. Doch zwischen den Zeilen erkennen wir sofort die Ernsthaftigkeit des Romans, die Zerissenheit der jungen Frau und merken, wie stimmig die Autorin mit ihrer Sprache umgegangen ist.
Ein Buch, das aufwühlt, aber auch gut unterhält. Ein Buch für ältere Jugendliche, für Schulen und alle, die mal eine etwas andere Literatur lesen wollen, als die vielen deutschen Kopfgeburten, die sich auf dem Markt tummeln.

Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren. 2007 bis 2012 studierte sie Germanistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main. Seit 2012 lebt sie in Berlin und ist Redakteurin bei der taz. Als freie Autorin schreibt sie daneben für zahlreiche Zeitschriften, unter anderem Spex und das Missy Magazine.