Samstag

Heute haben
Wilhelm Hauff * 1802
Carlo Levi * 1902
Gerti Tetzner * 1936
Geburtstag
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Anarchie und wildes Durcheinander im Bilderbuch.
Die Mumins gehen Skifahren, Frank Viva schickt einen Radler auf eine lange Straße und bei uns in der Buchhandlung stand ein Weihnachtsrad.

Mumin

Tove Jansson: „Mumins Winterfreuden“
Aus dem Englischen von Michael Groenewald, Annette von der Weppen und Matthias Wieland
Handlettering von Michael Hau
Reprodukt Verlag € 10,00
Grahic Novel für alle Alter

Der Winterschlaf steht an. Alles geschieht, wie die Vorfahren es schon immer gemacht haben und wie es auch die Mumins jedes Jahr tun. Doch dieses Mal scheint der Wurm drin zu sein. Der Winterschlaf wird hinterfragt und kritisiert. Doch die letzten Vorbereitungen laufen, alle schlüpfen ins Heu und wünschen sich einen guten Winter und bis in drei Monaten. Leider piekst das Heu, Muminpapa ist es langweilig, er steht auf und fragt sich, warum man alles den Ahnen nachmachen muss. Also weckt er seine Familie auf und meint, dass sie dieses Jahr auf den Winterschlaf pfeifen werden, öffnet die Dachluke und ab geht es in den tiefen Schnee. Doch das ist alles nicht so einfach. Das mit dem Skifahren, Schlittschuhlaufen, usw. Es taucht natürlich auch ein neuer Schönling auf: Herr Frisch, der Sportfanatiker, dem Snorkfräulein sofort hinterherläuft (ja hat die denn gar nichts gelernt an der Riviera?). Es beginnt ein heilloses Durcheinander mit Wettspielen, Eifersüchteleien, Schneelawinen und einem Selbstmordversuch. Ein anarchisches Winterfest, das mit dem Hereinbrechen des Frühlings endet.

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Doch nicht genug:
Im Diogenes Verlag ist ein wirklich irres, tolles, freches Bilderbuch erschienen, dem ein 6 Meter langes, gefaltetes Poster begelegt ist.

viva

Frank Viva: „Eine lange Straße lang“
Diogenes Verlag € 24,90

Hier rast ein Radler eine Straße entlang, hoch und runter, durch einen Tunnel und am Meer vorbei. Er fährt über eine lange Brücke („eins, zwei drei“) und schnell am Eiswagen und Franks Kiosk vorbei. Er stolpert fast am Schuhgeschäft, macht einen Halt an der Bibliothek und rast immer weiter, immer schneller, so dass er sich auf einer Doppelseite dehnt. Er wird lang wie ein Kaugummi, macht eine Schleife und ist wieder am Start.
Ein grafisches Kunstwerk, auf dem sich die orangene Straße nicht nur farblich, sondern auch haptisch abhebt.
Dazu noch das Plakat, das für die Zimmerwand gedacht ist.
Wunderbar. Und vielleicht ist das Poster, das keinen Text enthält, nicht nur für’s Kinderzimmer, sondern auch für das nüchterne Büro der Erwachsenen, damit die sich mal richtig wegträumen können und nicht heimlich im Netz surfen müssen.
Hier gibt es die ersten zwei Meter im Miniformt:

01176_leporello_2Meter
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Doch nicht genug mit Radeln.
Gestern stand plötzlich Ole Pedaleur im Laden und hatte „Noelle“ dabei – die neue Kreation aus dem Radladen in der Rabengasse.

Design aus Ulm, gebaut in Deutschland
Klassische Stahlrahmen als Schwan oder Diamantrahmen – je 4 Größen – mehr als 200 Farben zur Auswahl.
7-Gang Shimano Nexus – LED-Beleuchtung mit Nabendynamo – Schwalbe Ballonreifen – Hebie Zweibeinständer und viele Specials mehr …
Das Weihnachtsrad gibt es auch als Herrenmodell „Nic
für € 888,- anstatt Listenpreis € 993,-

Pedaleur-Noelle-Jastram

Pedaleur

Pedaleur – Fachgeschäft für Fahrradkultur
Rabengasse 14 – 89073 Ulm
Tel. 0731/7085226
info@pedaleur-ulm.de
www.pedaleur-ulm.de
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Nach so viel Durcheinander, endet es am kommenden Dienstag bei unserer „Ersten Seite“ besinnlich mit einer besonderen Weihnachtsgeschichte, die Clemens Grote vorliest. Nicht jedoch bevor wir ein paar Buchtipps abgegeben haben.
Dienstag, 2.12.2014 ab 19 Uhr.
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Im Dezember gibt es hier auf dem Blog das Beste aus dem Jahr 2014. Die tollsten Bücher, die gelungensten CDs und DVDs und vieles mehr, die im Archiv des Blogs schlummern und nicht vergessen werden dürfen.

Freitag

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Heute haben
William Blake * 1757
Alexander Blok * 1880
Stefan Zweig * 1881
Alberto Moravia * 1907
Tomi Ungerer * 1931
Ulrike Schweikert * 1966
Geburtstag.
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Dass die Mumins uns in vielen Dingen voraus sind, ist uns schon lange klar, aber dass sie sich jetzt auch noch an der Riviera tummeln, klingt schon recht frech, wenn ich an den satten Nebel in Ulm, um Ulm und um Ulm herum denke. Gut, bei den Mumins ist es in diesem speziellen Fall auch schon Frühling, auf den wir noch einige Monate warten müssen. Aber allein der Gedanke, am warmen Meer zu liegen, …

Mumin

Tove Jansson: „Mumin an der Riviera“
Aus dem Englischen von Michael Groenewald, Annette von der Weppen und Matthias Wieland
Handlettering von Michael Hau
Reprodukt Verlag € 10,00

Dolce Vita an der französischen Riviera. Was kann es Schöneres geben, wenn im Mumin-Land gerade mal die Schneeglöckchen sprießen. So ist es nicht verwunderlich, dass sich die Muminfamilie auf den Weg macht, dorthin zu reisen. Mutter Mumin sieht das doch sehr kritisch und denkt sich, dass nach dieser Reise, sich alle wieder auf ihr richtiges Zuhause freuen. So wird aber schnell gepackt, die kleine Nusschale bestiegen und irgendwie landen sie ratzfatz im sonnigen Süden, in dem zwar die Felsen im Meer scharf und kantig und nicht rund, wie daheim sind, dafür aber Organgen an den Bäumen wachsen. Leider steht überall „privat“und den Mumins wird der Zugriff zu diesen Früchten verweigert. Sie entdecken eine Hotelanlage, wissen nicht, was sich dahinter versteckt, quartieren sich dort ein und genießen den puren Luxus, nichtsahnend, dass sich daraus eine ellenlange Rechung entwickelt. So aber tollen sie im Pool, essen sich durch die Speisekarte, bauen ihre Suite um und fluten gleich das ganze Stockwerk.
So mitten in der Boheme macht sich Snorkfräulein auf die Suche nach einem Millionenarbe, wo doch im gleichen Hotel ein großer Filmstar untergebracht ist. Da sollte doch auch für sie etwas abfallen. Zum gemeinsamen Baden fehlt ihr aber ein Bikini und mit dem wenigen Geld kommt sie in der Edelboutique nicht weit. Im Casino erspielt sie sich jedoch einen Sack voll Geld und dem Fummel steht nichts mehr im Wege. Papa Mumin freundet sich mit einem Künstler an und unterhält sich prächtig mit ihm und alles könnte gut sein, wenn nicht die schon erwähnte Rechnungsrolle auftauchen würde. Da wird den Mumins klar, dass das nicht Gastfreundschaft war, sondern mit viel Geld zu bezahlen ist. Aber woher dies nehmen? Da fällt Snorkfräulein ein, dass sie irgendwo am Strand unter einem Stein die restliche Million aus dem Casino vergraben hat. Die Suche beginnt, sie werden nach Stunden fündig, die Hotelrechung kann bezahlt werden, eine halbe Million Trinkgeld ist auch noch drin und ohne Geld sind sie wieder glücklick unter ihrem Boot am Strand. So machen sie sich wieder auf die Reise in ihre Heimat, nicht ohne an den guten Champagner mit Rosenblätter und den grünen Swimmingpoolzu denken.

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Am kommenden Dienstag gibt es eine Weihnachtsausgabe der „Ersten Seite“.
Wir stellen zwei Bücher vor (Herrndorf und O’Nan), halten im Sekundentakt ideale Weihnachtlektüren hoch und danach wird es mit Clemens Grote weihnachtlich.
Beginn ist wie immer 19 Uhr und der Eintritt frei.
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Donnerstag

Heute hat
Luwig Fels * 1946
Geburtstag.
Aber auch Hilary Hahn und Jimi Hendrix.
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https://www.youtube.com/watch?v=R-DO8zskzq4
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Nach diesem weiss schwarzen Musik(er)kontrast stelle ich Ihnen ein Buch vor, das sehr gekonnt mit dieser Problematik auffährt.

Bula

NoViolet Bulawayo:“Wir brauchen neue Namen“
Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
Suhrkamp Verlag € 21,95

NoViolet Bulawayo ist die erste Schwarzafrikanerin, die auf der Shortlist des bedeutenden Man Booker Prize stand, dem wichtigsten Literaturpreis der angelsächsischen Welt. NoViolet kommt aus Zimbabwe, ist mittlerweile 32 Jahre alt und lebt seit ihrem 18. Lebensjahr in den USA in „Destroyedmichygen“. Solche neue Wortschöpfungen sind keine Seltenheit in diesem flotten Erstlingswerk. Ihre Tante, bei der sie lebt, wenn ihre Mutter unterwegs ist, singt laut Choräle in englischer Sprache, mit Worten, die sie nur vom Hören kennt, da sie nicht lesen kann und schon gar kein Englisch.
Das Buch spielt in der ersten Hälfte in Zimbabwe, wird aber von der Autorin nie erwähnt. Die umliegenden Länder schreibt sie auf, aber nicht ihr Heimatland, das sie „unser Land“ oder auch das „elende Land“, das „gesegnete, elende Land“ nennt. Gemeinsam mit ihren gleichaltrigen Freunden jagt Darling, wie sie genannt wird, durch die Wellblechsiedlungen, um Spiele, wie „Fangt-bin-Laden“ zu spielen, oder Guaven aus den Gärten der Reichen zu klauen. Sie bekommen die Armut der Mitbewohner und die Willkür der Herrschenden mit, die mal eben eine Siedlung plattmachen. Sie schreibt dies wie mit leuchtenden Farben auf, hat immer eine schöne, besondere Beschreibung zur Hand, und wir tauchen sehr schnell in eine, für uns, extrem fremde Welt ein. Nochmals zurück zu ihrem neuen Namen: Violet war der Name ihrer Mutter. „No“ heisst in ihrer Muttersprache Ndebele „mit“ und Bulawayo ist die zweigrößte Stadt in Zim (wie sie Zimbabwe in der Danksagung nennt). Diese neuen Namen ziehen sich durch das ganze Buch. Neue Namen, für Dinge, die die Kinder nicht kennen, oder zum ersten Mal sehen. Namen, die sich beim Spielen geben und die sie sicherlich aus den amerikanischen TV-Serien her kennen. Und natürlich neue Namen, die es braucht, um in ihrem neuen Land, den USA, zurecht zu kommen. Ein Land, das so gar nichts mit dem ihrer Kindheit zu tun hat. Zu groß sind die Unterschiede und so unterschiedlich die Interessen, oder das Nichtinteresse. Einerseits das gelobte Land, andererseits ein Land in Afrika, das mit dem Begriff Afrika abgehakt ist.
Ihre Clique stromert durch die Gegend, bekommen von NGOs Spielzeug geschenkt, das sofort wieder kaputt ist, suchen sich Jobs, um etwas Geld zu bekommen, wissen um dieses fremde Land, in das immer wieder Bekannte verschwinden. Paradise heisst ihre Siedlung, aber ein Paradies ist es wirklich nicht. Höchstens in der bewusst verklärten Sicht der Autorin, die ihre Personen viel in der direkten Rede, mit all den neuen Wortmischungen, reden lässt. Das neue Land ist jedoch auch kein Paradies und sprüht so gar nicht von der Lebensenergie in „Zim“. Hier gibt es zumindest evangelistische Teufelsaustreibungen, während des Gottesdienstes. Ein Paradies ist es auch nicht für ihre elfjährige Freundin Chipo, die von ihrem Grossvater vergewaltigt wurde und nun schwanger ist. Der Versuch, den Fötus mit einem Metallkleiderbügel herauszubekommen, wird von einer Erwachsenen beobachtet und führt zu einer sehr rührenden Szene.
Das knallbunt aufgemachte Buch ist eine großartige Lektüre, die man in einem Rutsch verschlingen kann. NoViolet Bulawayos Art zu erzählen, hilft einem die dunklen Seiten in der Biografie des jungen Mädchens zu ertragen und auch wenn der Vater nach Jahren wieder zuhause auftaucht und an Aids stirbt, beschreibt sie dies so: „Er fühlt sich an wie trockenes Holz, aber da ist ein komisches Licht in seinen eingefallenen Augen, als hätte er die Sonne verschluckt“. Und genau solche Formulierungen durchziehen den Roman und lassen ihn leuchten durch das Novembergrau in Ulm, oder ihrer neuen Heimat in Detroit. Die Autorin hat dies auch begriffen und lebt nun im sonnigen Kalifornien, um dadurch ihrer Heimat klimatisch etwas näher zukommen.

Leseprobe

http://www.suhrkamp.de/mediathek/noviolet_bulawayo_ueber_wir_brauchen_neue_namen_817.html

NoViolet Bulawayo schreibt imTelegraphihren ersten Besuch in ihrer Heimat, und berichtet mit persönlichen Fotos darüber, worauf sie nicht vorbereitet war.
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Die nächste „Erste Seite“ findet am kommenden Dienstag, den 2.12. um 19 Uhr bei uns in der Buchhandlung statt. Es wird, wie jedesJahr etwas weihnachtlich. Lassen Sie sich überraschen.

Mittwoch

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Heute haben
Georg Forster * 1754
Franz Jung * 1888
Eugène Ionesco * 1909
Geburtstag.
Und auch Charles M.Schulz und Tina Turner.


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Szilárd Borbély: „Die Mittellosen“
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Laszlo Kronitzer
Suhrkamp Verlag € 24,95

Ich kannte den Autor Borbély nicht, hatte noch nie seinen Namen gehört. In Ungarn hat er einige Gedichtbände veröffentlicht, galt als bedeutendster Lyriker des Landes und hat viele deutsche Autoren ins Ungarische übersetzt. Dieser Roman erschien 2013 in Ungarn und war dort eine Sensation. Im Frühjahr diesen Jahres hat er sich das Leben genommen.
Borbélys Grossvater war Jude und kam in Auschwitz um und dieses Anderssein steht auch im Mittelpunkt dieses Buches. Die Mittellosen sind nicht nur ohne Geld, sondern auch ohne Ansehen und Ehre.
Erzählt wird aus der Sicht eines Jungen, der eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder hat. Der Vater verdient sein Geld als Hilfarbeiter. Viel vom Gehalt kommt nicht nach Hause, da er es in der Kneipe in Alkohol umsetzt. Die Mutter ist schwer depressiv und versucht ihre Kinder und sich am Leben zu halten, in dem sie eine kleine Landwirtschaft betreibt und im Wald nach Nahrung sucht. Damit beginnt auch dieser Roman, wie der Junge frierend und schlotternd an der warmen Hand der Mutter durch den winterlichen Wald stapft. Er träumt sich weg, wird aber immer wieder in die Wirklichkeit gezerrt. Seine Mutter redet nicht viel und er weiss oft nicht, wie sie auf seine Fragen reagieren wird. Verwunderlich auch: Dass der Junge die Eltern mit „Sie“ ansprechen muss, obwohl die Handlung ab 1970 spielt.
Der Roman ist sprachlich unglaublich stark. Die beiden Übersetzer fügen immer wieder neue Wortschöpfungen ein, die dem Jungen durch den Kopf gehen. „Pfützig, Flatschen, Zundel, testieren“ sind ein paar davon. Der Junge erträgt die häusliche Gewalt kam, er ekelt sich vor der Arbeit, die zu tun hat. Wie zum Beispiel den Hühnerstall zu säuber. Er bekommt hautnah mit, wie Tiere geschlachtet und ausgenommen werden. Er erträgt die Gerüche des Hauses, des Stalles und der Menschen kaum noch.
Im Dorf ist die Familie an den Rand gedrängt. Von einer Dorfgemeinschaft kann man kaum reden. Jeder lebt für sich und arbeitet gegen den anderen. Da der Junge einen jüdischen Grossvater hat, ist das oft geflüsterte Schímpfwort Jude natürlich auch auf ihn gemünzt. Immer wieder gibt es Anklänge an die Vertreibung der Juden durch die Nazis. So haben die Dorfbewohner das Ladengeschäft des jüdischen Händlers nach seiner Deportation geplündert ohne sich in die Augen zu sehen. Gleichzeitig sind sowohl die Familie, als auch die anderen Dorfbewohner Hinzugezogene, Umgesiedelte, und ehemalige Flüchtlinge.
Borbély erzählt nicht chronologisch. Toten sind lebendig und die Lebenden sind tot, so scheint es mir fast. Und wenn dies tatsächlich ein stark gefärberter Roman ist, wie es auch in den biografischen Texten im Anhang zu lesen ist, dann kann ich sehr gut verstehen, warum der Autor unter posttraumatischen Depressionsschüben litt, wie er selber sagte. Er meinte, er sei soweit, darüber schreiben zu können. Was wohl nicht der Fall war.
Ich denke, dass dieser Roman auch in anderen Flecken Europas spielen könnte. In den armen Ecken von irland oder Portugal, oder auch irgendwo im Niemandsland in Deutschland. Er hat viel mit der ungarischen Geschichte zu tun, aber zeigt auch die Zeit der frühen siebziger Jahre, dort wo es engstirnig, ärmlich zuging und dort wo jemand sofort zum Aussenseiter gestempelt wird, wenn er nicht in die Dorfstruktur passt.
Aussenseiter sind auch die Zigeuner. Sogar der Hund der Familie heisst so. Das Geigenspiel eines Zigeuners bestärkt den Jungen in seinem Wunsch, auch Geigespielen lernen zu dürfen. Dies ist natürlich jenseits des Vorstellbaren. So ist ihm die einzige Hilfe, sich der täglichen Hölle zu entziehen, sein Rechnen mit Primzahlen. Diese Zahlen, die sich nicht teilen lassen, die ein Ganzes sind, beruhigen ihn ungemein. So eine Einheit wünscht er sich herbei, kann sie aber nirgends finden.
Ich könnte noch ewig weiterschreiben, Zitate einfügen und würde vielleicht genau das Gegenteil bewirken. Denn aus dem Zusammenhang gerissen lesen sie sich deutlich brutaler, als sie im Roman vom Jungen erzählt werden.
„Ich sehe die Sterne und den Rücken meines Vaters, wie er sich nach vorne beugt. Vom Bett aus sehe ich, wenn er sich würgend krümmt, die Venus. Der kühle Abendwind trägt den Geruch von Erbrochenem herein.“, soll hier genügen, um die verschiedenen Ebenen des Romanes zu zeigen. Die Brutalität, die Gerüche, das Derbe, aber auch die Natur, die Sehnsucht lesen sich in einem Satz und zeigen das unglaubliche Können dieses Autoren, dem ich in dieser deutschen Übersetzung viele LeserInnen wünsche.

Leseprobe

Dienstag

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Heute haben
Georg Kaiser * 1878
Ba Jin * 1904
Francis Durbridge * 1912
Joseph Zoderer * 1935
Maarten t’Hart * 1944
Connie Palmen * 1955
Gregor Hens * 1965
Geburtstag.
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Neil Gaiman: „Der Ozean am Ende der Straße“
Aus dem Englischen übersetzt von Hannes Riffel
Eichborn Verlag € 18,00

Eigentlich hätte es, laut Neil Gaiman, eine Erzählung werden sollen. Eine kurze Geschichte, die er während der Abwesenheit seiner Frau zu schreiben gedachte. Aber aus der Erzählung wurde immer mehr, bis es bei einem Roman endete. Gaiman war selbst erstaunt und konnte es nicht fassen, was ihm da alles aus der Feder floss. Es sollte ein Buch für seine Frau sein, die seine Fantasy-Bücher nicht mag. Sie mag ihn. Also fing er mit sich im Mittelpunkt an. Mit einer Person, die an der Ort seiner Kindheit zurückkehrt, um an einer Beerdigung teilzunehmen. Dort begegnet er einer alten Frau und er taucht ein in seine Kindheit. In den Sommer, als er sechs Jahre alt war. Die Zeit, als seine Eltern noch in einem Haus wohnten, das längst abgerissen ist und nicht mehr existiert. Es ist eine Zeit, die er vergessen, verdrängt hat. Eine Zeit, die in den Köpfen der Erwachsenen keinen Platz mehr hat, in denen es rational und effektiv zugeht. Eine Zeit, in der es noch Peter Pan gab, der die Kinder mitnahm und verführte. Eine Zeit, in der kindliche Ängste Wirklichkeit war, in der Kinderaugen etwas sehen und es komplett falsch interpretieren. Eine Zeit, in der viel aus dem Ruder ging, in der die Ehe seiner Eltern fast zerbrach, in der eine Kinderliebe sich auflöste, in der Wesen aus Büchern lebendig und bedrohlich werden.

Es war nur ein Ententeich, ein Stück weit unterhalb des Bauernhofs. Und er war nicht besonders groß. Lettie Hempstock behauptete, es sei ein Ozean, aber ich wusste, das war Quatsch. Sie behauptete, man könne durch ihn in eine andere Welt gelangen. Und was dann geschah, hätte sich eigentlich niemals ereignen dürfen.

Neil Gaiman hat dann doch wieder eine Roman mit vielen Fantasyelementen geschrieben und dennoch ein warmherziges, inniges Buch über Freundschaft, Macht und Vertrauen. Ein Buch, in dem das Geld der Erwachsenen den kindlichen Gemütern gegenübersteht. Ein Buch, in dem nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint.

Ich mochte Mythen. das waren keine Geschichten für Erwachsene, aber es waren auch keine Kindergeschichten. Sie waren besser. Denn die Geschichten für Erwachsene waren immer so wirr, und es dauerte ewig, bis sie in die Gänge kamen. Sie gaben mir das Gefühl, dass Erwachsene irgendwelche Geheimnisse hüteten, mysthische Geheimnisse, wie die Freimaurer. Warum lasen Erwachsene nicht gern von Narnia, von einsamen Inseln und Schmugglern und gefährlichen Feen?

So tauchen wir mit dem Jungen, der sich am liebsten in seine Bücher verkriecht ab in eine Welt der Ungeheuer und Monster, wie sie Kindern in den Träumen erscheinen. Er muss um sein Leben kämpfen und um das Verstehen seiner Umwelt. Wenn sein Vater versucht, ihn in der Badewanne zu ertränken, so schildert Gaiman das in einer Art, dass wir nicht wissen, ob es wirklich so war und auch so, dass wir Verständnis für ihn haben. War es wirklich so?

Erwachsene sehen im Inneren auch nicht wie Erwachsene aus. Äußerlich sind sie groß und gedankenlos, und sie wissen immer, was sie tun. Im Inneren sehen sie allerdings aus wie früher.

Neil Gaiman, der jede Menge Comics, Grahic Novels und Fantasybücher geschrieben hat, landete mit diesem Buch auf Platz 1 der Bestsellerlisten und hat mich bei der Lektüre verwirrt und süchtig gemacht. Auch für mich ist Fantasy nichts. Aber dieser Roman ist mehr. Es gibt einen Blick ins Innere eines Jungen, der nun ein Erwachsener ist und in desen Hintertürchen immer noch ungeklärte Dinge stecken. Damals wurden die Ängste real und müssten bekämpft werden. Heute werden sie weg- und untergedrückt.
Ein Buch, das mit etwas Grusel arbeitet und doch voller Empathie und Wärme ist. In dem ein Ententeich zu einem Ozean wird und aus einer Kleinigkeit eine Katastrophe. In dem die Phantasie dem Jungen mehrere Streiche spielt, bis alles wieder in geordnete Bahnen kommt.

Hier liest und diskutiert Neil Gaiman aus und über den „Ozean am Ende der Straße

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=1Z4mwSdcLoc]

Montag

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Heute haben
Laurence Sterne * 1713
Carlo Collodi * 1826
Frances Burnett * 1849
Erich Scheurmann * 1878
Nuruddin Farah* 1945
Arundhati Roy * 1961
Geburtstag.

Und in einem Monat ist es so weit:

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=FVFFTyBo_Yw]
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[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=XvfYUXBaF6M]

geschenk

„Das Geschenk der Götter“
Regie Oliver Haffner, 2013

Jetzt habe ich es endlich auch geschafft und habe diesen „Ulmer“ Film angeschaut. Es ist wohl die meistgesehenste Independentproduktion des Jahres. Das auch zurecht.
Ulm als zweite Hauptperson des Filmes zeigt sich von seiner grauen, kalten, neblig-winterlichen Seite, wie wir es auch gerade seit Wochen erleben.
Zum Inhalt:
Anna ist Schauspielerin in einem „kleinen Stadttheater“. Ulm halt, und wird vom Intendaten sehr freundlich und gekonnt (siehe „Up in the air“) nicht für die nächste Spielzeit übernommen. Der Intendant im wahren Theater Ulm spielt einen Arbeitsamtangestellten, der gleich mal von der Schreibmaschine verscheucht wird.
Nun steht Anna vor dem Nichts und fährt mit ihrem Roller ins Arbeitsamt, das (im Film) im Gebäude der ehemaligen Hochschule für Gestaltung (HfG) untergebracht ist. Übergangsweise wird ihr eine kleine Gruppe Schwervermittelbarer zugewiesen, die statt eines Computerkurses, einen Theaterkurs von ihr bekommen sollen. Dass dies nicht so einfach ist, wie es sich vielleicht anhört, kann man erkennen, als die Gruppe sich zum ersten Mal trifft. Es sind Menschen unterschiedlichen Alters, die fast alle den Mut an eine Zukunft verloren haben. Personen, die ein halbes Leben gearbeitet haben und nun einem sehr ungewissen Zeitraum entgegenschauen. Ausser Dimitri vielleicht, der Grieche, der nie den Schnabel halten kann und seinen Traum von der ersten griechischen Kneipe in der Stadt träumt, in der es nur Vegetarisches zu essen gibt. Aber auch er ist blitzeblank, wie er später selbst zugibt und sein Kneipenschiff auf der Donau bleibt weiterhin verschlossen und versiegelt.
So versucht Anna ihr Glück und stellt sich voller Optimismus vor die Gruppe und stellt sehr schnell fest, dass „Antigone“ von Sophokles das ideale Stück zum Üben wäre, da es hier wie dort um Gerechtigkeit geht.
Es ist ein Film zum Lachen und Weinen. Diese Komödie hat starken Tiefgang, wenn es um die Einzelschicksale der verschiedenen „Schwervermittelbaren“ geht. Es gibt Winner und Looser heisst es zweimal im Film und hier sind eindeutig die Verlierer am Start. Als das Programm vom Arbeitsamt dann auch noch gekippt wird, bekommt der Film und die Personen eine eigene Dynamik, die soweit geht, dass die Truppe drei Auftritte im Großen Haus des kleinen Stadttheaters bekommt.
Am Schönsten sind die Szenen, in denen die Personen plötzlich aus sich herausgehen. Wenn dem jungen Arbeitslosen, der nicht gut lesen kann, von seiner Mitspielerin das Reclamheftchen mit dem Text abgenommen wird und er frei spricht. Oder die Mutter zweier Kinder, deren Mann nicht vorhandene Vögelschwärme am Himmel beobachtet, plötzlich, nachdem sind sonst kaum einen Ton herausbekommt, der Leiterin Anna eine Antigone-Passage an den Kopf wirft, als diese (Anna) gerade das Handtuch schmeissen will. Grossartig. Das sind dann Momente, in denen man gerne heulen möchte, nachdem wir ordentlich oft in dieser Komödie zum Lachen gebracht werden.
Ein gelungener Film, über den ich gar nicht mehr verraten will und den ich nicht nur Ulmern weiterempfehlen möchte.
Hier läuft er im Kino im ROXY.
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Neue Woche, eine neue Ungereimtheit von Werner Färber:

UNGEREIMTHEIT DER WOCHE (Ratgeber):

SCHNARCHEN

Wenn sein Gaumensegel flattert,
laut und rhythmisch Nacht für Nacht,
wenn es raspelt, sägt und knattert,
ist sie um den Schlaf gebracht.

Gemartert durch den Dauerkrach,
versucht sie es mit einer Klammer.
Er streift sie ab, wird nicht mal wach,
in ihrer Not greift sie zum Hammer.

Mehr von und mit Werner Färber finden Sie hier.

Samstag

Wissen wir, was das ist, die Liebe?
Wir wissen es, und wir wissen es nicht. Wer liebt, zweifelt nicht an der Wirklichkeit der Liebe, auch wenn er seine Liebe nur unzureichend versteht. Verloren sei, wen Liebe nicht beglücke, meint Karoline von Günderrode in ihrem Gedicht „Überall Liebe“. Wo sie fehlt, ist das Leben nicht in Ordnung. Wer nicht geliebt hat, hat nicht gelebt. So einfach scheint das zu sein.

So beginnt Iso Camartins „Opernliebe. Ein Buch für Enthusiasten“, das wir gestern vom Beck Verlag bekommen, in dem uns der Autor erzählerisch durch die Operngeschichte führt.

Camartin

C.H.Beck Verlag € 22,95
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Das ist das Besondere, wenn vor mir drei Kalender liegen und die sich über Geburtstage nicht einig werden. Dass der eine Geburtstagskinder auflistet, die der andere nicht hat, gut, ist so. Aber wenn Wilhelm Waiblinger gestern (Harenberg) und heute (Arche) Geburtstag hat, würde noch ein Blick bei Wikipedia helfen, oder im großen Brockhaus, der in Griffweite steht.
Diesmal kann ich mir ja damit behelfen, dass ich von Wilhelm Waiblinger noch ein Gedicht veröffentliche.

Der Liebe Schmerz

Liebe Seele, werd ich Brust an Brust
wieder in unnennbarem Entzücken
dir der Herzensfülle Wonn‘ und Lust,
dir den Himmel aus dem Auge blicken,
wieder Mund an Mund,
meine Lippen auf den deinen,
Kuß auf Kuß, mich zu der Liebe Bund,
zu der Liebe Glück mit dir vereinen?

Auf den Hügeln steh‘ ich oft allein,
schaue nach den Bergen oft hinüber,
ach! und dann verlangt mich dort zu seyn,
und es wird in meiner Seele trüber,
und mein Auge thaut,
o! wie wein‘ ich dann so gerne,
weine wie ein Kind so laut
trostlos in die liebe, blaue Ferne.

Und ich sehe, wie die Wolken zieh’n,
immer wechseln sie Gestalt und Stelle,
ach! auch meine Ruh‘ ist so dahin
und du rinnest ewig, Thränenquelle,
rein, wie Luft und Licht,
Mädchen ist mein glühend Sehnen,
doch die Thräne löscht die Flamme nicht,
und die Flamme trocknen nicht die Thränen.
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Honig

Seit einer Woche haben wir den Ulmer Festungshonig bei uns in der Buchhandlung zum Verkauf aufgebaut. Große und kleine Gläser mit dieser cremigen Herrlichkeit.

Schriftzug

Petra Alurralde und Udo Brauch haben mächtig losgelegt und versorgen uns jetzt mit Honig direkt aus Ulm mit Blick aufs Münster.
Hier kommen Sie auf die Website der Beiden und erfahren viel über ihre Bienen, den Honig und das Fort Albeck auf dem Ulmer Safranberg.
Ulmer Festungshonig
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Statt eines Buchtipps gibt es heute ein Rätsel, mit dem Sie sich über’s Wochenende beschäftigen können. Die Auflösung gibt es dann am Montag.
Zu welchem Verlag gehören die Embleme auf den jeweiligen Buchrücken?

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Zu gewinnen gibt es entweder eine Unikattüte von Peter Gramming mit einem Originalbild drauf, oder einen Metallengel von Anke Raum.

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Und damit Sie jetzt schon für’s nächste Jahr planen können, gibt es wieder unseren kostenlosen Jastram Wandkalender.

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Mit diesen vielen Bildern (aus unserer Buchhandlung) wünsche ich Ihnen ein schönes, geruhsames Wochenende.

 

Freitag

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Heute haben
Voltaire * 1694
Wilhelm Friedrich Waiblinger * 1804
Franz Hessel * 1880
Veza Canetti * 1897
Marilyn French * 1929
Margriet de Moor * 1941
Brigitte Blobel * 1942
Andrew Sean Greer * 1970
Geburtstag
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Wilhelm Friedrich Waiblinger
Geboren am 21.November 1804 in Heilbronn und
am 17.Januar 1830 in Rom gestorben.

Verlangen nach der Ferne

Ueber Berge möcht‘ ich hin,
über alle Berge fliehen!
Armes Herz! wo willst du hin?
Willst du vor dir selber fliehen?

Aber kann ich denn die Regung
bändigen des wunden Herzens,
und die lärmende Bewegung
meines namenlosen Schmerzens?

Quille nur du Thränenquelle,
rastlos, wie die wilde Welle,
unaufhaltsam fortgeschoben,
Grund und Wiese kehrt nach oben.
Eh die Seufzer mir verklingen,
mußt du treues Herz zerspringen!

Siehst du dort der Landschaft Bildniß,
wie’s im schmalbefaßten Rahmen
luftigdämmernd Blau umwebet:
Soll ich es für mich benamen,
eine menschenleer Wildniß
sind mir alle jene Weiten,
mannigfach und reich belebet;
ach der Kindheit Rosenzeiten!

Wie sich dort ein bunt‘ Gedränge
brausend durch einander schiebet,
ach! in jener lauten Menge,
find‘ ich niemand, der mich liebet.

Mancher geht an mir vorüber,
doch er läßt mich meinem Schmerz,
bänger wird mir nur darüber,
bänger mir das arme Herz.

Ueber Berge laßt mich hin,
über alle Berge ziehen!
Armes Herz! wo willst du hin?
Kannst du vor dir selber fliehen?
_____

Lied der Liebe in die Heimath

Ach warum in dieser Ferne,
süßes Herz, so weit von dir?
Alle Sonnen, alle Sterne,
öffnen ihre Augen mir,
nur die schönsten blauen Strahlen,
nur das reinste tiefste Licht,
drin sich Erd‘ und Himmel malen,
nur dein treues Auge nicht.

Ja, ich seh‘ in wilden Lauben,
über Bergen, über Seen,
Kind voll Unschuld und voll Glauben,
dich in frommer Stille gehn.

Um die bleichen feuchten Wangen
spielt die frische Abendluft,
und es steigt dein zart Verlangen
himmelwärts wie Blumenduft.

Thrän‘ an Thräne seh‘ ich rinnen
tief aus deines Auges Nacht,
und mit glühend heißen Sinnen
hängst du an der Sterne Pracht –
o mein Kind, in jenen Räumen
suchst du den Geliebten schon,
und so früh den schönen Träumen
spräche das Verhängniß Hohn?

Nein, dem liebenden Gemüthe
sind sie schmerzlich sanfter Trost!
Nach dem Winter kommt die Blüthe,
die ein neuer West umkost.
Bei den heimathlichen Auen,
bei der Burgruine Bild,
da, wo Aug‘ und Blumen thauen,
Mädchen, sei dein Weh gestillt.

Was du weinend mir gegeben,
all‘ dein himmlisch Heiligthum,
war ein Kuß fürs Erdenleben,
war es für Elysium.
Mein ist dein verschämtes Zagen,
mein die jungfräuliche Scheu,
konntest du so muthig wagen,
liebes Herz, so bleibe treu!
_____

Mutter

Jean Regnaud (Text) und Émile Bravo (Illustrationen):
„Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen“
Lettering Micheal Hau
Übersetzt aus dem Französischen von Kai Wilksen
Carlsen Verlag € 9,99

Was für ein schönes Buch und jetzt endlich als Taschenbuch, so dass es prima in jedes Adventspäckle passt.  Früher sagte man noch Comic dazu, heissen diese „Bilderbücher“ Graphiv Novel.
Hatte ich gestern noch von Retrostil in der Illustration geschrieben, so befinden wir uns jetzt tatsächlich in den 70er Jahren in Frankreich. Alles ist noch ein wenig behäbig und ruhiger, ohne Händis und Smartphones. Aber nicht bei Jean, der zu Beginn des Buches in die erste Klasse kommt. er schwitzt, dass ihm die Socken qualmen, als die Lehrerin von ihm wissen will, was seine Eltern machen. Er hofft, dass irgendetwas ganz Schlimmes passiert, damit er nicht dran kommt. Als es doch geschieht, rasselt er ganz schnell herunter, dass er Jeanheisstseinvaterchefistundseinemuttersekretärin. Und genau hier hat Jean sein ganz großes Problem. Sein Vater ist zwar Chef und immer übermüdet und melancholisch, aber seine Mutter kennt Jean gar nicht. Er und sein kleiner Bruder werden vom Kindermädchen Yvette betreut und dem Kleinen rutscht immer wieder das Wort „Mama“ heraus.
In der Schule lernt Jean einen Mitschüler näher kennen, der von einer Familie adoptiert worden ist und dessen Adoptivvater im Rollstuhl sitzt und Bleisoldaten anmalt. Alain ist immer guter Dinge, schwärmt für die Marine und nicht für Indianer, wie Jean. Den Rorschachtest des Schulpsychologen beantworten deshalb beide gemeinsam mit wilden Abenteuerphantasien. Und gerade die Phantasie spielt Jean immer wieder Streiche. Ist seine Mutter nun Sekretärin? Und wo? Ist sie auf Reisen? Und warum tätscheln ihm die alten Frauen den Kopf und nuscheln etwas von „armer Junge“?
Als das Nachbarsmädchen ihm Postkarten vorliest und vorgibt, sie seien von seiner Mutter, ist er endlich zufrieden. sie meldet sich mitten im Sommer aus der Schweiz vom Skifahren und aus Amerika, wo sie Buffalo Bill getroffen hat. Irgendwie scheint es ihm komisch, warum der Text auf den Karten mit dem Namen des Mädchens beginnt.
Dies wird alles aus der Sicht des kleinen Jeans erzählt, der sich mächtig Gedanken macht und zwischen großem Bub und kleinem Jungen hinundherschwankt. Der warmherzige Ton, die große Empathie machen diese kleine Geschichte zu einem großen Werk, das sie jedem in die Hand drücken können. Der Illustrator Émile Bravo hat aus dem Text noch viel mehr gemacht, und entstanden ist eine geniale Weiterführung der Geschichte. Die Hintergrundfarben der 14 Kapitel wechseln ständig und sind meist gedeckt als grell gehalten. Doch auch das fügt sich in den eher traurigen Grundtenor des Buches.
Ob Jean seine Mutter wieder findet, ob er entdeckt, wo sie steckt, ob es den Weihnachtsmann wirklich gibt, erfahren wir zum Teil am Ende des Buches. Wir sehen jedoch einen glücklich strahlenden Jean, als nach den Weihnachtsferien die neue, junge, hübsche Lehrerin in seiner Klasse unterrichtet und die Schüler nur ihre Vornamen aufsagen müssen. Jetzt leuchten die Farben in hellem Gelb.
Herrlich!

Donnerstag

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Heute haben Geburtstag:
Selma Lagerlöf * 1858
Nadine Gordimer * 1923
Don DeLillo * 1936
Rachid Mimouni * 1945
Jürgen Seidel * 1948
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Grjas

Olga Grjasnowa: „Die juristische Unschärfe einer Ehe“
Hanser Verlag € 19,90

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Wochenlang lag der neue Roman von Olga Grjasnowa im Regal und mich hat schon die Umschlagsgestaltung nicht angemacht. Dazu kam, dass ihr erster Roman („Der Russe ist einer, der Birken liebt“) wirklich stark war und ich über diesen neuen kaum etwas in der Presse gelesen habe. Letzten Freitag erwähnte Karen Köhler, dass sie so glücklich sei, dass sie überall Besprechungen bekäme und ihre Verlagskollegin Grjasnowa fast keine. Da dachte ich, dass können wir ja ändern, habe das Buch mitgenommen und an zwei Abenden gelesen. Was wirklich nicht schwierig ist, denn die 260 Seiten lesen sich unglaublich schnell. Die Autorin zählt ihre Kapitel rückwärts bis Null und startet dann nochmals durch. Sie erwähnt gegen später den Vogel Simurgh, von dem ich noch nie etwas gehört habe, jedoch ein sehr alter sufistischer Mythos ist. Demnach machen sich 30 Vögel auf, um diesen Vogel Simurgh, den König der Vögel, zu finden, damit er ihnen die Erlösung geben kann. Sie überwinden Berger und Täler, bekommen ihn aber nie zu Gesicht, bis sie merken, dass es ihn gar nicht gibt und dass jeder selbst ein Vogel Simurgh ist und selbst für seine Erlösung zuständig.
Olga Grjasnowa schickt hier drei Personen auf die Reise. Auch sie suchen eine Art von Erlösung, oder ihr Lebensglück, ihre Wurzeln und festen Boden unter den Füssen. Sie suchen nach Nähe und Verständnis, nach Liebe und einer festen Beziehung. Da ist Leyla, die aus einer reichen Künstlerfamilie aus Baku kommt, die es als Ballerina bis ins Bolschoi-Theater geschafft hat. Nach einem Sturz lebt sie mit Mitte 20 in Berlin bei ihrem Ehemann Altay. Der widerum wollte in Moskau Arzt werden, hätte dafür aber Schmiergeld bezahlen müssen. So hat es ihn auch nach Berlin gezogen. Hier arbeitet er als Assistenzarzt in einer Drogenstation im Wedding. Dazu kommt noch Jonoun, die Leyla in einer Bar aufgegabelt hat und mit in die gemeinsame Wohnung mitnimmt.
Leyla arbeitet hart für einen Neustart in Berlin, zählt Kalorien und quält sich bis zur Verzweiflung. Altay ist übermüdet, arbeitet Schicht und kommt mit den schlimmsten Drogenbiografien im Kopf von der Arbeit nach Hause. Jonoun lebte auf der Straße, nimmt Drogen, trinkt und hinterlässt Spuren der Unordnung in der Wohnung von Leyla und Altay, die in einer (Schein)Ehe zusammenleben. Scheinehe deshalb, weil Altay eindeutig schwul ist und Leyla durch Jonoun ihre Neigungen zu Frauen wiederentdeckt hat. Das kann eigentlich nicht gutgehen und es kriselt auch stark im Berliner Hinterhof.
Der Roman beginnt damit, dass Leyla in einer Gefängniszelle in Baku sitzt, da sie bei einem illegalen Autorennen teilgenommen hat und von der Polzei erwischt worden ist. Hier im Gefängnis wird sie geschlagen und vergewaltigt. Danach springt die Autorin nach Berlin zurück und führt und so langsam die einzelnen Personen vor. Im zweiten Teil des Buches (Nach dem Kapitel Null) machen sich Jonoun und Altay (mit viel Geld in der Tasche) auf, um Leyla aus dem Gefängnis zu holen.
Alle drei Figuren sind auf der Suche nach ihrem Glück. Altay hat immer einen Blick für Männer, findet sie auch überall, möchte aber in Wirklichkeit eine intakte Ehe mit Leyla. Er wünscht sich Kinder und hofft in dieser bürgerlichen Art zu Leben, endlich zur Ruhe zu kommen. Leyla lebt ihre Liebe mit Jonoun aus, sie beginnen eine Reise durch unbekannte Länder und merken, dass sie trotz, oder gerade wegen des vielen Fremden, ein wahres, festes Zuhause suchen. Jonoun ist die Person, die sich nicht einordnen lässt, die zwischen den beiden steht, für viel Unruhe sorgt und gleichzeitig auch einen Weg aus ihrer jetzigen Situation sucht.
Olga Grjasnowa zeigt sehr eindringlich, wie sehr diese Generation von Menschen, nach ihrem Weg suchen. Menschen, die aus fernen Ländern gekommen sind, hier in Berlin eine neue Karriere gestartet haben. Menschen die hart an sich, ihrem Körper arbeiten, sich verausgaben und nicht wissen, wie es weitergehen wird. Nicht einmal bei ihren sexuellen Neigungen sind sie sich sicher. Sie fliegen, wie die dreissig Vögel, um die halbe Welt und wissen nicht, dass sie ihr Glück nur bei sich selbst finden werden. So lange müssen sie fliegen, Autorennen bestreiten, in Clubs nach Befriedigung suchen, Drogen nehmen und sich mit ihrer Vergangenheit, ihren Eltern auseinandersetzen.
Ein fasziniernder Roman, der mich in Welten mitgenommen hat, in denen ich mich überhaupt nicht auskenne, die mir aber nach der Lektüre von Nino Haratischwilis Roman „Das achte Leben“ in einigen Passagen sehr bekannt vorgekommen sind. So schliesst sich der kleine literarische Kreis mit Autorinnen aus Deutschland, Aserbeidschan und Georgien. Eine Generation von SchriftstellerInnen, in denen viele erst mit zehn Jahren die deutsche Sprache lernten und mittlerweile die interssantesten Romane schreiben.

Leseprobe

Die Autorin liest auf Zehnseiten.de

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Mittwoch

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Heute haben
Allen Tate * 1899
Anna Seghers * 1900
Max Kruse * 1921
Jan Koneffke * 1960
Geburtstag,
und es der Todestag von Bruno Schulz, der am 19.11. auf offener Straße ermordert worden ist.
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Zu Ehren von Max Kruse zeige ich Ihnen eine kleine Szene mit dem singenden See-Elefanten und dem Pinguin aus „Urmel und der Eisberg“.

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=topM47JEsvU]
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Die Ulmer Südwestpresse berichtete über die Lesung von Karen Köhler bei uns in der Buchhandlung.
Hier geht es zum Artikel.
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Professor Astrokatz
„Universum ohne Grenzen“
Geschrieben von Dr.Dominic Walliman
Illustriert und gestaltet von Ben Newman
Übersetzt aus dem Englischen von Sylvia Prahl
NordSüd Verlag 16,99

Raketen, Raketen, Raketen.
Sie lassen uns nicht mehr los.

Abends wenn die Sonne untergeht gibt es oft einen farbenprächtigen Himmel. Der verschwindet schnell und es bleibt das Dunkel, aus dem immer mehr Sterne aufblinken. Es werden immer mehr und mehr und wenn es ganz dunkel ist, sehen wir das Größte was es gibt: Das Universum.
Aber was ist das eigentlich? Woraus bestehen die Sterne, die Planeten? Leben wir alleine im Universum? Die Sache ist so komplex, dass manchen Menschen ihr Leben lang daran forschen. Aber kein Grund dieses Buch gleich wieder zuzuklappen. Denn Professor Astrokatz ist der cleverste Kater, der durch die Nacht streift. Also: Anschnallen, es geht los, wir heben ab. Mit Professor Astrokatz ins Universum ohne Grenzen.
Wie gelangen Menschen eigentlich ins Weltall, woraus besteht ein Raumanzug, wie heiß ist es auf der Sonne und wie entstehen Sterne überhaupt? Und wie sehen Marsmenschen aus? Gibt es sie überhaupt? Keine Bange: Astrokatz hat für alles eine Antwort. Ob die allerdings immer stimmen, das sei dahingestellt.
Das Buch ist voller Infos, die sich alle gar nicht auf einmal erfassenlassen. Ein Bilderbuch, für diejenigen, die mehr wissen wollen, als in „normalen“ Kinderbüchern zum Thema Weltall/Universum steht. Wer kennt schon Sterne, die Rote Zwerge heissen, oder wie geht das eigentlich mit dem Urknall und stimmt es, dass man ihn immer noch hören kann. Fast unendliches Wissen ist hier eingstreut in eine freche Geschichte mit dem Kater und seinen Kumpels. Ob Erste Mondlandung, oder Meteoritenfall; es gibt fast gar nichts, was er nicht aus der Tasche zieht.
Der Retrostil in der Illustration und im Druckbild geben dem Buch ein gewissen Etwas. Es hat den Charme eines lange gesuchten und wiedergefundenen Buches des Grossvaters, aus dem er immer wieder zitiert hat.
Nun kann die Reise wieder weitergehen.
Ach: Wenn Sie wissen wollen, was „spaghettifiziert“ heisst, dann schauen Sie auf der Seite mit den Schwarzen Löchern nach. Achtung: Sie werden wahrscheinlich in das Buch hineingesogen, wie in diese Löcher.
Viel Vergnügen.
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Unsere Postkarten mit drei verschiedenen Motiven zum Ausmalen sind gestern eingetroffen. Fragen Sie nach. Wir verschenken sie an unsere kleinen KundInnen.

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