Donnerstag, 16.Januar

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Heute haben
Aleksandar Tisma *1924
Susan Sontag * 1933
Inger Christensen * 1935
Reinhard Jirgl * 1953
Geburtstag
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Rainer Maria Rilke
Wintermorgen

Der Wasserfall ist eingefroren,
die Dohlen hocken hart am Teich.
Mein schönes Lieb hat rote Ohren
und sinnt auf einen Schelmenstreich.

Die Sonne küßt uns. Traumverloren
schwimmt im Geäst ein Klang in Moll;
und wir gehn fürder, alle Poren
vom Kraftarom des Morgens voll.
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Fuchs 8 von George Saunders

George Saunders: „Fuchs 8“
Aus dem amerikanischen Englisch genial von Frank Heibert
Mit Illustrationen von Chelsea Cardinal
Luchterhand Verlag € 12,00

Solche Dinge passieren.
Da erscheint im Herbst ein kleines, buntes Buch von George Saunders, einem der wichtigsten Stimmen der USA und nennt sich „Fuchs 8“. So richtig beachtet wird es allerdings nicht, bis im Literarischen Quartett, kurz vor Weihnachten, Thea Dorn dieses Buch hochhält und meint, dass es das lustigste Buch aller Zeiten sei. Oder so ähnlich. Plötzlich wollen alle „Fuchs 8“ lesen und der Verlag kann nicht liefern. Mal hat das Barsortiment Exemplare, dann sind auch die wieder weg. Irgendwann sind alle Vormerkungen bei uns im Abholfach und einige Kund*Innen haben mittlerweile Ihre Bestellung vergessen und vielleicht auch Fuks 8.
Das ist der Lauf der Literatur.
Aber wer ist Fuks 8?
In seiner Großfamilie bekommen die Kinder keine Namen, sondern Nummern. Und er hat die acht. Was ihn zu einem Romanhelden werden lässt, ist seine Gabe „mänschisch“ zu verstehen und reden zu können. Dies hat er am Fenster zu einem Kinderzimmer gelauscht und gelernt. Dort wurde all abendlich vorgelesen. „Libe Leserinen und Leser: Zuers möchte ich sagen, Entschuldigung für alle Wörter di ich falsch schreibe.“ Was nützt ihm aber, die Menschen zu verstehen? Ganz einfach: In einem Brief an die Menschen (das ist dieser Roman) erzählt er seine abenteuerliche Geschichte, die er gerade erlebt hat und die sein Leben komplett aus der Bahn geworfen hat. Und wenn wir Menschen nicht achtgeben, geschieht mit uns noch Schlimmeres.
In seinem Revier wird ein Einkaufszentrum gebaut, eine Mall, oder wie er sagt „Moll„.
Der Boden ist wi Glas. Oder Eis. Und was wir da geseen haben, Froinde!“ Nämlich: „Zobedaf, mit gefangenen Kazzen!“, „ein klein Flus, der flos zwar, aber roch nich richtig“, dazu noch „falsche Fälsen“, „Boime“ und natürlich eine lange „Fressmaile„.
Hier beginnt die Vertreibung aus dem Paradies und George Saunders wirft sich wieder auf die Seite der Schwachen, der Aussenseiter, in dem er die Reise dorthin von Fuks 8 und seinem Freund Fuks 7 in dieser Form erzählt. Dies geht nicht gut aus. Fuks 8 findet jedoch nach langem Suchen ein neues Zuhause.
Ja, das Buch ist lustig, das stimmt schon. Aber es ist vielmehr ein Buch, wie Fuks 8 diese Tragödie überlebt und verarbeitet und wie wir Menschen mitten in eine Umwelttragödie schlittern, in dem es überall glitzern und klingeln muss und wir nicht daran denken, was wir durch unser Leben alles zerstören. Für mich ist es ein trauriges, sentimentales, hoffnungsvolles Buch, das man mindestens zweimal lesen und unendlich oft vorlesen sollte.

Leseprobe

Mittwoch, 28.August

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Heute haben
Johann Wolfgang von Goethe * 1749
Ernst Weiß * 1884
Liam O´Flaherty * 1896
Janet Frame * 1924
Jurij Trifonow * 1925
Arkadi Strugatzki * 1925
Mian Mian * 1970
Geburtstag
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Johann Wolfgang von Goethe
Sommer

Der Sommer folgt. Es wachsen Tag und Hitze,
und von den Auen dränget uns die Glut;
doch dort am Wasserfall, am Felsensitze
erquickt ein Trunk, erfrischt ein Wort das Blut.
Der Donner rollt, schon kreuzen sich die Blitze,
die Höhle wölbt sich auf zur sichern Hut,
dem Tosen nach kracht schnell ein knatternd Schmettern;
doch Liebe lächelt unter Sturm und Wettern.
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Sarah Wiltschek empfiehlt:

HERKUNFT von Saa Stanii

Saša Stanišić: „Herkunft“
Luchterhand Verlag  € 22,00

Saša Stanišićs Roman über seine Herkunft, über ein Land, das es nicht mehr gibt und eine Familie, die seither verstreut über den Erdball lebt, ist ein sehr privates, aber kein sentimentales Buch, das erzählt, was der Balkankonflikt für seine Familien bedeutete und welche Löcher er hinterlassen hat. Das zu verstehen hilft, was es heißt, fremd zu sein in einem Land und doch die Chance für einen Neuanfang zu bekommen, als 14-jähriger in Heidelberg. Erst viel später begreift der Autor, wie hart das deutsche Leben für seine Eltern gewesen war, wie sie sich kaputtgearbeitet haben, mit schlechten Jobs und schlimmen Gehältern. Zwei gut ausgebildete Menschen in ihren besten Jahren. Die Mutter Lehrerin in Jugoslawien, dann Arbeitskraft in einer Großwäscherei, der Vater in Deutschland auf Baustellen, wo er sich den Rücken kaputtmacht.
Saša hat Glück, wird unterstützt, in der Schule, unter Freunden. Fängt an zu schreiben, studiert, darf bleiben. Während die Eltern abgeschoben werden und in die USA auswandern. Seine Mutter lebt heute wieder in Kroatien, der Autor in Hamburg. Nur seine Großmutter war bis zu ihrem Tod die einzige Verbindung zur gemeinsamen geographischen Herkunft Višegrad.
Stanišić erzählt aus Erinnerungen, die er zum Teil selbst nicht verifizieren kann. Nicht weiß, ob es bloß Kindheitsbilder oder reale Ereignisse waren. So wie Erinnerung eben ist, lückenhaft, von Emotionen geleitet. Und während er versucht zu erinnern, vergisst seine Oma immer mehr, ist schließlich ganz in ihrer Demenz gefangen, sieht die Vergangenheit im Jetzt, während sie das Heute nicht mehr versteht.
Stanišić fragt seine Eltern nach ihren Erinnerungen und erzählt gleichzeitig sein eigenes Heute, als Schriftsteller und Vater mit. Verbindet seine Geschichte mit den Geschichten der vielen Flüchtenden, die er auf seinen Besuchen auf dem Balkan erlebt. Menschen, die wie er ihre Heimat verlassen müssen, die aber vor verschlossenen EU-Außengrenzen stehen. Er und seine Mutter hatten Glück damals. Das Buch erzählt eine persönliche Geschichte von Flucht und Ankunft und von gelungener Integration, wenn man so will. Ein Roman, von dem wir lernen können und hoffen, dass auch unter den heutigen Geflüchteten viele dabei sind, die ganz ankommen dürfen und unser Land und unsere Sprachen mit ihren Geschichten bereichern.

Herkunft“ steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2019.

Dienstag, 4.Juni

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Heute haben
Karl Valentin * 1882
Val McDermid * 1955
Marie NDiaye * 1967
Geburtstag.
Aber auch Cecilia Bartoli.
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Karl Valentin

„Als ich das Licht der Welt und sodann die Hebamme erblickte, war ich sprachlos. Ich hatte diese Frau ja noch nie in meinem Leben gesehen.“

„Mögen hätt ich schon wollen,
aber dürfen hab ich mich nicht getraut.“
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Susanne Link empfiehlt:

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Leila Slimani: „All das zu verlieren“
Aus dem Französischen von Amelie Thoma
Luchterhand Verlag € 22,00

Die Journalistin Adele führt ein Doppelleben: einerseits lebt sie
eine abgesicherte, bürgerliche Existenz mit Ehemann und Kind und
andererseits lebt sie sexuelle Sehnsüchte und Obsessionen aus. Leila
Slimani beobachtet Adeles Tanz auf dem Vulkan und beschreibt großartig
dieses Leben nahe des Abgrunds.

Leseprobe
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Heute abend wieder Jastrams 1.Seite mit vier neuen Büchern und Clemens Grote.
Wir beginnen pünktlich um 19 Uhr.

Mittwoch, 17.April

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Heute haben
Thomas Middleton * 1580
Udo Werner Steinberg * 1913
Shimao Toshio * 1917
Kathy Acker * 1948
Geburtstag
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Silvia Trummers Ostergeschichten

Der Hase begibt sich mit seiner blauen Jacke auf Gleis fünf und besteigt den Regionalzug. Kein Mensch im Abteil. Der Zug fährt ab.
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Sarah Wiltschek empfiehlt:

Alles ist moeglich von Elizabeth Strout

Elizabeth Strout: „Alles ist möglich“
Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth
Luchterhand Literaturverlag € 20,00
Elizabeth Strout erzählt in „Alles ist möglich“ aus dem Leben der Kleinstadtbewohner von Carlisle. Und erinnert dabei durchaus an Kent Harufs tollen Roman „Lied der Weite“.
Die Lebensgeschichten der Frauen und Männer sind Einblicke in einfache, oft ärmliche Verhältnisse und zeigen das Leben ehrlich und wahrhaftig mit all seinen dringlichen Fragen, Nöten, aber auch seinen unerwarteten Freuden und der immerwährenden Hoffnung. Strout widmet jede ihrer Figuren ein Kapitel und findet für alle einen eigenen Erzählton. All diese Lebensläufe sind auf irgendeine Weise miteinander verknüpft. Die Figuren erzählen so das Leben der anderen, in Hinblick auf das eigene. Männer, die vom Vietnamkrieg gezeichnet und traumatisiert sind, Frauen, die mit 70 einen Neuanfang wagen oder sich als Pensionsbesitzerin emanzipieren und unerwünschte Gäste vor die Tür setzen. Menschen, die Mitgefühl zeigen und andere, die diesen misstrauen, weil sie sich selbst zutiefst schuldig fühlen.
Da ist Tommy Guptill, dem der ganze Hof abbrennt und damit all sein Hab und Gut. Doch er verbittert nicht. Sieht es als Zeichen Gottes, dass ihm bleibt, was ihm am teuersten ist: seine Frau und seine Kinder.
Dann ist da Lucie Barton, die der bitteren Armut und Gewalt ihrer Kindheit entflohen ist und es zu einer kleinen Berühmtheit gebracht hat. Jetzt sieht man sie in Talkshows und gerade ist ihr neustes Buch auf den Markt gekommen, was auch die Bewohner von Carlisle mit Stolz erfüllt. Doch als Lucie Barton einen Lesungstermin für einen Besuch in ihrem Geburtstort nutzt, holt die Vergangenheit sie ein und sie muss schleunigst zurück in die Großstadt.
Strout schreibt in einer Sprache, die sich wunderbar liest, in Geschichten, die man unbedingt immer weiterlesen möchte!

Auf der Seite von Randomhouse habe ich dieses Interview gefunden.
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Heute abend, Mittwoch, 17.April um 19 Uhr
Lesereihe „Wortreich“

Das Theater Ulm zu Gast
Bei uns in der Buchhandlung
Wort-Reich – Die Lesereihe: Sagenhaftes und Gespenstisches
Mittwoch, 17. April 2019, 19 Uhr, Kulturbuchhandlung Jastram, Eintritt: € 8,00

Als sich die Menschen noch untereinander durch Erzählen unterhielten, waren Legenden und Sagen beliebter abendlicher Gruselstoff. So verbreiteten sich diese Geschichten über Ländergrenzen hinweg, unter anderem auch die von jenem mit einem Fluch belegten Seefahrer, der nur durch die Liebe einer Frau erlöst werden kann. Richard Wagner vertonte die Sage vom Fliegenden Holländer in seiner gleichnamigen Oper – die Neuinszenierung am Theater, aber auch der aktuelle Ballettabend „Das kalte Herz“ sind Anlass für „Wort-Reich“, eine literarische Reise in die Fabelwelt der übernatürlichen Wesen und seltsamen Erscheinungen zu unternehmen. Gewidmet haben sich dieser faszinierenden Sphäre ja nicht nur dubiose Groschenheft-Schreiber, sondern stets auch Dichter von Rang. Aus der Fülle an unheimlichen Geschichten der Literaturgeschichte stellen Ihnen die Schauspieler Stephan Clemens und Nicola Schubert gemeinsam mit Chefdramaturg Dr.Christian Katzschmann Werke aus alter oder jüngerer Vergangenheit vor: ein Lektüre-Abend mit Gänsehaut-Charakter, aber auch Heiterkeit, musikalisch begleitet vom Oboisten Felix Goldbeck.
Karten gibt es direkt in der Buchhandlung.

Donnerstag, 17.August

Heute haben
Theodor Däubler * 1876
Ted Hughes * 1930
VS Naipaul * 1932 (Nobelpreis 2001)
Herta Müller * 1953
Jonathan Franzen * 1959
Geburtstag.
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Heute vor einem Jahr haben wir hier den Lyrikband „Nachgetragenes“ von Silvia Trummer vorgestellt und u.a. folgendes Gedicht veröffentlicht:

Suche

Manchmal taste ich mich
mit bloßen Händen
durch das Gestrüpp
wirrer Gedanken.

Ich möchte Worte finden
wie Bäume in einer Allee,
durch die das Licht fällt
am frühen Morgen.

Silvia Trummer: „Nachgetragenes„
Gedichte von 1988 bis 2005
Verlag Wolfbach € 18,00
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Gestern frisch ausgepackt:

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Leila Slimani:Dann schlaf auch du
Luchterhand Verlag € 20,00

https://www.youtube.com/watch?v=0pppZIFnmwQ

Der erste Satz des Romanes zeigt uns gleich, dass es für das Kind, für die Kinder nicht gut ausgeht. Leila Slimani braucht auch gar nicht den überraschenden Schluss, sondern nimmt uns mit auf die verschlungenen Wege, bis es zu diesem tragischen Ende kommt. Dieser zweite Roman der franko-marokkanischen Autorin wurde mit zahlreichen Auszeichnungen versehen, u.a. auch mit dem Prix Goncourt.
Myriam und Adam könnten glücklich sein. Sie leben mitten in Paris, haben zwei gesunde Kinder und Adam bringt mit seinen Musikjobs genügend Geld mit nach Hause. Als Myriam ein Angebot bekommt, wieder als Anwältin zu arbeiten, ist schnell klar, dass eine Nounou, eine Nanny, ein Kindermädchen gebraucht wird. Nach einem langen Casting entscheiden sich die jungen Eltern für die ältere Louise, die sich sehr schnell als wahre Perle entpuppt. Sie versteht es ausgezeichnet mit den Kindern, macht den Haushalt und kocht ausgezeichnet, so dass immer öfter Einladungen ausgesprochen werden, bei denen ausgiebig diniert wird.
Doch irgend etwas stimmt mit Louise nicht. Dies erfahren wir in Rückblicken, in denen uns die Autorin das kleine Leben von Louise zeigt. Ein Leben, dem sie nicht entfliehen kann, das sie geprägt hat und sozial an den Rand stellt. In dem von ihr betreuten Haushalt zeigt sie ein anderes Gesicht, keiner ahnt etwas von ihrem „anderen“ Leben und gleichzeitig möchte sie diese Arbeit auch nicht verlieren.
Leila Slimani hat hier keinen Thriller geschrieben, sondern zeigt anhand ihrer beiden Hauptfiguren Louise und Myriam, wie beide Frauen in unterschiedlichen Zwängen festsitzen und verzweifelt versuchen, ihnen zu entfliehen.
Es ist keine leichte Lektüre, aber ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen.
Die heutige BRIGITTE vergab an das Buch fünf von fünf Punkte.

Freitag

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Heute haben
Marcel Proust * 1871
Günther Wiesenborn * 1902
Paul Wühr * 1927
Alice Munro * 1931
Kurt Brasch * 1937
Geburtstag

„Longtemps je me suis couché de bonne heure“
Der erste Satz aus der „A la recherche du temps perdu“ von Marcel Proust.
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Ach, was ist das im Moment für ein tolle literarische Zeit.
Rainald Goetz bekommt den Büchner Preis und Nora Gomringer den Bachmann Preis. Grossartig. Da gibt es einigen Nachholbedarf.
Ganz aktuelle Romane stehen gerade nicht an, dafür trudeln aber herrliche Perlen ein. „Sinn und Form“, „Die neue Rundschau“ mit den Briefen von Milena Jesenská aus dem Gefängnis, die Hefte vom Lyrik Kabinett, den wunderbaren japanischen Gedichtband im Secession Verlag und viele wunderbare andere Schätze. So können wir uns hier ein wenig vertiefen, bevor wir wieder mit dem Ritt durch den Neuheiten Tsunami beginnen.
Gestern gab es „Die fünfte Dimension“ von Ulrike Draessner und das hat mir soviel Spaß gemacht, dass ich den letzten Gedichtband von ihr aus dem Regal gezogen habe und erstaunt feststellte, dass das Nashorn-Gedicht im Buchdeckel abgedruckt ist.

subsong

Ulrike Draesner: „Subsong“
Gedichte
Luchterhand Verlag € 18,99
als E-Book € 14,99

Subsong,whispersong oderPlaudergesang ist eine Art meist relativ leisen Gesangs von  Singvögeln. Er unterscheidet sich merklich vom Territorialgesang der jeweiligen Vogelart und tritt auch bei Arten auf, die nicht singen, um Reviere zu markieren. Man hört die Plaudereien von Jungvögeln, die noch nicht um Brutplätze oder Weibchen
konkurrieren, oder von erwachsenen Vögeln außerhalb der Brutzeit. Der Subsong besteht in der Regel aus Rufen und plappernden Lautserienund kann Imitationen beinhalten. Er ist stark individuell geprägt.Subsongs wurden in der Vogelforschung lange ignoriert. Dabei sind siebesonders schön: Es wird familiengeschwätzt, gelallt, versucht, die Kehle geölt. Subsong ist: Melodie hinter der Melodie, Melodie in Teilen, im
Aufbau, auf dem Weg zu etwas Neuem. Halb Rauschen, halb Freude. Die
Ornithologie erwägt: »Möglicherweise handelt es sich um Erprobungen des Vokabulars.« Ohne es zu bemerken beobachtet man Poesie. 

Ulrike Draesner hat hier eine Mischung von Gedichten zusammengestellt, die sich nicht so einfach lesen lassen. die meisten zumindest. Nicht in der gewohnten Reimform ist diese Lyrik, oft in ungewohntem Satzspiegel, auf den Seiten zu finden. Die Autorin, probiert, versucht, verdreht, findet und stellt neu zusammen. Sie entdeckt Altes und kramt in ihren Erinnerungen. Sie geht zurück bis Petrarca und tobt sich in ihren Kindheitshörfehlern bei Beatlesliedern aus.

„weißschenklig stülpt / sekundenschnell hahn sich schwanz / übern kopf stelzt sprühender phallus / der statt zu dringen fluoresziert / konvulsierende schönheit / party im blitz.“

So klangt bei ihr der Petrarcasche Vogelgesang in Neuinterpretation.
Hier wird aus Ernstem Nonsense und daraus vielleicht eine neue Wirklichkeit. Wie in ihrer Rede, geht sie zurück zu den Ursprüngen der Sprache, bricht sie auf und formt neu. Sie kommt auf die kindliche Sprachentwicklung zu sprechen und beginnt mit einem Gedicht „ohne R“. Später klappt es, das Kind kann den Buchstaben ausprechen und das Gedicht „mit R“ beginnt dann so:

paprika mamrika
seit drei tagen kann sie das r und
wie sagte sie »paprika« nach der kita
»mamrika« wir lachten liefen riefen
ros: …

Als Jugendliche hörte sie, wie wir alle, Lieder der Beatles und verstand natürlich einiges falsch, sang trotzdem lauthals mit. Diese Idee hat sie hier verfeinert und wir bekommen auf der linken Buchseite die original Beatlestexte zu lesen und rechts ihre Variationen, wie sie bei ihr im Langzeitgedächtnis wieder aufgetaucht sind.

Yellow Submarine

In the town where I was born,
Lives a man who sailed to sea,
And he told us of his life,
In the land of submarines.
….
We all live in a yellow subamrine

Gelbe Suppmarie

In den Au’n, wo ich war Sporn,
Man im Lift „hu!“ sagte „sieh!“,
rollte uns sein leben vor
tief im Land der Suppmarie

Wir hier drin in’ner gelben Suppmarie

„Poesie wirkt hier als Totengräber der Nostalgie.“, sagt sie selbst über ihre Arbeit. Es ist eine nach vorne gewandte Poesie, ein neues Herausfordern mit Hilfe der Lyrik. „What is Poetry?“, fragt sie in einem Gedicht und dieser Frage geht sie in diesem Buch auf verschiedenste Weise sehr gekonnt nach.

Dazu noch Jay-Z: „Rap is Poetry“

Freitag

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Heute haben
Edmund Wilson * 1895
Gertrud Fussenegger * 1912
Thomas Pynchon * 1937
Pat Barker * 1943
Roddy Doyle * 1958
Geburtstag

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Unser heutiger Buchtip:

1

Lena Andersson: „Widerrechtliche Inbesitznahme“
Originaltitel: Egenmägtikt förfarande
Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs
Luchterhand Verlag € 18,99

„Wer verlässt, spürt keinen Schmerz. Wer verlässt, braucht nicht zu reden. Wer verlässt, ist fertig. Das ist der große Schmerz. Wer verlassen wird, muss dagegen bis in alle Ewigkeit reden. Und dieses ganze Gerede ist nur der Versuch, dem anderen zu sagen, dass er sich geirrt hat. Wenn er nur einsähe, wie die Dinge wirklich liegen, würde er sich nicht so verhalten, dann würde er den anderen lieben. Bei dem Gerede geht es nicht darum, sich Klarheit zu verschaffen, was der Redende behauptet, sondern darum, zu überzeugen und zu überreden.“

„Ein Roman über die Liebe“ nennt die Autorin ihren Roman. Allerdings nicht auf dem Schutzumschlag, sondern erst bei dritten Erwähnung des Titels. Damit hat sie auch mehr als recht, denn der Roman ist natürlich kein Liebesroman, der sich zu den anderen Büchern auf dem Sofa und neben dem Bett stapelt. Ganz im Gegenteil. Lena Andersson schreibt gerade über die Nichtliebe, über die Sehnsucht danach, über die Ablehnung der Liebe. Und es geht um die widerrechtliche Besitznahme, wie sie im schwedische Gesetzbuch verankert ist. Was passiert, wenn ich mir etwas aneigne, das mir nicht gehört? Wie werde ich „bestraft“, wenn ich mich an etwas unerlaubt vergreife und es mir einverleibe? Sie merken schon: keine normale Liebesgeschichte.
Ester Nilsson, Journalistin und Autorin, erhält den Auftrag über den bekannten Künstler Hugo Rask ein Portät in einer Kulturzeitschrift zu schreiben. Sie kennt den Künstler, hat sich mit ihm schon befasst und nimmt das Angebot gerne an. Was sich daraus entwickelt, ahnte sie wohl selbst nicht. Sie verliebt sich den deutlich änderen Mann, schläft mit ihm und fordert von ihm mehr, als nur ein, zwei Nächte im Bett. Er jedoch will davon gar nichts wissen, geht immer mehr auf Distanz, umso mehr sie ihm nahe kommt. Diese Psychogeschichte schreibt Ester Nilsson mit einem leichten Stil, dass wir beim Lesen schmunzeln, um im nächsten Moment mit Ester in ein tiefes Loch zu fallen. Aber genauso schnell rappelt sie sich wieder hoch, hält sich selbst auf Distanz, um beim kleinsten Funken wieder zu ihm zu springen. Er muss ja nur mit den Fingern schnippen.
Ein herrliches Lesevergnügen, ein schmales Buch mit großer Literatur.
Nicht umsonst bekam die Autorin für das Buch einen sehr bekannten schwedischen Literaturpreis und das Buch wurde ein Bestseller. Das wünsche ich ihm hier auch.

Lena Andersson (geb. 1970) ist Journalistin und Autorin. Sie arbeitet als Literaturkritikerin für Svenska Dagbladet und ist Kolumnistin bei Dagens Nyheter, Schwedens größter Tageszeitung. Sie wuchs in einem Vorort von Stockholm auf, wechselte aber als Jugendliche nach Torsby, um ihrer Leidenschaft fürs Skifahren nachzugehen. Andersson fuhr jahrelang wettkampfmäßig Ski, lebt inzwischen aber wieder in Stockholm, wo sie sich einen Namen als streitbarste zeitgenössische Kritikerin des Landes gemacht hat. Für „Widerrechtliche Inbesitznahme“ bekam sie den renommiertesten Literaturpreis Schwedens, den Augustpreis, verliehen. Der Roman stand monatelang auf Platz eins der Bestsellerliste., schreibt der Verlag.

Leseprobe