Dienstag

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Heute haben
André Malraux * 1901
Dieter Wellershoff * 1925
F.K.Waechter * 1937
Martin Cruz Smith * 1942
Jan Faktor * 1951
Geburtstag

Unser heutiger Buchtipp:

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Ilija Trojanow und Susann Urban: „Durch Welt und Wiese
oder Reisen zu Fuß
Andere Bibliothek Bandnummer: 370
Die hier vorliegende Buchnummer: 3887 von 4.444 Exemplaren
€ 42,00

IMG_6523IMG_6524IMG_6525IMG_6526IMG_6527IMG_6528Trojanow. der deutschprachige Weltenbummler, Schriftsteller, politisch engagierter Schreiber, Herausgeber und Hans Dampf in der Literaturwelt, hat hier mit Susann Urban eine Sammlung literarischer Texte zum Thema „Gehen“ herausgebracht. Gegangen wird schon seit Langem und nicht erst seit der neuen Pilgerbewegung und „Ich bin dann mal weg“. Gehen unterscheidet uns auch von den Tieren, denn diese hüpfen, springen, schleichen, rennen. Aber dieses gezielte, gewollte Gehen ist etwas sehr Besonderes, sagt Trojanow. Mit dem Auto fahren wir in unserem Leben ca. 820.000 km. Zu Fuss sind es nur ca. 25.000 km. Gehen ist auch anarchistisch. Wir brauchen keine Wege, Straßen, Autobahnen, Geleise. „Durch Welt und Wiese“ heisst der Band und dies ist auch das Motto, das sich durch die Textausschnitte zieht. Gehen kann zur Droge werden. So hat der Ex-Junkie und jetziger englische Schriftsteller Will Self mit ein paar Meilen angefangen und absolviert mittlerweile locker 100-Meilen-Märsche. Überhaupt die Engländer. Laut Trojanow sind sie die Wanderkönige. Nirgends wird dort in der Literatur so viel gegangen. Inklusive der SchriftstellerInnen, die sich auch dieser Fortbewegungsart verschrieben haben. Bei den Brontes wird über die Felder marschiert, genau so in den Romanen von Jane Austen. Trojanow zählt noch mehr englischer Geher auf, von denen wir nicht ahnten, wieviel sie zu Fuss unterwegs waren.
Werner Herzog sagt: „Nur wer geht, sieht die Mäuse.“
Wenn wir mal schnell Milch holen gehen, dann beanspruchen wir 600 Muskeln und 100 Gelenke und die Outdoor-Industrie hat einen riesigen Markt, den es zu bedienen gilt.
„Gehen ist eine Reise aus der Welt, die wir geschaffen haben, in die Welt, die uns geschaffen hat“, schreibt Trojanow. Es gab große Wanderungen, die in die Literatur eingegangen sind. Nach Italien wurde gewandert, über die Alpen und nach Syrakus. Eichendorffs Taugenichts war zu Fuss unterwegs, wie Tiecks Gestiefelter Kater. Es gab eine große Vagabunden-Bewegung, die dann durch die Nazis ausgelöscht worden ist. Der Tramp von Charlie Chaplin ist uns bekannt, wie die Trapper bei Jack London. Es gab die Grossstadtflaneure wie Franz Hessel, der uns seine Eindrücke von Berlin zu Papier brachte. Und natürlich Robert Walser, zu dessen Ehren ein Robert Walser-Gedächts-Rundweg errichtet worden ist, dessen Begehung lohnt.
Nach einem Vorwort von Ilja Trojanow, ist das Buch in sechs Kapitel aufgeteilt:

Aufbrüche
Betrachtungen
Meditationen
Spaziergänge
Entbehrungen
Verwandlungen

und enthält Texte u.a. von Balzac, Espedal, Thoreau, Stasiuk, Handke, Fermor, Büchner, Dickens, Stifter, Sebald, Robert Walser, Rosenlöcher, Poe, Woolf und natürlich Teju Cole, der ein mehr als grossartiges Erkundungsbuch über Manhattan geschrieben hat. Es folgen noch Basho, Seume, Ransmayr, David-Néel, Moritz und Jack Kerouac. Wobei dies nur ein Teil der AutorInnen ist.

Das würde eigentlich schon reichen für ein prall gefülltes Taschenbuch. Aber die Andere Bibliothek wäre nicht die Andere Bibliothek, wenn sie nicht auch noch Wert auf eine schöne Aufmachung legen würde. So kommt das Buch in einem Schuber und liegt, nach dem Herausschieben, grün und weich, wie Moos in der Hand.
Die Herstellungs-Angaben lesen sich dann so ähnlich wie eine Todesanzeige in der FAZ, wenn wir die vielen Namen einer adligen Familie lesen.

Dieses Buch wurde von Katja von Ruville, Frankfurt am Main (da müsste doch jetzt ein Komma hin, oder?) mit der Schrift DTL Documenta gesetzt und gestaltet.
Schlaufe und Bezug gestaltete Katja Holst, Frankfurt am Main.
Die Herstellung betreute Katrin Jaobson, Berlin.

Das Memminger MedienCentrum druckte auf 100 g/qm holz- und säurefreies, ungestrichenes Munken Pure.
Dieses wurde von Artic Paper ressourcenschonend hergestellt.
Den Einband besorgte die Verlagsbinderei Conzella in Aschheim-Dornbach.
Das Bezugsmaterial heißt Softy White. Es wurde im Offset bedruckt und kommt von der Firma Favini.

Jetzt nur noch € 42 auf die Theke der Buchhandlung legen und das Kunstwerk gehört Ihnen.

Johann Gottfried Seume: „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802

Erster Teil. Von Leipzig nach Syrakus
Dresden, den 9ten Dez. 1801

Ich schnallte in Grimme meinen Tornister, und wir gingen. Eine Karawane guter gemütlicher Leutchen gab uns das Geleite bis über die Berge des Muldentals, und Freund Großmann sprach mit Freund Schnorr sehr viel aus dem Heiligtume ihrer Göttin, wovon ich Profaner sehr wenig verstand. Unbemerkt suchte ich einige Minuten für mich, setzte mich oben Sankt Georgens großem Lindwurm gegenüber und betete mein Reisegebet, daß der Himmel mir geben möchte billige, freundliche Wirte und höfliche Torschreiber von Leipzig bis nach Syrakus, und zurück auf dem andern Wege wieder in mein Land; daß er mich behüten möchte vor den Händen der monarchischen und demagogischen Völkerbeglücker, die mit gleicher Despotie uns schlichten Menschen ihr System in die Nase heften, wie der Samojete seinen Tieren den Ring.

Nun sah ich zurück auf die schöne Gegend, die schon Melanchthon so lieblich fand, daß er dort zu leben wünschte; und überlief in Gedanken schnell alle glücklichen Tage, die ich in derselben genossen hatte: Mühe und Verdruß sind leicht vergessen. Dort stand Hohenstädt mit seinen schönen Gruppen, und am Abhange zeigte sich Göschens herrliche Siedelei, wo wir so oft gruben und pflanzten und jäteten und plauderten und ernteten, und Kartoffeln aßen und Pfirschen: an den Bergen lagen die freundlichen Dörfer umher, und der Fluß wand sich gekrümmt durch die Bergschluchten hinab, in denen kein Pfad und kein Eichbaum mir unbekannt waren.

Die Sonne blickte warm wie im Frühling, und wir nahmen dankbar und mit der heitersten Hoffnung der Rückkehr von unsern Begleitern Abschied. Noch einmal sah ich links nach der neuen Mühle auf die größte Höhe hin, die uns im Gartenhause zu Hohenstädt so oft zur Grenze unserer Aussicht über die Täler gedient hatte, und wir wandelten ruhig die Straße nach Hubertsburg hinab. In Altmügeln empfing man uns mit patriarchalischer Herzlichkeit, bewirtete uns mit der Freundschaft der Jugend und schickte uns den folgenden Morgen mit einer schönen Melodie von Goethens Liede – Kennst du das Land? – unter den wärmsten Wünschen weiter nach Meißen, wo wir eben so traulich willkommen waren. Wenn wir uns doch die freundlichen Bekannten an der südlichen Küste von Sizilien bestellen könnten! Die Elbe rollte majestätisch zwischen den Bergen von Dresden hinab. Die Höhen glänzten, als ob eben die Knospen wieder hervorbrechen wollten, und der Rauch stieg von dem Flusse an den alten Scharfenberg romantisch hinauf. Das Wetter war den achten Dezember so schwül, daß es unserm Gefühl sehr wohltätig war, als wir aus der Sonne in den Schatten des Waldes kamen.
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Heute abend können Sie auch gerne mit dem Rad kommen und Clemens Grote zuhören, wie er aus vier Büchern vorliest, die wir ab 19Uhr bei uns in der Buchhandlung vorstellen.

Freitag

Heute haben
Clara Reeve * 1729
Stendhal * 1783
Sergej Eisenstein * 1898
Anna Maria Jokl * 1911
Derek Walcott * 1930
Joao Ubaldo Ribeiro * 1941
Geburtstag.
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Michel de Montaigne: „Von der Kunst, das Leben zu lieben“
Montaigne lesen heißt leben lernen
Die schönsten Essais in der Übersetzung von Hans Stilett
Bei dtv als Taschenbuch für € 9,90
In der Anderen Bibliothek in Leinen für € 16,00

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Was Wilhelm Schmid mit seinen kleinen Bändchen über „Glück“ und „Gelassenheit“ usw. kann, schafft der alte Montaigne ganz locker.
Die Neuübersetzung seiner Essais von Hans Stilett sorgten Ende der 90er Jahre für Furore und für die „Andere Bibliothek“ war das große, dicke Buch ein wahrer Bestseller. Endlich entstaubt und für uns Menschen im 20.Jahrhundert gut lesbar zugänglich gemacht, ist die Sammlung eine wahre Fundgrube.
Das hat auch der Übersetzer entdeckt und bringt immer wieder Themen-Bändchen des großen Philosophen heraus. „Von der Kunst, das Leben zu lieben“, erschien schon 2005 bei dtv, GESTERN kam es zum 30.Geburtstag der „Anderen Bibliothek“ in Geburtstagsleinen einen heraus.

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Lachend die Wahrheit sagen
Lesen
Lieben
Freundschaft und Geselligkeit pflegen
Reisen
Essen und Trinken
Tanzen
Mode und Luxus mit Augenmaß genießen
Mit Geld vernünftig umgehen
Praxisbezogen Philosophieren
Der eignen Erfahrung vertrauen
Schlafen und Träumen
Kultur und Kunstsinn der »Wilden« bewundern
Lehrmeister Tier folgen
Krankheiten höflich behandeln
Den Tod nicht fürchten

Das sind die Kapitel, die der Übersetzer zusammengestellt hat und da dürfte für jeden etwas dabei sein.

„Der Gestank des eigenen Mistes ist jedem der liebste Duft.“, können wir unter dem Stichwort „Eitelkeit“ finden.
Oder aber auch das: „Das deutlichste Zeichen der Weisheit ist ein stetes Vergnügtsein.“
Aktuell wie nie (liebe EZB): „Ohne Geldgier zu sein, ist Reichtum.“
Aber auch das: Auf geistige Weise sinnlich, auf sinnliche Weise geistig.“
Darüber lässt sich lange diskutieren.

Ein kurzes, prägnantes Vorwort von Hans Stillet führt uns in die Denkweise von Montaigne ein und macht auch klar, warum und wie Stilett seine Kapitel zusammengesetzt hat.

„Ich habe bisher kein ausgeprägteres Monster und Mirakel gesehen als mich selbst“, schreibt er und meint, dass er aus sich nicht klug wird. Ja, das kenne ich auch sehr gut.
Auch zum Thema „Mode“ weiß er etwas zu schreiben:
„Ich habe die Lässigkeit in der Kleidung, wie man sie an unsrer Jugend sieht, gern übernommen: den Mantel schräg umgebunden, die Kapuze auf einer Schulter, einen Strumpf nicht straffgezogen – zeigt das doch eine stolze Geringschätzung der uns fremden Modevorschriften und eine große Gleichgültigkeit gegenüber kunstvoller Aufmachung.“
Man kann sich den Denker gut vorstellen, wir er etwas vernachlässigt, vergeistigt durch die Straßen gewandelt ist.

„Von der Kunst, das Leben zu lieben“ ist ein kleines, großes Nachschlagewerk, das oft sehr aktuell ist und in seiner Antiqiertheit immer noch ausgezeichnete Verweise auf unsere aktuellen Probleme aufweist.

„Das Vorbedenken des Todes ist Vorbedenken der Freiheit. Wer sterben gelernt hat, hat das Dienen verlernt. Sterben zu wissen entlässt uns aus jedem Joch und Zwang. Das Leben hat keine Übel mehr für den, der recht begriffen hat, dass der Verlust des Lebens kein Übel ist.“

Leseprobe

Montag

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Heute haben
Anna Wimschneider * 1919
Erich Segal * 1937
Joyce Carol Oates * 1938
Alexandra Marinina * 1957
Robert Schneider * 1961
Geburtstag
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Der Jastram-Sommerwettbewerb hat sein erstes Kunstwerk.

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Amélie Mathieu (6 Jahre alt), hat ihr Lieblingsessen gemalt (Spaghetti mit Hackfleischsoße, dazu Sprudel) und ohne zu Zögern ihr aktuelles Lieblingsbuch „Seeräuber-Moses“ dazu ausgewählt.Werner Färber
Vielen Dank, das ist wirklich super geworden.
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Werner Färber: Ungereimtheit der Woche

HÜFTGOLD

Ewig lockt die Schokolade.
Wenn ich doch mal ignoriere
im Vorbeigeh’n jene Lade,
in der sie liegt, ich jäh verliere
den Kampf mit meinem Schweinehund:
Ich ess‘ die ganze Tafel auf
und packe damit Pfund um Pfund
auf eh’mals schlanke Hüften drauf.

(Ungereimtheiten aus der Tierwelt CCLVII)

NUSSHÖRNCHEN & HEFESCHNECKE
Es liegen zum Verzehr bereit
Nusshörnchen und Hefeschnecke.
Auch liegen sie in tiefem Streit,
wer von beiden besser schmecke.

Im Lauf des Tags verhärten sich
a) die Teilchen und b) der Streit,
bis am Nachmittag steht endlich
jemand als Schiedsrichter bereit.

Er isst beide auf der Stelle,
gießt schnell zwei Kaffee hinterher,
meint dann, dass er auf alle Fälle
zunächst mal nicht mehr hungrig wär.
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Michel de Montaigne: „Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581
Übersetzt aus dem Französischen, mit einem Essay, Anmerkungen und Register von Hans Stilett
Andere Bibliothek Band 349
im Aufbau Verlag

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Kaum hatte Montaigne seine Essais fertig, für die er neun Jahre in seinem Turm saß, machte er sich auf eine 17monatige Reise durch Deutschland, Schweiz und Italien. An Ulm kurvt er knapp vorbei (wie immer in der Weltliteratur, wenn Ulm vorkommt), schreibt aber ausführlich über Augsburg. Dabei wird erste Teil der Reise (bis nach Italien) von einem Mitreisenden auf Französisch geschrieben, der Rest dann von ihm selbst auf Italienisch und Französisch.

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Montaigne ist ein genauer Betrachter, was die Sitten der einzelnen Städte und Landschaften betritt. Wir reisen mit ihm auf seinen Pferden und Kutschen mit, erfahren, ob die Betten der Herbergen gut waren, ob sie überhaupt Matratzen hatten und wieviele Flöhe. Durch seine vielen Einladungen bekommt er (und wir mit ihm) Einblick in die verschiedensten Paläste und Herrenhäuser. Obwohl es eine beschwerliche Reise gewesen sein muss, fließt dies nicht  in seinen Bericht ein. Montaigne richtet seinen Blick nach vorne und ist wahnsinnig gespannt, was ihn täglich erwartet. Es müssen einige Überraschungen dabeigewesen sein. Es geht über die Alpen und am Po entlang. Durch Venedig und Florenz und gleich zweimal nach Rom. (Sehr gut!) Was für ihn wohl das Wichtigste im italienschen Teil der Reise war, sind seine Besuche in diversen Heilbädern. Seine Nierensteine und Koliken machten ihm extrem zuschaffen. Und so wissen wir am Ende des Buches auch viel über diese kleine Steine, die er mit mehr oder weniger Schmerzen ausscheidet. Wir lernen mit ihm die Unterschiede dieser Steine kennen. Ihre Form, Konsistenz und Farbe. Ha! Herrlich diese Beschreibungen. Fast tut es mir als Mann beim Lesen weh. Herrlich auch die Mengen an Heilwasser, die er zu sich nimmt. 7 Pfund auf ex sind keine Seltenheit. Mein Gott, das sind 3,5 Liter. Goethe hat seinen Reisebericht sehr gelobt und teilweise über seine Essais gestellt. Wahrscheinlich hat sich der alte deutsche Großmeister in diesen Beschreibungen wiedergefunden.

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Montaigne Reise vor 430 Jahren (habe ich richtig gezählt?) entführen uns in eine ferne Zeit, die jedoch in der Übersetzung von Hans Stilett überhaupt nicht antiquiert zu lesen sind, sondern oft wie ein aktueller Bericht erscheinen. Das Buch ist herrlich in zwei Farben gedruckt, hat einen schönen, langen Anhang mit Kommentaren, vielen alten Stichen und einer Zeichnung der Reise.
Vielleicht ist es auch ein Buch, das Sie in Ihren Urlaub mitnehmen können, obwohl, oder gerade weil es so ein schön gemachtes Buch ist. Montaignes Beschreibungen der Koch- und Tischsitten in den diversen Gasthöfen, der Bordelle von Venedig, oder Teufelsaustreibungen schärfen unseren Blick für das Andere, dort wio wir gerade sind. Na, hoffentlich gibt es dort auch Anderes und nicht nur sat1 und Pro7.
Weiter so, liebe Andere Bibliothek, Eure schön gemachten Bücher mit Inhalten, die nicht im Mainstream mitschwimmen sind immer ein Blick wert.
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Mittwoch

Heute haben
G.Garcia Márquez * 1927
Günter Kunert * 1929
Geburtstag.
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Am kommenden Dienstag, den 12.März um 19 Uhr liest Fee Katrin Kanzler
bei uns in der Buchhandlung aus ihrem Buch:

Kanzler

Fee Katrin Kanzler: „Die Schüchternheit der Pflaume
Frankfurter Verlagsanstalt € 19,90

So beginnt der Roman:

Die Schüchternheit der Pflaume

Du kennst die mehlige Schicht, die eine frische Pflaume hat. Was sie matt macht und blassblau statt dunkel, diese dünne Schicht, dieses Anstandspuder überm tiefen Violett, die Schüchternheit der Pflaume. Wenn du die Pflaume anfasst, reibt sich diese Schicht ab, und die Pflaumenhaut beginnt zu glänzen.
Eine Tomate essen, auf offener Straße. Wie dich die Passanten ansehen. Weil du beißt, saugst, mit den Lippen, der Zunge das Überfließen des kernigen Safts verhinderst. Tomatenkuss.
Das saugende Geräusch beim Öffnen einer Kaffeepackung. Die plötzliche Entspannung des Goldpakets, das Weichwerden des Kaffeepulvers, das beim Zusammendrücken
das Geräusch von feuchtem Sand macht. Du wirst merken, wie interessant solche Quisquilien sein können.
Mich begeistern Kleinigkeiten. Das Schöne ist überall, und wichtig. Wer es nicht sieht, geht unter. Zugegeben, wer es sieht, auch. Aber zusammen mit der Schönheit unterzugehen, das ist es, worauf es ankommt.

Fee Katrin Kanzler auf facebook.
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AB

U.D.Bauer: „O. T.“
Statt eines Nachwortes: Max Dax im Gespräch mit U. D. Bauer
Bandnummer: 339
Limitierte Ausgabe, in hochwertiges und bedrucktes Naturpapier gebunden, Fadenheftung, Lesebändchen, Buchgestalter: Friedrich Forssmann
Andere Bibliothek / Aufbau Verlag € 34,00

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O. T. zitiert, was uns im Museum begegnet: Werke „Ohne Titel“ in die Welt zu entlassen. U. D. Bauer kennen wir als Bildende Künstlerin. Ihr erstes literarisches Werk erzählt, was zunächst nicht der Rede wert scheint; die Geschichte eines Schriftstellers, der seinen Roman schreibt. Aber wie das U. D. Bauer gelingt, das haben wir bisher in der Literatur noch nicht gelesen – kein einziges Wort stammt von der Autorin selbst. „Mich gibt es gar nicht.“ O. T. ist wie ein Mosaik, ein Cut-up aus 3000 Zitaten der Welt- und Trivialliteratur und der Poesie. Die Liste der Zitierten reicht wortgewaltig von Dante bis Joyce, von Shakespeare bis Tolstoi – und wir erkennen alle klassischen Romanthemen einer Familiengeschichte: Dreiecksbeziehungen, Betrug, Totschlag, Inzest, romantische Sonnenaufgänge und einsames Verzweifeln am Schreibtisch. Das System „Zettel’s Traum“ begegnet uns wieder, ein vielstimmig erzähltes Universum aus Fundstücken und Aufgespürtem.
Sieht so der virtuos wie originell gefügte Endpunkt der Literatur aus? O. T. fügt der Diskussion um copy-and-paste, um Originalität und Autorschaft eine neue Facette hinzu. Und en passant wird O. T. zum Manifest für die Freiheit und Grenzenlosigkeit der Kunst.
Soweit der Verlag dazu.
Und vielleicht noch das:
„Ein Glücksfall!“ Alexander Kluge

Mich hat das Buch zuerst vom Einband her interessiert. Sie machen schon sehr schöne Bücher, die Andere Bibliothek. Dazu noch der Titel: „O.T.“ und das angehängte * dazu.
Im Innenteil geht es genauso schön weiter. Wunderbares Papier, zweifarbiger Druck.
Beiges Papier auf dem der Text wie auf weißen Papierschnitzeln aufgeklebt aussieht. Alles sehr fein und dezent. Aber doch irgendwie herausgeschnitten und neu verwertet. Dazu noch jede Menge Verweisnummer am Ende. 2857 sind es um genau zu sein.
U.D.Bauer hat also diesen Roman komplett aus Zitaten der Literatur zusammengetragen, -geklaut. Jedoch immer schön hingewiesen, woher sie es hat. Es geht los mit Bert Brecht, Nr.3 „Müßiger Leser“ ist von Cervantes und geht bis zum letzten Wort „Ende“ (Nr.2857) von Calvino. Dazwischen jede Menge Trivialliteratur, also nicht nur der hohe Kanon des Bildungsbürgertums.
Um was geht es aber im Roman?
Ein Schriftsteller will einen Roman schreiben. (Da sind wir ja schon fast wieder bei Calvino) Er macht sich Gedanken über seine Arbeit, sein Leben, er träumt und schreibt. Es gibt also wirklich eine Handlung, wobei die zu vernachlässigen ist. Schöner sind die Gedankensprünge, die Ideen, die dem Schriftsteller durch den Kopf hüpfen. Und was verwunderlich ist: Es ist wirklich flüssig lesbar. Irgendwann stören die Anmerkungszahlen nicht mehr, oder Sie wollen das gar nicht mehr sofort wissen, woher das Zitat kommt, sondern schauen am Ende einer Seite erst nach. Allerdings macht es auch Spaß bei den Hinweisen schauen und im Text dann das Zitat suchen. Vielleicht kennt man es ja.
Insgesamt also doch ein schönes Vergnügen. Wenn auch nicht ganz günstig. Dafür aber umso schöner. Zusätzlich sind die Exemplare der Erstauflage nummeriert. Dieses Exemplar trägt die Zahl 993.
Im Anhang ein Interview der Autorin mit Max Dax, in dem viel Erhellendes über die Denk- und Herangehensweise von U.D.Bauer erzählt wird.
Leider habe ich nicht mehr Fotomaterial, um Ihnen die Machart des Buches zu zeigen. Schauen Sie also in Ihrer Buchhandlung nach.
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„Disgrace“ von J. M. Coetzee
(gefunden bei UNYPL)