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Geburtstag.
Ganz neu als Taschenbuch liegt Rafael Chirbes Roman bei uns auf dem Büchertisch.
Die deutsche Originalausgabe erschien im Münchener Antje Kunstmann Verlag.
Rafael Chirbes: „Am Ufer„
Aus dem Spanischen: Dagmar Ploetz
btb € 10,99
Der spanische Autor Rafael Chirbes, der letzten Sommer gestorben ist, hat mit seinem letzten Roman ein unglaubliches Vermächtnis hinterlassen. Ernüchtert sieht er schwarz für die spanische Zukunft. Dazu gräbt er ganz tief in den Sümpfen der Vergangenheit, holt wie Dante die Leichen der alten Zeiten hervor und lässt tief in die Seelen sehr MitbürgerInnen blicken.
„Wegen der Krise werden meine Bücher jetzt in Spanien mehr gelesen. Die Leute sind sich bewusst, dass der soziale Aufstieg bei Weitem nicht für alle ist. Der Klassenkampf geht weiter, es gibt ein Oben und ein Unten, und der soziale Aufstieg ist nur in einigen wenigen Ausnahmefällen möglich. Der Nukleus der Macht reproduziert sich. Die Macht der großen und einflussreichen Familien Spaniens ist ungebrochen. Ein Großteil konsolidierte sich im 19. Jahrhundert. Es folgten die Franco-Zeit, die Demokratie, doch der Klassenkampf prägt nach wie vor die Welt. Ursprünglich wollte ich den Roman „Ein Held unserer Zeit“ nennen, weil er von einem Mann handelt, der nichts riskierte, dem die übliche Skrupellosigkeit abging.“
Im Mittelpunkt steht der 70jährige Esteban, der die Schreinerei seines Vaters übernommen hat. Er hat sich verspekuliert und alles verloren, Angestellte antlassen und sogar die Pflegerin seines dementen Vaters kann er nicht bezahlen. Er sieht für sich und seine Familie keine Zukunft mehr, obwohl er mit seinen 70 Jahrennoch sehr rüstig im Leben steht.
Chirbes lässt unterschiedliche Menschen zu Wort kommen, die den Ich-Erzähler ablösen. Überall in diesen Stimmen finden wir den Untergang, die große Ernüchterung nach dem Wirtschaftsboom. Immer größer wird die Schere zwischen arm und reich und von den jeweiligen Regierungen ist nicht viel zu erwarten. Einzig die Stimme der kolumbianischen Pflegerin Liliana bringt mit ihren leuchtenden Erzählungen aus ihrer Heimat einen anderen Ton in den Roman, obwohl sie jeden Grund hätte über ihren arbeitslosen, alkoholsüchtigen Ehemann zu jammern. Durch ihre Entlassung, geht es auch mit Estebans Vater rapiden bergab.
Chirbes gibt den Unterdrückten, den Hoffnungslosen, den zu kurz Gekommenen, den Einwanderern, den Arbeitern und Arbeitslosen eine Stimme. Menschen, die schuldlos in tiefe Krisen gestürzt wurden und die keine Hilfe erwarten können. Chirbes legt uns eine andere Geschichte Spaniens des 20.Jahrhunderts vor und wir erfahren durch ihn, wie es nach Bürgerkrieg, Francodiktatur und Demokratie zu dieser Krise kommen konnte.
„Ich gehe in all meinen Romanen von mir aus und meiner Projektion nach außen. Aus meiner Sicht ist die Welt ein Schrank mit vielen Anzügen. Wir alle tragen eine Vielzahl von Personen in uns, die sich je nach Umständen, Bestrebungen und Wünschen entwickeln. Im Grunde genommen bin ich all meine Romanfiguren. Im dem Roman „Der Fall von Madrid“ gibt es einen böswilligen Polizisten. Auf die Frage, wer mich zu dieser Figur inspiriert hätte, antwortete ich, der böswillige Teil in mir. Und bei der Frau, die vergewaltigt wurde, ging ich von meiner Fragilität aus.“
Chirbes Roman hat mich während und nach der Lektüre nicht mehr losgelassen. Seine Bilder, seine Symbole sind so plastisch, dass sie nicht leicht wegzuschieben sind. Ein sehr intensives, prallvolles Buch, in dem es um Leben und Tod geht, um ausgegrabene Erinnerungen, verlorengegangene Illusionen und Hoffnungen.
„Es ist ein Roman über das Ende des Lebens, über das Alter und den Tod. Wie einem das Alter, wenn es sich tatsächlich bemerkbar macht, viele Dinge lehrt, uns unsere Grenzen aufzeigt, etwa die Schwierigkeit, Liebesbeziehungen einzugehen.“
Eines dieser Symbole ist ein reales Sumpfgebiet in der Gegend der Kleinstadt Olba, dort wo der Roman spielt und auch dort wo Chirbes geboren wurde und gestorben ist. Hier liegen wirkliche Leichen und welche, die aus unseren Erinnerungen hochkommen und angeschwemmt werden.
„Ich erwähne diesen Sumpf schon in der ersten Zeile von „Krematorium“ neben den Baukränen und Maurerarbeiten. Ich hatte mir zuerst gesagt, er kommt ans Ende. Der Sumpf ist unberührt. Doch dann wurde mir klar, dass er sich ja gar nicht außerhalb der Geschichte befindet, sondern ein Teil von ihr ist. Der Sumpf enthält viele Elemente der spanischen Geschichte: Der Müll, der früher dort hineingeworfen wurde, die Toten des Bürgerkriegs, die Asphaltblöcke der Entwicklungsjahre, den Schutt des Baubooms, die Waffen der Mafia, das alles steckt im Sumpf.“
Trotz all dieser Düsternis, die meine Besprechung ausdrückt, war ich sehr fasziniert von Chirbes Roman, da er auch literarisch auf höchstem Niveau spielt, zwischen tiefer Depression und bitterbösem Sarkasmus angesiedelt ist und deutlich mehr als eine Analyse der spanischen Gesellschaft ist.
„Ich erahne eine finstere Zukunft. In dieser Schlacht zwischen Oben und Unten haben sie den Respekt vor uns verloren. Vor zehn Jahren verdiente jedweder Spanier mehr als heute. Dabei ist heute alles drei Mal so teuer wie damals. Es gibt keine Gegenbewegung von unten, und die da oben machen, was sie wollen. Sie kürzen die Gehälter, verschlechtern die Arbeitsbedingungen. Auf internationaler Ebene Interventionen nach Gutdünken. Sie machen einfach, was sie wollen.“
Leseprobe
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Stadthaus Ulm
17. Dezember 2015 bis 13. März 2016
Nadja Wollinsky: Am Rand
Fotografien aus Ulm, Neu-Ulm und Umgebung