Heute haben
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Adolfo Bioy Cesares * 1914
Max Goldt * 1958
Andreas Eschbach * 1959
Geburtstag
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Ina Seidel
Unsterblicher Lindenduft
Unsterblich duften die Linden
Was bangst du nur?
Du wirst vergehn,
und deiner Füße Spur
wird bald kein Auge mehr
im Staube finden.
Doch blau und leuchtend
wird der Sommer stehn
und wird mit seinem süßen Atemwehn
gelind die arme Menschenbrust entbinden.
Wo kommst du her?
Wie lang bist du noch hier?
Was liegt an dir?
Unsterblich duften die Linden.
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„Leben lernen“
Die Langenauer Autorin Fee Katrin Kanzler über ihren zweiten Roman.
Ein Gespräch mit Lena Grundhuber von der Südwestpresse Ulm.
KANZLER: In „Die Schüchternheit der Pflaume“ ging es um die Selbstbeobachtung der jungen Frau, der Roman war ja auch in der Ich-Perspektive geschrieben. Die Figur des Henry in „Sterben lernen“ basiert viel mehr auf der Beobachtung anderer Menschen, bei denen ich mich frage, ob sie glücklich sind, was sie eigentlich wollen im Leben. Henry ist ein Mann, der bald 40 wird und in der klassischen Midlife-Crisis steckt. Er hat so vor sich hin gelebt, obwohl er ursprünglich etwas anderes wollte. Die Figur ist doppelt gewagt für mich: Er ist ein Mann, der ein paar Jahre älter ist als ich und Erfahrungen hat, die ich selbst nicht habe – zum Beispiel mit Familie, mit einer heranwachsenden Tochter, zu der er keinen Draht hat. Da musste ich mich also sehr auf Beobachtung verlassen. Ich frage deshalb oft ganz bewusst Leute nach ihrem Leben und stelle fest, dass sie gerne erzählen. Viele finden es schmeichelhaft, wenn man sich mit ihnen beschäftigt.
In seiner Krise lernt Henry die 16-jährige Joe kennen, ein Outcast. Sie ist von der Schule abgegangen, um als Grabpflegerin zu arbeiten, trägt Dreadlocks, schläft mit dem Kneipier. Zwischen Henry und Joe entspinnt sich eine Art Beziehung.
KANZLER: Henry trifft auf dieses viel zu junge Mädchen, und sie bringt ihn darauf, dass er nicht glücklich ist. Er wird für sie in die Bresche springen und sich dabei selbst in Gefahr bringen . . . Mir ging es darum, einen Dialog zwischen den Figuren in Gang zu bringen, weil ich beim ersten Buch gespürt habe, dass sich die Protagonistin in ihrer Selbstbeobachtung stark einkapselt – da wollte ich rauskommen. Auch die Sprache ist eine leicht andere. Der erste Roman war wie ein schwerer Rotwein, jetzt ist der Ton leichter, humorvoller, sarkastischer. Ich hatte ein bisschen Angst, dass ich von der Grenze zum Schwulst, an der ich mich entlangbewegt habe, nicht mehr wegkomme. Jetzt bin ich sehr froh, dass mir das gelungen ist, ohne meine eigene Sprache aufzugeben.
Das Buch heißt „Sterben lernen“ – wieso?
KANZLER: Immer wenn es um den Tod geht, geht es ja eigentlich um das Leben. Sterben lernen heißt also leben lernen für Henry. In meiner Vorstellung fängt sein Leben nach dem gefährlichen Vorfall mit Joe gerade erst an.
Und was gilt es zu lernen?
KANZLER: Offen zu bleiben für Veränderung, denn wir leben in einer Welt, die uns ständig mit Neuem konfrontiert, in der Dinge nicht mehr sicher sind, die wir für sicher gehalten haben, Ich habe den Eindruck, dass unsere Generation sehr viel Veränderung mitbekommt und dass sich dieser Prozess beschleunigt. Auch in Beziehungen tut sich ja ganz viel. Die Lösung dafür können wir nicht mehr in vorgefertigten Formen suchen – dafür steht die Beziehung meiner zwei Protagonisten, die sich in jeweils fremde Leben hineinbegeben. Und so ist auch das Zitat von Tom Waits gemeint, das ich dem Roman vorangestellt habe: „Never drive a car when you’re dead“, also: wach bleiben.
Die Autorin Fee Katrin Kanzler, 35, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm, war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses und erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm sowie das Jahresstipendium vom Land Baden-Württemberg. Sie lebt in Langenau und arbeitet auch als Lehrerin für Englisch und Philosophie. „Sterben lernen“ ist wie ihr erster Roman bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen. (221 Seiten, 19.90 Euro). Die Zeichnungen auf dem Buch-Cover stammen von ihrer eigenen Hand.
Lesung in der Ulmer Buchhandlung Jastram am Freitag um 19 Uhr.
Alle Rechte bei der Südwestpresse Ulm
Eine dritte Leseprobe:
Kleine Anmerkung zu dem Gedicht von Ina Seidel
Mit dem Gedicht von Ina Seidel hat Hermann Glaser (in: Deutsche Kultur. Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart, Hanser 1997, S. 134) „abgerechnet“:
„Der blühende Schrebergarten deutscher Innerlichkeit, gehegt und gepflegt von den Hütern schöner Wortkunst, schien weder durch den Terror der Nationalsozialisten noch durch den totalen Zusammenbruch des Dritten Reiches gefährdet zu sein. […] Die dichterische Verklärung der Natur konnte Trost spenden und vermittelte Überlebenskraft; aber das „Grüne“ lenkte auch vom Grauen ab, begriff sich als „Zeichen“ eines ewigen Kreislaufes – „Unsterblich duften die Linden-/was bangst du nur?“ (Ina Seidel); darüber konnte leicht die Sensibilität für das Gegenwärtige-Entsetzliche verlorengehen. Der ästhetische Glanz […] anästhisierte den Realitäts- wie Möglichkeitssinn bzw. das Bewusstsein für die Notwendigkeit gesellschaftlichen Engagments.“
Soweit Hermann Glaser – warum nur liebe ich das Gedicht „trotzdem“ sehr?