Donnerstag, 15.September

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Heute haben
Karl Philipp Moritz * 1756
James Fenimore Cooper * 1789
Ina Seidel * 1885
Agatha Christie * 1890
Liselotte Welskopf-Henrich *1901
Gerd Gaiser * 1908
Adolfo Bioy Cesares * 1914
Max Goldt * 1958
Andreas Eschbach * 1959
Geburtstag
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Ina Seidel
Unsterblicher Lindenduft

Unsterblich duften die Linden
Was bangst du nur?
Du wirst vergehn,
und deiner Füße Spur
wird bald kein Auge mehr
im Staube finden.

Doch blau und leuchtend
wird der Sommer stehn
und wird mit seinem süßen Atemwehn
gelind die arme Menschenbrust entbinden.

Wo kommst du her?
Wie lang bist du noch hier?
Was liegt an dir?
Unsterblich duften die Linden.
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Fotorechte: Rainer Ziller

„Leben lernen“
Die Langenauer Autorin Fee Katrin Kanzler über ihren zweiten Roman.
Ein Gespräch mit Lena Grundhuber von der Südwestpresse Ulm.

Nach Ihrem Debüt „Die Schüchternheit der Pflaume“ ist Ihr zweiter Roman erschienen – jetzt sind Sie so richtig Schriftstellerin, oder?FEE KATRIN KANZLER: Ja, langsam glaube ich selber, dass ich das kann! Nach meinem ersten Buch dachte ich noch, das war vielleicht ein Glückstreffer, jetzt fühle ich mich sicherer mit der Bezeichnung.Wie war das denn damals nach Ihrer ersten Veröffentlichung im Jahr 2012?KANZLER: Es war aufregend, das erste Mal in einem großen Feuilleton aufzutauchen und zu sehen: Hey, mein Buch ist in der FAZ! Und dann natürlich die Erfahrung, auf der Buchmesse in Frankfurt zu sein, wo Sibylle Berg an einem vorbeiläuft und man feststellt, dass sie wirklich existiert. Dort ergeben sich natürlich Kontakte. Die Resonanz auf das Buch damals war großteils positiv, ich habe nur einen wirklichen Verriss bekommen – im Satiremagazin „Titanic“, insofern fand ich das eher spannend. Meine Lektorin und ich waren beim neuen Buch extrem sorgfältig, weil dieses Mal vielleicht doch genauer aufs Handwerk geschaut wird als beim Erstling. Ich habe ungefähr drei Jahre lang daran gearbeitet und dann nochmal drei Monate mit meiner Lektorin gefeilt.In Ihrem Debüt war die Protagonistin eine junge Frau, die vor allem mit sich selbst beschäftigt ist, jetzt ist der Held ein Mann. Wieso der Perspektivwechsel?

KANZLER: In „Die Schüchternheit der Pflaume“ ging es um die Selbstbeobachtung der jungen Frau, der Roman war ja auch in der Ich-Perspektive geschrieben. Die Figur des Henry in „Sterben lernen“ basiert viel mehr auf der Beobachtung anderer Menschen, bei denen ich mich frage, ob sie glücklich sind, was sie eigentlich wollen im Leben. Henry ist ein Mann, der bald 40 wird und in der klassischen Midlife-Crisis steckt. Er hat so vor sich hin gelebt, obwohl er ursprünglich etwas anderes wollte. Die Figur ist doppelt gewagt für mich: Er ist ein Mann, der ein paar Jahre älter ist als ich und Erfahrungen hat, die ich selbst nicht habe – zum Beispiel mit Familie, mit einer heranwachsenden Tochter, zu der er keinen Draht hat. Da musste ich mich also sehr auf Beobachtung verlassen. Ich frage deshalb oft ganz bewusst Leute nach ihrem Leben und stelle fest, dass sie gerne erzählen. Viele finden es schmeichelhaft, wenn man sich mit ihnen beschäftigt.

In seiner Krise lernt Henry die 16-jährige Joe kennen, ein Outcast. Sie ist von der Schule abgegangen, um als Grabpflegerin zu arbeiten, trägt Dreadlocks, schläft mit dem Kneipier. Zwischen Henry und Joe entspinnt sich eine Art Beziehung.

KANZLER: Henry trifft auf dieses viel zu junge Mädchen, und sie bringt ihn darauf, dass er nicht glücklich ist. Er wird für sie in die Bresche springen und sich dabei selbst in Gefahr bringen . . . Mir ging es darum, einen Dialog zwischen den Figuren in Gang zu bringen, weil ich beim ersten Buch gespürt habe, dass sich die Protagonistin in ihrer Selbstbeobachtung stark einkapselt – da wollte ich rauskommen. Auch die Sprache ist eine leicht andere. Der erste Roman war wie ein schwerer Rotwein, jetzt ist der Ton leichter, humorvoller, sarkastischer. Ich hatte ein bisschen Angst, dass ich von der Grenze zum Schwulst, an der ich mich entlangbewegt habe, nicht mehr wegkomme. Jetzt bin ich sehr froh, dass mir das gelungen ist, ohne meine eigene Sprache aufzugeben.

Das Buch heißt „Sterben lernen“ – wieso?

KANZLER: Immer wenn es um den Tod geht, geht es ja eigentlich um das Leben. Sterben lernen heißt also leben lernen für Henry. In meiner Vorstellung fängt sein Leben nach dem gefährlichen Vorfall mit Joe gerade erst an.

Und was gilt es zu lernen?

KANZLER: Offen zu bleiben für Veränderung, denn wir leben in einer Welt, die uns ständig mit Neuem konfrontiert, in der Dinge nicht mehr sicher sind, die wir für sicher gehalten haben, Ich habe den Eindruck, dass unsere Generation sehr viel Veränderung mitbekommt und dass sich dieser Prozess beschleunigt. Auch in Beziehungen tut sich ja ganz viel. Die Lösung dafür können wir nicht mehr in vorgefertigten Formen suchen – dafür steht die Beziehung meiner zwei Protagonisten, die sich in jeweils fremde Leben hineinbegeben. Und so ist auch das Zitat von Tom Waits gemeint, das ich dem Roman vorangestellt habe: „Never drive a car when you’re dead“, also: wach bleiben.

 

Die Autorin Fee Katrin Kanzler, 35, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm, war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses und erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm sowie das Jahresstipendium vom Land Baden-Württemberg. Sie lebt in Langenau und arbeitet auch als Lehrerin für Englisch und Philosophie. „Sterben lernen“ ist wie ihr erster Roman bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen. (221 Seiten, 19.90 Euro). Die Zeichnungen auf dem Buch-Cover stammen von ihrer eigenen Hand.

Lesung in der Ulmer Buchhandlung Jastram am Freitag um 19 Uhr.

Alle Rechte bei der Südwestpresse Ulm

Eine dritte Leseprobe:

Windstärke zehn
Eine Schwalbenkolonie unter der Dachrinne, die schlanken Vögel sausen ungebremst in ihre Nester und im Sturzflug wieder hinaus. Ein Kommen und Gehen, ein Steigen und Fallen, ein wimmelnder Flor aus spitzenFlügeln und Schwanzfedern vor Henrys Bürofenster. Die Schwalbenrufe vereinen sich zu einem hohen, mehrstimmigen Ton, der von den umgebenden Gebäuden widerhallt. Superheld wollte Henry werden. Schlaflose Nächte, morgens viel Kaffee und das gute Gefühl, die Welt gerettetzu haben. Aber wie andere Leute ein wichtiges Telefonatverschieben, indem sie erst das Bett frisch beziehen,dann den Boden wischen und den Müll rausbringen,dann schmutzige Pfannen auskratzen und die Toiletteputzen, so verschob er es, Superheld zu werden. Jahre lang, er schlief bis elf, drehte den Bass lauter, immer dieangenehme Illusion im Rücken, das Wichtigste im Leben komme noch. Auch als er seine Comichefte und
Actionfiguren verkauft, die Ausbildung zum Vertriebs-wirt abgeschlossen hatte, längst wusste, dass man nichtSuperheld werden kann, erwartete er noch Weltbewegendes. Dass seine wahre Bestimmung unter den Schichtendes Alltags hervorbrechen würde. Wie Frühlingspflanzendurch verrottendes Vorjahreslaub. Wie Sonnenstrahlen durch Londonsmog. Wie eine Flamme durch Transparentpapier. Mit sechzehn schor er sein Haar auf drei Millimeter, hörte Ministry, Rage Against the Machine, Method Man und übte vorm Spiegel Danksagungen. LiebeFreunde, verehrte Gäste, hob er an. Es waren Reden zumRelease seines ersten Kinofilms, Worte zur Eröffnung seiner eigenen Bar, Ansprachen zur Rettung der Welt. Er machte Ferienjobs, hatte Freundinnen und Computerspiele, später dann ein Auto. Wenn er mit hundertachtzig durch den Sommerregen preschte, subwooferhigh, und schillernde Heckfontänen hinter sich herzog, fiel es ihm leicht, an Unsterblichkeit zu glauben. Mit fünfundzwanzig tauschte Einstein seine Hiphopperklamotten gegen Anzug und Krawatte ein, wurde Ver-
kaufsleiter bei einer Biolimonadenfirma. Sein Haar ließ er fingerlang wachsen und kämmte es locker nach links. Er schickte seine untreue Freundin zum Teufel, zog
stattdessen mit Bettina zusammen, die schon seit der siebten Klasse auf ihn scharf war. Ein paar Monate später wurde sie schwanger und die beiden heirateten. Er überzeugte Bettina, ihre gemeinsame Tochter Julia zu nennen, weil das Kind damit weniger gehänselt werden würde als mit Bernadette oder Lucille. Mit der Tochter kam auch die erste Gehaltserhöhung und Henrys Tinnitus. Ein tiefes, ununterbrochenes Rauschen, wie fernes Meeresdröhnen. Ein Atlantik bei Windstärke zehn. Ein Männerchor sang. Der Maibaum stand schief. Er,  der Junge im Sonntagsanzug, schnippte einer Viert-
klässlerin Papierkügelchen an den Hinterkopf. Sanna mit den langen Zöpfen. Sie rührte sich nicht. Nur die Härchen auf ihrem schönen Nacken stellten sich auf. Ihre Verachtung jagte dem Jungen glückliche Schauer über den Körper.

Ein Gedanke zu „Donnerstag, 15.September

  1. Kleine Anmerkung zu dem Gedicht von Ina Seidel

    Mit dem Gedicht von Ina Seidel hat Hermann Glaser (in: Deutsche Kultur. Ein historischer Überblick von 1945 bis zur Gegenwart, Hanser 1997, S. 134) „abgerechnet“:
    „Der blühende Schrebergarten deutscher Innerlichkeit, gehegt und gepflegt von den Hütern schöner Wortkunst, schien weder durch den Terror der Nationalsozialisten noch durch den totalen Zusammenbruch des Dritten Reiches gefährdet zu sein. […] Die dichterische Verklärung der Natur konnte Trost spenden und vermittelte Überlebenskraft; aber das „Grüne“ lenkte auch vom Grauen ab, begriff sich als „Zeichen“ eines ewigen Kreislaufes – „Unsterblich duften die Linden-/was bangst du nur?“ (Ina Seidel); darüber konnte leicht die Sensibilität für das Gegenwärtige-Entsetzliche verlorengehen. Der ästhetische Glanz […] anästhisierte den Realitäts- wie Möglichkeitssinn bzw. das Bewusstsein für die Notwendigkeit gesellschaftlichen Engagments.“

    Soweit Hermann Glaser – warum nur liebe ich das Gedicht „trotzdem“ sehr?

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