IMG_6268

Heute haben
Oscar Wilde * 1854
Eugene O’Neill *
Dino Buzzati * 1906
Günter Grass * 1927
Gerold Späth * 1939
Geburtstag
_______________________________

Ein Buchtipp für Zwischendurch:

Im Auto läuft bei mir seit Wochen „Radetzkymarsch“ von Joseph Roth und vor ein paar Wochen hätte bei uns im Laden eine Veranstaltung über Leben und Werk des Autors stattfinden sollen, die dann ausgefallen ist.
Ein Grund vielleicht, Ihnen einen schmalen Roman von Joseph Roth vorzustellen, der vergessen ist, den ein Kunde mir sehr empfohlen hat und den Sie locker zwischen den dicken, preisgekrönten Büchern lesen können.

IMG_6275

Joseph Roth:Die Rebellion
Kiepenheuer&Witsch Verlag € 6,00

„Die Rebellion“ wurde vom 27. Juli bis 29. August 1924 im Vorwärts und noch im selben Jahr als Buch gedruckt.

Die Baracken des Kriegsspitals Numero XXIV lagen am Rande der Stadt. Von der Endstation der Straßenbahn bis zum Krankenhaus hätte ein Gesunder eine halbe Stunde rüstig wandern müssen. Die Straßenbahn führte in die Welt, in die große Stadt, in das Leben. Aber die Insassen des Kriegsspitals Numero XXIV konnten die Endstation der Straßenbahn nicht erreichen.
Sie waren blind oder lahm. Sie hinkten. Sie hatten ein zerschossenes Rückgrat. Sie erwarteten eine Amputation oder waren bereits amputiert. Weit hinter ihnen lag der Krieg. Vergessen hatten sie die Abrichtung; den Feldwebel; den Herrn Hauptmann; die Marschkompanie; den Feldprediger; Kaisers Geburtstag; die Menage; den Schützengraben; den Sturm. Ihr Frieden mit dem Feind war besiegelt. Sie rüsteten schon zu einem neuen Krieg; gegen die Schmerzen; gegen die Prothesen; gegen die lahmen Gliedmaßen; gegen die krummen Rücken; gegen die Nächte ohne Schlaf; und gegen die Gesunden.
Nur Andreas Pum war mit dem Lauf der Dinge zufrieden. Er hatte ein Bein verloren und eine Auszeichnung bekommen. Viele besaßen keine Auszeichnung, obwohl sie mehr als nur ein Bein verloren hatten. Sie waren arm- und beinlos. Oder sie mußten immer im Bett liegen, weil ihr Rückenmark kaputt war. Andreas Pum freute sich, wenn er die anderen leiden sah.
Er glaubte an einen gerechten Gott. Dieser verteilte Rückenmarkschüsse, Amputationen, aber auch Auszeichnungen nach Verdienst. Bedachte man es recht, so war der Verlust eines Beines nicht sehr schlimm und das Glück, eine Auszeichnung erhalten zu haben, ein großes. Ein Invalider durfte auf die Achtung der Welt rechnen. Ein ausgezeichneter Invalider auf die der Regierung.
Die Regierung ist etwas, das über den Menschen liegt, wie der Himmel über der Erde. Was von ihr kommt, kann gut oder böse sein, aber immer ist es groß und übermächtig, unerforscht und unerforschbar, wenn auch manchmal für gewöhnliche Menschen verständlich.

Dies ist der Beginn und den kann ich so großzügig abdruckeN, da die Rechte an den Texten von Joseph Roth freigeworden sind und Sie ihn somit u.a. kostenlos auf Gutenberg/Spiegel lesen können.

Hier erkennen wir schon den Autoren Roth, wie ich ihn täglich in seinem deutlich umfangreicheren Roman „Radetzkymarsch“ zu hören bekomme. Mit einer Leichtigkeit fast er Begegebenheiten zusammen. Fast banal wirken sie und die unterschwellige Ironie verschärft die Beschreibung noch mehr.
Der 45-jährige Andreas Pum ist der Protagonist. Einer der im festen Glauben an die Regierung lebt, die ihn als Kriegsinvalide grosszügig unterstützt hat. Diese „Gnade“ musste er sich jedoch erschwindeln. Erst als er nämlich sich als Kriegszitterer vor der Behörde ausgibt, erhält er einen Erlaubnisschein, mit der Dehorgel durch die Hinterhöfe zu ziehen. So steht er im festen Glauben, dass alles gut sei, mit Uniform und Ehrenkreuz zwischen den Menschen und meint sich über all den vielen Armen und Obdachlosen bessergestellt. Er wohnt in einem Zimmer mit einem jungen Pärchen, hat gerade soviel zu essen, dass er über die Runden kommt. Seine Träume gelten den breithüftigen Witwen mit vorgewölbten Busen, einem warmen Zuhause und Geborgenheit. Und genau so eine Frau läuft ihm über den Weg. Katharina Blümich hat ihren Mann verloren, lebt mit ihrer kleinen Tochter gut von dessen Rente. Pum und Blumich finden sich, heiraten und das Glück scheint auf seiner Seite zu sein. Das Geld fliegt ihm nur so zu, die Menschen wollen seine Lieder hören und bei Katharine Blumich hat er endlich, der sonst keine Angehörigen hat, ein Heim gefunden.

Der Leierkasten stammt aus der Drehorgelfabrik Dreccoli & Co. Er hat die Form eines Würfels und ruht auf einem hölzernen Gestell, das man zusammenklappen und tragen kann. An zwei Riemen trägt Andreas seinen Kasten auf dem Rücken, wie einen Tornister. An der linken Seitenwand des Instruments befinden sich nicht weniger als acht Schrauben. Mit ihrer Hilfe bestimmt man die Melodien. Acht Walzen enthält der Kasten, darunter die Nationalhymne und die »Lorelei«.
Andreas Pum hat seine Lizenz in einer Brieftasche, die eigentlich einmal der Ledereinband eines Notizbuches war und sich zufällig in einem Misthaufen gefunden hat, an dem Andreas täglich vorbeigeht. Mit der Lizenz in der Tasche wandelt der Mensch sicher durch die Straßen dieser Welt, in denen die Polizisten lauern. Man scheut keine Gefahr, ja, man kennt keine. Die Anzeige des brotneidischen bösen Nachbarn brauchen wir nicht zu beachten. Auf einer Postkarte teilen wir der Behörde mit, worum es sich handelt. Wir schreiben knapp und sachlich. Wir sind sozusagen der Behörde gleichgestellt, dank unserer Lizenz. Wir sind von der Regierung ermächtigt, zu spielen, wo und wann es uns gefällt. Wir dürfen an den belebten Straßenecken unsern Kasten aufstellen. Selbstverständlich kommt nach fünf Minuten die Polizei. Lassen wir sie ruhig herankommen! Mitten in einem Kreis gespannt zusehender Leute ziehen wir unsere Lizenz hervor. Die Polizei salutiert. Wir spielen weiter, was uns gerade in den Sinn kommt: »Mädchen, weine nicht!« – und »Schwarzbraunes Mägdlein!« – und »An der Quelle saß der Knabe!« – Für ein mondänes Publikum haben wir einen Walzer aus der vorjährigen Operette.

Wir wären aber nicht in einem Joseph Roth Roman, wenn sich das Schicksal nicht drehen und gegen Anderes Pum wenden würde. Unschuldig rennt er in sein Verderben, die Maschinerie des Staates arbeitet mit ihrer ganzen Macht gegen den Kriegsinvaliden, der dabei alles verliert und vom Dekorierten zum Krüppel wird. Pum wird in der Strassenbahn vom Unternehmer Arnold angepöbelt und beschimpft, er wehrt sich zum ersten Mal in seinem Leben, er verteidigt sich und schlägt einen Polizisten mit seiner Krüke. Diese Tat ist für Pum nicht nachvollziehbar, der sich immer noch im Recht fühlt und dies ja auch ist. Arnold ist derjenige, der provozierte und Pum denunzierte. Er ist jedoch reich und eine Persönlichkeit im öffentlichen Leben, im Gegensatz zu Pum, dem einbeinigen Leierkastenmann.
Pum landet für einige Zeit im Gefängnis und kommt als Gebrochener wieder heraus. Seine Glaube an Staat, Regierung, die Behörden und an Gott ist zerstört.
Roth ändert auf den letzten Seiten seines Romanes die Art seines Schreibstiles und wir befinden uns nicht mehr in einem journalistisch aufnotierten, biografischen Roman über Pum. Die Realität vermischt sich mit Traumgebilden und wir wissen nicht mehr, was Realität und was Gedachtes ist.
„Die Rebellion“ gehört sicherlich zu den vergessenen Romanen, die es wert sind für sich selbt wieder zu entdecken.